"Mancher Marketier hat mehr IT-Budget als der CIO"

26.04.2012
Gartners Forschungschef Peter Sondergaard erläutert im Gespräch mit COMPUTERWOCHE-Redakteur Martin Bayer, wie er sich die künftige Rolle des CIO vorstellt und welchen Kräften er ausgesetzt ist.

CW: Momentan wird wieder einmal viel über die Rolle der IT diskutiert. Wie muss sich der CIO im Cloud-Zeitalter aufstellen?

Sondergaard: Wichtig ist, dass er seinen Fokus verändert. Es gibt drei Alternativen: Betrieb, Wachstum und Transformation des Business. Heute fließen nach wie vor 70 Prozent des IT-Budgets in den Betrieb der vorhandenen Systeme - darunter die Serverlandschaft sowie die großen Softwareplattformen und Kernapplikationen. Und nach wie vor gibt es viele CIOs, die sich ganz auf den Betrieb dieser IT-Umgebungen konzentrieren. Zudem sind sie stark auf die Kosten fixiert und stehen unter dem Druck, diese zu optimieren. Diese CIOs sind getrieben von Vorständen, denen sie Rechenschaft ablegen müssen.

CW: Was sollen diese IT-Abteilungen denn anders machen?

Sondergaard: Die IT-Abteilungen brauchen künftig andere Skills: Sie müssen sich im Sinne einer Service-Orientierung stärker um ihre Kunden kümmern und das dafür notwendige Know-how aufbauen. Es geht darum, das Business besser zu verstehen. Dazu brauchen sie auch Fähigkeiten für ein besseres Vendor-Management.

CW: Und wenn sie das nicht schaffen?

Sondergaard: Welche Rolle die IT künftig spielen wird, hängt stark von ihrem Selbstverständnis ab. Fokussieren sich die IT-Abteilungen auf den reinen Betrieb, wird ihr Einfluss sinken. Die IT-Organisation wird schrumpfen. Im gleichen Zug kaufen die Fachabteilungen mehr IT direkt ein. Gerade mit Cloud Computing wird es für das Business einfacher, sich die benötigten IT-Services selbst zu beschaffen. Das geschieht derzeit beispielsweise im Marketing. Es gibt bereits einige Unternehmen, in denen das Marketing ein größeres IT-Budget hat als der CIO.

CW: Gibt es den neuen Typ von CIO bereits?

Sondergaard: Es gibt bereits etliche CIOs, die sich stark in Richtung Service-Orientierung entwickeln. Sie sind sehr engagiert und treiben Initiativen für eine bessere Prozess-unterstützung voran oder schalten sich auch direkt in die Entwicklung neuer Produkte und Services ein. Damit übernehmen sie auch Umsatzverantwortung, speziell wenn es um den Einsatz von IT geht. Beispiele finden wir in der Automobilindustrie oder bei Energieversorgern.

CW: Wie gehen die CIOs mit neuen Themen und Herausforderungen wie beispielsweise Big Data um?

Sondergaard: Viele CIOs gehen das Thema unglücklicherweise von einem technischen Standpunkt aus an. Man muss den ganzen Komplex Information allerdings aus der Business-Perspektive sehen. Die entscheidende Frage ist: Wie kann die zur Verfügung stehende Information genutzt werden, um das eigene Geschäft voranzubringen? Branchen wie die Banken, der Handel oder auch die Pharmaindustrie suchen und finden zunehmend einen strategischen Enterprise-Ansatz in Bezug auf Daten und Informationssteuerung.

CW: Ein ähnlich einschneidender Trend ist Mobile Computing...

Sondergaard: Ja, für Unternehmen wird es immer wichtiger, auf welche Weise sie ihren Mitarbeitern Zugang zu Enterprise-Applikationen über mobile Endgeräte erlauben. Das Problem dabei ist jedoch: Die Architekturen, die wir in den vergangenen 20 Jahren aufgebaut haben, werden langsam untauglich. Der Designfokus liegt gegenwärtig nicht mehr auf PC-Systemen wie in der Vergangenheit, sondern mehr und mehr auf den mobilen Plattformen für Tablets und Smartphones. In wenigen Jahren wird nur noch jedes vierte Projekt den PC als Zielsystem im Fokus haben. Unsere jüngsten CIO-Umfragen haben gezeigt, dass viele Unternehmen mobile Initiativen starten, ihnen aber die notwendigen Skills und das Know-how fehlen, wie man für die neuen Umgebungen entwickelt. Das ist auch für die Anbieter eine Herausforderung. Sie arbeiten mit Hochdruck daran, ihre Enterprise-Core-Applications und ihre PC-Browser-basierten Umgebungen für mobile Plattformen verfügbar zu machen.

