Mainframe-Perspektive aufgezeigt "ES/9000-System ist der letzte IBM-Dinosaurier der alten Art"

19.11.1993

MUENCHEN (jm) - Big Blue hat der Oeffentlichkeit einen Blick hinter die Kulissen gewaehrt und sich zu den Perspektiven seines Mainframe-Konzeptes geaeussert: Die Aera der /370- und /390- Grossrechner neigt sich danach langsam dem Ende zu.

IBMs Data-Center-Strategie der Zukunft laesst sich in der Kurzformel Parallelitaet und CMOS zusammenfassen. Die Armonker werden im Laufe der kommenden Jahre sogenannte Highly Parallel Systems (HPS) auf den Markt bringen. Die ersten drei dieser Systeme sollen als Front-end-Rechner MVS-Hosts bei speziellen Aufgaben wie Datenbankanfragen oder der Transaktionsverarbeitung entlasten.

Schliesslich soll ein unabhaengig von herkoemmlichen Enterprise- Systemen arbeitender Stand-alone-Parallelrechner mit Mainframe- Funktionalitaet vorgestellt werden. Die Gartner Group bezeichnet solche Rechner, wie sie Kendall Square Research (KSR), Encore Computer, Sequent, Pyramid oder auch ICL mit ihrem kuerzlich aus der Taufe gehobenen Goldrush-System bereits anbieten, als "alternative Mainframes".

Ueber den Zeitraum, in dem IBMs Parallelrechner das Licht der DV- Welt erblicken werden, scheinen die Meinungen von Insidern allerdings auseinanderzugehen: Die Gartner Group geht davon aus, dass das Highly Parallel Query System (HPQS) schon im ersten Quartal 1994, das Highly Parallel Transactions System (HPTS) im dritten Viertel des kommenden Jahres verfuegbar sein wird.

IBM-Repraesentanten aus der Stuttgarter Deutschlandzentrale wiegelten aber bereits ab: Das HPQS-Modell werde erst Mitte 1994 kommen. Noch laenger dauere die Markteinfuehrung des HPTS-Rechners: Die Hardware sei zwar Ende 1994 fertig, doch hinke die Software fuer den Transaktions-Server noch nach. Mit einem produktiv zu nutzenden HPTS-System sei deshalb vor 1995 nicht zu rechnen.

Somit duerften auch die HPCS-Front-end-Maschine - eine Erklaerung fuer dieses Akronym lieferte IBM nicht - sowie der HPSS-Alternativ- Mainframe (Highly Parallel Stand-alone System) nicht schon, wie von Gartner erwartet, 1995 marktreif sein.

Grundkonzept der ES/9000 wird nicht mehr veraendert

Mit der schrittweisen Hinwendung zur Technologie von Parallel- Architekturen und damit der Abkehr vom traditionellen Mainframe- Konzept der /370- und /390-Systeme traegt IBM der Ueberlegung Rechnung, dass man mit diesen sowohl an wirtschaftliche als auch rechnertechnische Grenzen stoesst: So laesst sich deren Rechenleistung durch den Einsatz weiterer Prozessoren nur noch unwesentlich steigern.

Interne Informationsquellen bei Big Blue gehen davon aus, dass - zumindest in kommerziellen Umfeldern - eine Aufruestung der 9021- Acht-Wege-Topmodelle theoretisch um acht Prozessoren, in der Praxis jedoch hoechsten um weitere vier sinnvoll waere.

Deshalb, so Frank Sempert, Managing Director der Gartner Group GmbH in Frankfurt, werde das Grundkonzept der ES/9000-Systeme auch nicht mehr veraendert, technische Neuerungen seien keine mehr zu erwarten: "Das ES/9000-System ist der letzte Dinosaurier der alten Art, den die IBM herausgebracht hat." Aehnlich sieht George OConnor von der Technology Investment Strategies Corp. (Tisc) aus London das Ende des Entwicklungsstrangs fuer IBMs Enterprise-Architektur erreicht. Mit den parallelen Front-end-Rechnern kreiere IBM "ihren Blueprint fuer die zukuenftige Grossrechnerwelt. Sie folgt damit der Religion der Zeit."

Allerdings glaubt der englische Analyst, dass Big Blue wahrscheinlich im Februar 1994 noch Neun- und Zehn-Wege-Systeme sowie im Februar 1995 Elf- und Zwoelf-Wege-Enterprise-Rechner nachschieben wird. Ein hochrangiger deutscher IBM-Manager wollte diese Aussage nicht bestaetigen. Richtig sei lediglich, dass man im Laufe des kommenden Jahres noch Neun- und Zehn-Wege-Maschinen bringen werde. Ueber weitergehende Ankuendigungen wolle er nicht spekulieren, "ein Drehen an der Zykluszeit ist aber moeglicherweise noch denkbar".

