Klare Schuldzuweisungen bei Amadeus nicht möglich

31.05.1991

Mit Sakis N. Tsaoussis, verantwortlicher IBM-Projektexecutive für Amadeus, sprach CW-Redakteur Christoph Witte

Amadeus, eines der ehrgeizigsten europäischen DV-Projekte der letzten zehn Jahre, ist in ernste Schwierigkeiten geraten. Den vier Gründer-Airlines, die mit diesem weltweiten computergestützten Reisereservierungssystem (CRS) ihre eigene Zukunft absichern wollten, laufen die Ausgaben davon. Hauptursache für die Kostenexplosion, die vor allem den kleineren Partnern Iberia und SAS zu schaffen macht, aber auch in den Vorstandsetagen von Lufthansa und Air France für dicke Luft sorgt, ist die noch immer nicht erfolgte Inbetriebnahme des Gesamtsystems. Wer ist Schuld an der Misere? Haben die Gründer-Airlines sich mit der CRS-Software von System One für die falsche Basis entschieden? War der Plan, ein so großes Projekt auf einen Schlag in Betrieb zu nehmen, einfach zu ehrgeizig? Oder hat die Generalunternehmerin, die IBM-Deutschland GmbH, versagt? Sakis N. Tsaoussis, der seit 1989 von IBM für Amadeus abgestellt ist, bezieht Stellung.

CW: Niemand bestreitet heute mehr, daß Amadeus verschiedenen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Besonders die fast einjährige Verzögerung beim Cut-over (die Verfügbarkeit des CRS für die Reiseveranstalter) hat zur heute heiß diskutierten Kostenexplosion des Projekts geführt. Bereits im vergangenen Jahr erklärte der heutige Präsident der Amadeus Holding, José Tazón, daß auch IBM einen Teil der Verantwortung für den Zeitverzug tragen müsse. Wo lagen die Probleme in der Realisierung des Projektes, die zu der Verspätung geführt haben?

Tsaoussis: Tazón hat gesagt, daß IBM als wichtiger Partner in einem verspäteten Projekt selbstverständlich einen Teil der Verantwortung tragen muß. Er hat auch angedeutet, daß die Komplexität des Projektes am Anfang nicht richtig eingeschätzt wurde.

Ein Softwareprojekt dieser Größenordnung muß von Anfang an - auf Basis exakt beschriebener Funktionalitäten geplant werden. Das ist auch gemacht worden, allerdings haben sich nach Beginn des Projektes Änderungen in der Funktionalität ergeben. Man hat außerdem festgestellt, daß wesentlich mehr Testzeit benötigt würde, als anfangs eingeräumt worden war.

CW: Wann ist die IBM in das Projekt eingestiegen?

Tsaoussis: Amadeus wurde 1987 gegründet und wir arbeiteten seit Ende 1987 mit dem Unternehmen zusammen, um zunächst den Vertrag auszuarbeiten. Unterzeichnet wurde das System-Integration-Agreement zwischen der IBM Deutschland und der Amadeus Data Processing GmbH & Co., KG am 7. April 1989. Damals war als Enddatum für den Acceptance-Test des Gesamtsystems der 31. Dezember 1990 vorgesehen.

CW: Heißt das, daß erst zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung feststand, welchen Umfang das Projekt hat?

Tsaoussis: Der Umfang war schon vorher klar, aber wie bei jedem Vertrag haben wir intensiv über Preis und zu liefernden Leistungsumfang debattiert.

CW: Sollte im Dezember '90 auch der Cut-over stattfinden?

Tsaoussis: Nein, der war erst für Januar oder Februar '91 vorgesehen.

CW: In welche Zeitabschnitte war beziehungsweise ist der Aufbau des Systems unterteilt?

Tsaoussis: Im September 1988 kündigte Amadeus die erste Phase, "Amadeus One" an. Das war das mit dem Amadeus Logo versehene computergestützte Reisereservierungssystem (CRS) der System One Inc. Ursprünglich war vorgesehen, die CRS-Funktionen übergangsweise von Miami aus den Reiseveranstaltern anzubieten. Im nächsten Schritt sollte das System dann auf die Amadeus-Plattform in Erding übertragen werden. Dabei war der Abschluß von Phase eins in Miami auf April 1990 datiert. Allerdings waren die Arbeiten zur Erreichung des Cut-overs der Phase eins im Bereich des Codes und der Datenbank sehr viel aufwendiger als ursprünglich definiert. Dieser zusätzliche Aufwand war eine der Hauptursachen dafür, daß wir die Tests erst im September 1990 abschließen konnten.