CW: Die dritte große Herausforderung ist Cloud Computing.

Sondergaard: Wir sprechen sogar von vier großen Kräften, die für gewaltige Veränderungen in den IT-Organisationen sorgen werden: Mobile kombiniert mit Big Data, Cloud und Social Networks. In Kombination definieren diese vier Kräfte die Computing-Plattformen und Applikationswelten von morgen. Diese Entwicklung bestimmt auch die Strategien und Roadmaps der großen Hersteller. Beispielsweise erklären sich so die SAP-Initiativen in Richtung HANA und die Übernahmen von Sybase und SuccessFactors. Eine Schwachstelle im SAP-Portfolio ist noch der Aspekt Social. Allerdings gibt es kaum einen Hersteller, der schon alle neuen Paradigmen passgenau bedienen kann. Jeder hat irgendwo noch eine offene Flanke, die er schließen muss.

CW: Passen die überall eingesetzten klassischen Software-Suiten noch in das kommende Computing-Zeitalter?

Sondergaard: Das hängt von den dahinter liegenden Prozessen ab. Manche Prozesse wird man komplett auf die neuen Paradigmen umstellen. Anderes kann bestehen bleiben, und man baut neue zusätzliche Prozesse drum herum. Es gibt immer noch uralte Cobol-Applikationen, die seit 30 Jahren arbeiten, beispielsweise im Bankensektor. Hier stecken enorme Investitionen. Zum Beispiel steuert eine alte Cobol-Anwendung sämtliche Finanzströme in den USA. Hier werden jeden Tag mehrere Billionen Dollar transferiert und verbucht. Fällt diese Applikation aus, gehen die Vereinigten Staaten unter. Solche Applikationen können gut mit den neuen Möglichkeiten koexistieren. Wir isolieren sie und packen das Neue drumherum wie die Schalen einer Zwiebel. Zwar werden sich auch die Kerne irgendwann verändern, doch dieser Wechsel wird lange dauern.

CW: Aber er ist nicht aufzuhalten?

Sondergaard: Die linearen Evolutionen der Infrastrukturen in Richtung Mobile, Social, Cloud und Big Data werden stattfinden. Das ist nicht aufzuhalten. Es wird passieren - unaufhaltsam. Normalerweise sind diese Evolutionslinien auch jede für sich gut vorhersagbar. Schwer zu prognostizieren ist jedoch, was an den Kreuzungspunkten geschehen wird. Vor 20 Jahren gab es den Umbruch mit der Entwicklung des PC als neuer Plattform. Daraus resultierte auch ein neues Softwaremodell - alles zur gleichen Zeit. Ähnliches passiert im Moment wieder.

CW: Wie stellen sich die großen Softwareanbieter darauf ein?

Sondergaard: Bei Herstellern wie SAP und Oracle bilden die Prozesse das Grundprinzip und die Basis der bisherigen Architekturen. Für jeden Prozess existiert ein Softwaremodul, das ihn abbildet. Dieses Prinzip funktionierte in den vergangenen Jahren hervorragend. Einziges Problem dabei: In den SAP- und Oracle-Systemen wird keine einzige Entscheidung getroffen. Die treffen die Manager außerhalb, in einem Meeting oder sonstwo, über E-Mail, Instant Messaging etc. Dann setzt sich jemand hin und gibt die neuen Parameter wie zum Beispiel neue Umsatzziele händisch in das Softwaresystem ein. Diese Interaktion könnte aber auch durch Social-Komponenten in den Systemen stattfinden. Dann drückt man einen Knopf, und das Ergebnis wird automatisch im Softwaresystem umgesetzt.

