Problematische Positionierung der Groupware

Lotus rüstet Notes für das operative Geschäft

31.07.1998

Das dem PC- und LAN-Umfeld entstammende Notes machte sich nicht nur als Mail-System einen Namen. Seine innovative Leistung bestand vor allem darin, die computergestützte Kooperation von Arbeitsgruppen zu ermöglichen und ein Speicherformat für unstrukturierte Daten anzubieten. Den größten Nutzen erzielt das Lotus-System dank visueller Entwicklungsumgebung nach wie vor bei der schnellen Umsetzung kurzlebiger Geschäftsprozesse in Groupware-Anwendungen. Diesen Wert erkannten zuerst Fachabteilungen, die in vielen Unternehmen für die Einführung von Notes verantwortlich waren. Es konnte jenseits des operativen Kerngeschäfts organisatorische Aufgaben unterstützen und schwach strukturierte Informationen verwalten. Die Rechenzentren widersetzten sich häufig solchen Ambitionen der Abteilungen, weil ihnen das Konzept von Notes nicht einleuchtete. Klassische DV-Profis betrachten die Groupware teilweise noch heute als eine Art Maskengenerator, der nicht einmal über eine "richtige" Datenbank verfügt.

Seit der Übernahme durch Big Blue vor drei Jahren erweitert Lotus das Produkt immer stärker um Funktionen, die es für traditionelle IBM-Großkunden attraktiv machen sollen. Neben der Integration von Internet-Standards unternahm der Hersteller dafür die größten Anstrengungen. In diese Richtung gehen auch die Bemühungen der Lotus GmbH, mit der Lotus Solutions Architecture (LSA) die Anwendungsentwicklung zu vereinheitlichen (siehe CW Nr. 27 vom 3. Juli 1998, Seite 27). Zu den Enterprise-Features gehören verbesserte Ausfallsicherheit durch die Cluster-Option, verbesserte Skalierbarkeit und die Anbindung an Legacy-Systeme über CICS oder die sogenannten Pump-Tools für relationale Datenbanken. Für zusätzliche und bessere Connectivity zu bestehenden Systemen sollen zukünftig die Domino Enterprise Connection Services (DECS), ein Corba-kompatibler Object Request Broker (ORB) sowie die Unterstützung für Enterprise Javabeans sorgen.

Aufgrund dieser Erweiterungen ziehen Anwender Notes zunehmend auch in Betracht, wenn es um die Entwicklung komplexer, operativer Anwendungen geht. Eine derartige Ausdehnung des Notes-Einsatzes findet indes nicht überall Zustimmung. Wolfgang Finke, Professor für Wirtschaftsinformatik an der Fachhochschule Jena, sieht den Hauptnutzen der Lotus-Software auch weiterhin in ihren angestammten Bereichen und warnt vor übermäßig zentralistischer Denkweise:

"Groupware - und das meint aufgrund der Marktführerschaft von Lotus besonders Notes und Domino - ist das informationstechnologische Instrumentarium, das den Umbau von Unternehmensstrukturen sowie deren kontinuierliche Reorganisation zukünftig möglich macht. Es geht dabei vorrangig um das effiziente Zusammenwirken von Teams und um strategische Informationsaufgaben (beispielsweise Koordination von Produktentwicklungsprozessen, Knowledge-Sharing). Strategische Groupware-Anwendungen sind jedoch aus der Sicht des Entwicklers häufig vergleichsweise einfach. Bei der Mächtigkeit der Notes- und Domino-Entwicklungsumgebung geht es dabei oft nur um wenige Personen-Monate. Im Bereich der klassischen operativen Informationsarbeitsprozesse hingegen läßt sich die Anwendungsentwicklung auf Groupware-Basis nur in wenigen Fällen rechtfertigen."

Freilich redet Finke damit nicht der ungehemmten Spontanität von Fachabteilungen das Wort. Gerade der geschäftskritische Charakter solcher Groupware-Anwendungen setzt eine verläßliche Betreuung der Notes-Infrastruktur voraus, die Vielzahl von Applikationen macht eine Koordination erforderlich. Anwender müssen daher einen Weg finden, wie sie die Kluft zwischen Gestaltungsfreiheit der Fachabteilung und Kontrollansprüchen des Rechenzentrums überbrücken.

Bei der Westdeutschen Genossenschafts-Zentralbank schlägt dabei das Pendel zugunsten des dezentralen Ansatzes aus. "Wir wollten Notes keinesfalls den klassischen Anwendungsentwicklern im Rechenzentrum überlassen", berichtet Tobias Helling, Abteilungsleiter dezentrale Systeme. Zuständig ist nun bei der WGZ eine eigens gegründete Mannschaft, die sich aus den ehemaligen Teams Indivuelle Datenverarbeitung (IDV) und Bürokommunikation rekrutierte. Diese Gruppe erbringt alle Dienste, die zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur nötig sind, und gibt aber auch Standards für die Anwendungsentwicklung vor. Nach einer einfachen Qualitätssicherung soll nur die Notes-Mannschaft jene Datenbanken, die von Fachabteilungen auf dem Entwicklungs-Server hinterlegt werden, zum Produktions-Server transferieren.