Daraufhin haben wir gemeinsam mit Amadeus entschieden, keinen Cut-over in Miami zu machen, sondern die Phase zwei zwischenzuschalten: Alle Phaseeins-Funktionen sollten erst in Erding installiert, getestet und erst dann, nach Abschluß der Phase zwei, den Reiseveranstaltern zur Verfügung gestellt werden. Phase drei bezeichnet die volle Funktionalität des CRS auf der eigenen Systemplattform in Erding. Es ist einfach leichter, die Funktionalität auf der eigenen Plattform voranzutreiben, als das komplette Paket von System One nach Erding zu migrieren.

CW: Wann entschieden sich die Projektpartner für den späteren Cut-over-Termin?

Tsaoussis: Zwischen den Phasen eins und zwei lag noch ein wichtiger Termin: Nachdem Anfang 1990 das Rechenzentrum in Erding eingeweiht worden war, riefen die Beteiligten die "Frankfurter Task-force" ins Leben, die sich aus Mitarbeitern von Amadeus, System One, den nationalen Airlines und uns zusammensetzte. Diese Gruppe hat den Testplan nochmals im Detail geprüft und kam zu dem Schluß, daß der Plan nicht ausreichend war. Die Task-force setzte daraufhin den 18. September 1991 als Datum für den Abschluß des Acceptance-Tests für die Phase drei fest.

CW: Wer trägt den nun die Schuld an der Verzögerung?

Tsaoussis: In dieser Beziehung unterstütze ich 100prozentig das Statement von Herrn Tazón. Wenn man ein Projekt zusammen macht, kann man nicht sagen, der oder der ist schuld, beide tragen Verantwortung.

CW: Wie weit ist das Projekt bis heute gediehen?

Tsaoussis: Die Funktionalität der Phase zwei (Flug- und Sitzverfügbarkeit) wird den Reiseveranstaltern Ende Juni zur Verfügung stehen. Die Verbindung zu Sabre wird im dritten Quartal dieses Jahres zur Nutzung bereit stehen. Das Ende des Acceptance-Tests für Phase drei ist jetzt für Dezember vorgesehen, der endültige Cut-over für den 31. Dezember 1991 und volle Operationalität wird Anfang 1992 erreicht sein. Diese Termine kann ich aus heutiger Sicht bestätigen: Momentan gibt es keine Probleme. Aber wie man weiß, kann in Softwareprojekten immer etwas passieren.

CW: Hat man nichts falsch gemacht?

Tsaoussis: Meiner Auffassung nach war es ein Fehler, ohne die Phase zwei auskommen zu wollen.

CW: Das erkannte man aber erst ...

Tsaoussis:... während des Projekts. Ja.

CW: Weil System One zu löchrig war?

Tsaoussis: Das will ich so nicht stehen lassen. Es gab viele Probleme, das ist wahr. Aber wenn Sie sich den Gesamtcode anschauen und die "Defects per thousand lines of Code" betrachten, liegt das im normalen Rahmen. Ich möchte nicht System One die Schuld in die Schuhe schieben. Wenn, dann betrifft das alle Beteiligten: Amadeus, System One und IBM.

CW: Trotzdem tauchte in den Analysen, die im Auftrag der Lufthansa bezüglich der Projektkosten gemacht worden sind, die These auf, daß es ein gravierender Fehler war, sich für System One zu entscheiden.

Tsaoussis: Ich will das nicht kommentieren, weil die Entscheidung für System One nicht von der IBM getroffen wurde. Bei den Kandidaten, deren Systeme im Gespräch waren, handelte es sich um TWA, British Airways, System One und American Airlines mit Sabre. Unsere Rolle bestand darin, Amadeus, die geeigneten Lieferanten und uns zusammen zu bringen. Die Entscheidung lag bei Amadeus. Ich vermute, - ich war nicht dabei, weil ich erst im Mai 1989 zu diesem Projekt kam - daß man sich für diese Software entschieden hat, weil System One die geeignetste Architektur aufwies, um die für Amadeus notwendigen Änderungen anbringen zu können.

CW: Gab es nicht innerhalb des System-One-Teams Motivationsprobleme und eine entsprechende Fluktuation, die die Fortschritte bei der Fehlerbeseitgung stark verlangsamt hat?

Tsaoussis: Das kann ich nicht bestätigen. Sie sollten beachten, daß dieses Team nicht allein gearbeitet hat; es waren auch eine ganze Menge Amadeus- und IBM-Mitarbeiter - sowohl von IBM USA als auch von IBM Deutschland in der Miami. Mannschaft integriert. Die haben ihre Arbeit bereits Ende 1988 aufgenommen.