CW: Macht das schon jemand?

Sondergaard: Es gibt Softwarehersteller, die genau diesen Ansatz verfolgen und damit zu einer Bedrohung für die Etablierten wie SAP, Oracle und Microsoft werden könnten. Ein Unternehmen, das so denkt, ist Salesforce.com. Sie versuchen derzeit, sich als force.com, als Plattformanbieter zu positionieren, der zudem noch Social-Networking-Komponenten integriert. Im Markt finden sich weitere junge hungrige Anbieter, die ähnlich agieren und zu einer Herausforderung für die etablierten Softwareanbieter heranwachsen könnten.

CW: Derzeit wird in der IT-Branche viel über das Thema Datenschutz debattiert. Was halten Sie davon?

Sondergaard: Es gibt im Grunde drei verschiedene Arten, wie man in Sachen Privacy verfahren kann. Angloamerikanisch: Privacy regelt der Markt. Der kontinental-europäische Ansatz: Der Staat regelt Privacy, weil er sich als Anwalt der Bürger und Anwender versteht. Drittens gibt es den totalitären Ansatz, der besagt: Ich reguliere und zensiere alles, weil ich herrsche. Was diese Modelle jedoch alle außer Acht lassen, ist Folgendes: Der Anwender tut das, was er für richtig hält. Das ist komplett individuell. Manche Leute auch in Deutschland sind völlig damit einverstanden, auch persönliche Informationen über sich preiszugeben, wenn sie davon Vorteile haben.

CW: Gehen die Debatten also in eine falsche Richtung?

Sondergaard: Was hier zum Teil außer Acht gelassen wird: Der Consumer bestimmt selbst. Das bedeutet letztendlich auch Consumerization. Wir können nicht kontrollieren, welche Devices die Anwender verwenden oder welche Software und welche Informationen sie nutzen. Wir können so viele Regeln über Privacy aufstellen wie wir wollen, am Ende entscheidet der Anwender, wie er verfahren möchte. Man darf die User auch nicht unterschätzen. Gerade die junge Facebook-Generation kümmert sich mehr um Privacy-Angelegenheiten als die Älteren. Die jungen Leute sind besser informiert, was hinter der Preisgabe von Informationen steckt, und sie protestieren lautstark - allein oder gemeinsam -, wenn ihre Rechte verletzt werden.

Peter Sondergaard

Als Senior Vice President verantwortet Peter Sondergaard seit 2004 den weltweiten Forschungsbereich bei Gartner Consulting Inc. Der Analyst, der seit 1989 bei Gartner arbeitet, gibt in dieser Position die Leitlinien der globalen Marktforschung bei dem Beratungsunternehmen vor. Zuvor war der gebürtige Däne, der an der Universität Kopenhagen Wirtschaftswissenschaften studiert hat, bei dem Marktforschungsunternehmen IDC und bei Scandinavian Airlines System (SAS) beschäftigt.

Kreative Zerstörung - vier Kräfte sind am Werk

Im Herbst 2011 formulierte Gartners Forschungschef Peter Sondergaard seine Thesen rund um das Thema "Re-Imagine IT". Demnach kristallieren sich vier große Kräfte in der Unternehmens-IT heraus, die die gewohnten IT-Architekturen angreifen und ein neues Computing-Modell formen: Cloud, Social Computing, Information (Big Data) und Mobile. Sondergaard empfiehlt den CIOs, im Prozess der kreativen Zerstörung neue Ressourcen zu entwickeln, indem sie alte Systeme "zurückbauen" und vorhandene Ressourcen für neue Zwecke einsetzten. Dabei könnten ihnen neue Techniken und Methoden helfen. Die IT solle nicht länger ausführendes Organ für die Fachabteilungen und ein Kostenfaktor sein, sondern mit Hilfe innovativer Systeme einen Wertbeitrag für das Unternehmen leisten. In diesem Szenario beziehen Unternehmen Commodity-Dienste, die keinen direkten Geschäftsnutzen versprechen, idealerweise von externen Dienstleistern. CIOs sollten als Marschrichtung vorgeben, nur noch solche IT-Systeme selbst zu betreiben, die dem Unternehmen Wettbewerbsvorteile bringen.