Die dabei herrschenden Richtlinien sind aber nicht mit den komplexen Auflagen in der klassischen Anwendungsentwicklung vergleichbar. Helling besteht darauf, daß die Flexibilität und die Geschwindigkeit der Notes-Programmierung darunter nicht leiden darf: "Die Erstellung einer Notes-Applikation darf keinesfalls länger als sechs Monate dauern." Es überrascht daher wenig, daß er mit dieser Philosophie den meisten der angekündigten Domino-Erweiterungen nichts abgewinnen kann. Die Öffnung Richtung Internet ist für die WGZ von Nutzen, weil sie den Informationsaustausch mit Partnern erleichtert. Helling sieht aber nicht, wofür er Corba- und EJB-Unterstützung sowie Hochleistungstreiber für den direkten Zugriff auf relationale Datenbanken brauchen soll - Anwendungen, die solche Features nutzen, scheinen ihm bei einschlägigen Client-Server-Werkzeugen besser aufgehoben.

"Unternehmen haben Notes schon seit längerem für komplexe operative Anwendungen eingesetzt, aber das Produkt hat sich für diesen Zweck nicht geeignet. Lotus reagiert jetzt auf die Wünsche solcher Anwender", kommentiert der Gartner-Group-Analyst Thomas Austin diese geplanten Erweiterungen von Domino. Zu jenen, die eine solche Aufwertung von Notes gutheißen, gehört Udo Weiß von der Landesbank Schleswig-Holstein. Er begann bereits vor drei Jahren mit dem ehrgeizigen Projekt, Legacy-Anwendungen in Notes zu kapseln. Dabei machte er ebenfalls die Erfahrung, daß das Lotus-Produkt noch erhebliche Defizite aufweist. Weiß moniert unter anderem das Fehlen von Teamfunktionen und Versions-Management sowie die insgesamt schlechte Wartbarkeit des Programmcodes. Hinzu kommen nicht sofort erkennbare Einschränkungen wie die 64-KB-Grenze von Datentypen in Lotusscript. Weiß würde aus heutiger Sicht die damals noch nicht verfügbaren Intranet-Technologien wie beispielsweise Web-fähige Applikations-Server inklusive Java ernsthaft als Alternative in Erwägung ziehen.

Auch in der Landesbank Schleswig-Holstein überzeugte Notes anfangs durch seine Möglichkeit, sehr rasch zu einsatzfähigen Groupware-Programmen zu gelangen. Neben der Nutzung im operativen Geschäft blieben die Bänker weiterhin dieser Art von Anwendungen treu. Dabei ist Weiß überzeugt, daß Notes selbst für solche Nutzung unbedingt in das Rechenzentrum gehört. Dort können die DV-Profis die Verfügbarkeit der Messaging-Infrastruktur am besten gewährleisten. Die IT-Verantwortlichen haben deshalb aber kein autoritäres Regime etabliert, das die Fachabteilungen von der Entwicklung eigener Anwendungen ausschließt. Allerdings herrschen auch bei der Landesbank ähnliche Auflagen wie bei der WGZ-Bank, um dem Durcheinander inkompatibler Anwendungen vorzubeugen.

Die Dehnung der Notes-Plattform von Messaging und Groupware bis hin zur Transaktionsverarbeitung konfrontiert nicht nur große Anwender mit der Frage, ob die gegensätzlichen Kulturen der Fachabteilungen und Rechenzentren der Groupware-Nutzung abträglich sind. Die zunehmende Komplexität des Systems könnte seine Akzeptanz im Mittelstand bremsen. Zumindest scheinen endgültig die Zeiten vorbei, wo Power-User Notes-Systeme unterhalten können - die Business Partner sehen in diesem Beratungs- und Servicebedarf neue Geschäftsmöglichkeiten.

Dehnung der Plattform provoziert Widersprüche

Es bleibt aber die Frage, ob die Ausweitung von Domino zum Allzweck-Server nicht technische Widersprüche nach sich zieht. Schließlich gilt nicht als ausgemacht, daß die Aufrüstung der Software zum Web Application Server unbedingt seiner Funktion als Mail-Server förderlich ist. Beobachter sehen diesbezüglich in der Produktstrategie von Lotus noch keine Widersprüche. Beispielsweise kommt die Integration von IBM-Datenbanktechnologie Domino nicht nur als Web- und Anwendungs-Server zugute, sondern wird auch seine Leistungsfähigkeit beim Verteilen von E-Mails verbessern. Zwar läßt sich für jede seiner Komponenten ein spezialisiertes Tool finden, das eine beschränkte Aufgabe besser erledigen kann. Der Wert von Domino liegt hingegen darin, daß es diese unterschiedlichen Aufgaben in einem System zusammenfassen und so Anwendern als übergreifende Kommunikations- und Entwicklungsplattform dienen kann.