CW: Hat sich das Projekt nicht auch deswegen schwierig gestaltet, weil es erhebliche Koordinationsschwierigkeiten gab?

Tsaoussis: Zwischen wem und wem?

CW: Ich kann mir vorstellen, daß es in einem Unternehmen, das aus vier mehr oder weniger gleichberechtigten Partnern besteht, drei verschiedene Standorte hat und dessen Manager auch nach Proporzerwägungen ausgewählt worden sind, Schwierigkeiten in der Abstimmung gibt.

Tsaoussis: Auch in diesem Punkt kann ich mich der Aussage von Herrn Tazón anschließen, der auf diese Frage gesagt hat, man sei schließlich nicht das einzige multinationale Unternehmen.

CW: Nur sind normalerweise die Hierarchien und die Entscheidungswege eindeutig definiert. Diesen Eindruck konnte Amadeus eigentlich nicht hervorrufen, zumal, wenn man an die Querschüsse denkt, die vor einigen Monaten von Iberia und SAS bezüglich der Kosten kamen.

Tsaoussis: Ich kann das nicht bestätigen. Ich glaube, Herr Tazón hat das Unternehmen Amadeus gut im Griff. Eins ist allerdings klar: Je mehr Partner sie haben, je mehr Interfaces notwendig sind, desto höher wird die Komplexität eines Projektes.

Das gilt nicht nur für Software, sondern das trifft auch auf die normale Kommunikation zwischen den Menschen zu.

CW: Stichwort "veränderte Funktionalitäten": Hat sich denn während der nachträglich eingezogenen Phase zwei auch der Funktionsumfang verändert?

Tsaoussis: Phase zwei bedeutete zusätzliche Arbeitsbelastung. Wesentliche Funktionsveränderungen haben sich durch die Anbindung an Sabre ergeben. Solche Planmodifikationen bedeuten zwar Schwierigkeiten für diejenigen, die das Projekt betreuen, aber sie sind etwas Notwendiges. Verändert man nichts hat man zum Schluß ein veraltetes Produkt. Das ist nicht als Negativum gegenüber Amadeus gemeint: Dieses Vorgehen ist absolut normal.

CW: Welche Funktionalitäten wurden verändert?

Tsaoussis: Sowohl in der System-Plattform als auch in den Anwendungen wurden Veränderungen über den "Change-Request"-Prozeß veranlaßt, in dessen Rahmen eine ganze Reihe von Modifikationen durchgeführt wurden.

CW: Inwieweit ist denn IBM auf der Anwendungsseite engagiert?

Tsaoussis: IBM hat seit April 1990 fast 90 Subcontractors in das Projekt gebracht, von denen sich jeder mit einer ganz bestimmten Anwendung hervorgetan hat. Wir haben nur Topleute verpflichtet. Es sind so viele nötig, weil wir es in Sachen Airline-Software mit folgendem Phänomen zu tun haben: Die Softwarespezialisten in diesen Bereichen sind alle als freie Unternehmen tätig.

CW: Was ist denn mit Produkten wie zum Beispiel Direct Access, damit hat doch IBM nichts zu tun,

Tsaoussis: Doch. Diese System-One-Standardfunktionen wurden im Rahmen des Projekts an die Amadeus-Plattform angepaßt

CW: Also hat IBM nur die systemnahen Anwendungen gemacht.

Tsaoussis: Nein. Ich rede von echten Applikationen. Bei der systemnahen Software handelt es sich um die Systemplattform. Darauf setzen die aus System One entstandenen Amadeus-Anwendungsprogramme auf. Den gesamten Komplex verantwortet die IBM als Projektleiter.

CW: Mit Verantwortung für die Funktionalität?

Tsaoussis: Ja, soweit sie im Vertrag festgeschrieben ist. Dabei arbeiten wir allerdings sehr eng mit dem Projekt-Executive von Amadeus zusammen. Die Anmerkungen der Presse, daß sich die Partner in dem Projekt nicht verstehen basieren nicht auf Tatsachen. Die Kooperation zwischen uns und den Amadeus-Leuten hat immer gut funktioniert.

CW: Mußten die Funktionen nicht auch deshalb verändert werden, weil das von Air France und Lufthansa erstellte Pflichtenheft zu ungenau war?

Tsaoussis: Ich habe noch nie ein Pflichtenheft gesehen, das alle Anforderungen bis aufs I-Tüpfelchen genau beschrieben hätte. Selbst dann nicht, wenn die Partner die gleiche Sprache sprechen. In unserem Fall dürfen sie die Multinationalität nicht außer acht lassen.