Andere IBM-Insider vertreten allerdings die Ansicht, es sei moeglicherweise eine unglueckliche Produktstrategie, Anwender schrittweise auf die HPS-Modelle einzustimmen und damit den sanften Ausstieg aus dem bisherigen Grossrechnerparadigma einzuleiten, zeitgleich aber zusaetzliche, sehr kostspielige Repraesentanten einer zunehmend obsoleten Host-Technologie auf den Markt zu bringen.

Der IBM-Vertreter wollte darin keinen Widerspruch erkennen, denn nach wie vor seien fuer Batch-Arbeiten hochleistungsfaehige Monoprozessoren gefordert. Auch liessen sich diese Alltagsaufgaben nicht auf Parallelstrukturen uebertragen. Ueberdies betrachte Big Blue "die Query-Datenbankmaschine lediglich als Spezialanwendung, den Transaktions-Server nur als Ergaenzung zur ES/9000-Maschine".

Demgegenueber rechnet O'Connor die wesentlichen Vorteile von Parallelboxen e la Teradata oder ICLs "Goldrush"-Datenbankmaschine vor, die in deren Geschwindigkeit, Skalierbarkeit und Preiswuerdigkeit laegen.

Vor allem der wirtschaftliche Aspekt spricht gegen ein Hochruesten der in bipolarer ECL-Technologie ausgelegten wassergekuehlten TCM- Prozessorkomplexe (Thermal Conduction Module), die in den 9021- Grossrechnern zum Einsatz kommen. Diese aber sind anderseits bei weitem nicht so hitzebelastet wie ihre ECL-Pendants, benoetigen also keine aufwendige Fluessigkuehlung.

Waehrend der MIPS-Preis traditioneller Mainframes bei 60 000 bis zu 75 000 Dollar liege, meint Gartner-Mann Sempert, gewaehre die CMOS- Technologie diesbezueglich Kostenreduktionen auf 12 000 bis 15 000 Dollar. "Grossanwender werden hohe Kostenvorteile realisieren koennen", bestaetigt auch O'Connor.

Die IBM sieht sich damit vor dem Dilemma, auch zukuenftig immer hoehere Rechenleistung anbieten zu muessen, sich hierbei aber nicht mehr auf die zunehmend untaugliche /370- beziehungsweise /390- Architektur verlassen zu koennen. Technologieschuebe und damit die Sicherung der eigenen Kundenbasis kann Big Blue nach Meinung vieler Analysten auf lange Sicht nur dann sicherstellen, wenn auch sie sich der Parallelarchitekturen auf Grundlage der CMOS- Technologie bedient.

Kundenbasis durch neue Technologien sichern

Hier allerdings, so Sempert, tummelt sich bereits die Konkurrenz: "Da hat es die IBM unter anderem mit NCR-Teradata, ICL und Sequent zu tun, da ist Big Blue nicht mehr der King."

Die Gerstner-Company ist gezwungen, sich dieser Konkurrenz auszusetzen, will sie in Zukunft als Anbieter von Data-Center- Loesungen nicht Marktanteile ver-lieren, meinte auch eine Dataquest-Analystin gegenueber der COMPUTERWOCHE. "Das Konzept der statischen Mainframes", so die Amerikanerin, "ist tot".

Als statisch bezeichnet sie das proprietaere Grundkonzept der /370- und /390-Rechnerwelt. Ferner subsumiert die Analystin hierunter die erheblichen zeitlichen und finanziellen Bemuehungen, die IBM- Grossrechneranwender bei der Prozessoraufruestung gewaertigen muessen.

Nicht erledigt habe sich hingegen das Corporate Resource System. Dieses bezeichne die Faehigkeit einer Firma, unternehmensweit auf konsolidierte Daten zugreifen zu koennen - zukuenftig aber eben nicht mehr unbedingt im Rueckgriff auf traditionelle Glashaus- Hardware. Allerdings seien die Armonker schon spaet dran beim Schwenk auf das Technologiekonzept der alternativen Mainframes.

Dabei steigt nach Auffassung der Analystin der Bedarf an immer hoeherer Rechenleistung und groesseren Speicherkapazitaeten schon allein wegen neuer Anwendungen wie etwa integrierter Document- Image- oder Voice-Management-Funktionen. Diese wuerden in der unternehmensweiten DV zunehmend Platz greifen. Deshalb "liegen die Ansprueche an zukuenftige hochleistungsfaehige Rechensysteme um Groessenordnungen ueber dem, was heutige Grossrechner leisten", so die Analystin.

Prinzipiell seien diese Aufgaben zwar auch von der herkoemmlichen Grossrechnertechnologie zu loesen, "allerdings verbieten deren Kosten solcherlei Einsaetze von selbst".