CW: Ich meine auch nicht die normalen Abweichungen. Gab es gravierende Unstimmigkeiten.

Tsaoussis: Nein, zwar gab es Koordinationsprobleme, aber keine, die das Dach hätten einstürzen lassen.

CW: Ein anderer Punkt, an dem immer wieder Kritik geübt wird, ist das Betriebssystem TPF. Kritiker behaupten, es gebe nur wenige Anwender, es sei nicht durchgängig dokumentiert, schlecht strukturiert und es neige zur Instabilität. Darüber hinaus soll es im Vergleich zu anderen Betriebssystemen sehr wenige Spezialisten geben. Was davon trifft zu?

Tsaoussis: Von dem Moment an, als ich TPF-Spezialisten, brauchte, habe ich sie auch bekommen und zwar über Firmen, die über solche Fachleute verfügen. In Deutschland gibt es allerdings kaum Spezialisten dafür. Die meisten sind Amerikaner, Engländer oder Kanadier. Die IBM selbst ist an Unternehmen in Singapur und Malaysia beteiligt, die TPF-Spezialisten ausbilden und die TPF-Service anbieten.

CW: Uns ist allerdings zu Ohren gekommen, daß bei Amadeus Neulinge eingestellt werden, die erst noch eine zeitraubende TPF-Schulung durchlaufen müssen. Da liegt doch die Annahme nahe, daß es an verfügbaren Spezialisten mangelt.

Tsaoussis: Im September '90 verfügten wir im Projekt über 88 Mitarbeiter, die im Durchschnitt 7,5 Jahre Erfahrungen mit TPF und im Airline-Business hatten. Das waren keine IBMer, sondern freie Subcontractors. Nochmal: Leute mit diesem Wissen zu bekommen war kein Problem.

CW: Aber extrem teuer?

Tsaoussis: Das stimmt absolut. Verglichen mit Fähigkeiten in anderen Branchen... Zum nächsten Punkt.

Es stimmt, daß TPF nur von einem relativ kleinen Kreis benutzt wird. Betrachtet man allerdings die Airlines, stellt sich heraus, daß die meisten TPF-Anwender sind.

Wir unterhalten eigens für dieses Betriebssystem ein Laboratorium mit 600 Mitarbeitern, die nichts anderes machen, als dieses System weiter zu pflegen, neue Produkte zu entwickeln und die Anwender weltweit zu unterstützen.

An entsprechender Dokumentation mangelt es nicht mehr. Das war einmal so, aber heute ist die Beschreibung des TPF-Standardsystems exzellent. Das gilt auch für die Amadeus-Dokumentation.

CW: Kann man aus Ihren Ausführungen den Schluß ziehen, daß der neunmonatige Zeitverzug aus dem nachträglichen Einschieben der Phase zwei herrührt.

Tsaoussis: Nein, die Verzögerung lag vor diesem Schritt.

CW: Also hing es an der Fehlerbereinigung an System One?

Tsasoussis: Nein. Da muß ich wieder auf das Tazon-Statement verweisen. Eindeutige Schuldzuweisungen sind nicht möglich.

CW: Sie können aber doch Auskunft darüber geben, in welchen Projektphasen die größten Verzögerungen lagen?

Tsaoussis: Die wesentlichen Veränderungen im Projekt waren die Durchführung des Funktions- und Integrationstests auf der Erdinger Plattform. Die waren ursprünglich nicht definiert, weil sie ja in Miami hätten stattfinden sollen. Das war ein Riesenschritt. Erst müssen alle Teilfunktionen und -Systeme für sich überprüft werden, dann werden Integrationstests mit Untergruppen gefahren und erst danach kann man prüfen, ob alle diese Funktionen und Systeme auch einwandfrei arbeiten, wenn alles zusammengeschaltet ist; das bezeichnet man als Systemtest. Ganz am Schluß steht der Finalacceptance-Test.

CW: Inwieweit sind der IBM durch all diese zusätzlichen Arbeiten Kosten entstanden, die nicht durch den im Jahr 1989 geschlossenen Vertrag abgedeckt sind? Es sind uns gegenüber Vermutungen geäußert worden, daß IBM bereit war, in pekuniärer Hinsicht ein Auge zuzudrücken, um das Projekt erfolgreich abzuschließen. Stimmt das?

Tsaoussis: Wir haben uns mit Amadeus darauf geeinigt, daß wir die Kosten für die IBM-Mannschaft bis zum Ende des Projekts tragen - also ab dem Zeitpunkt, der ursprünglich geplanten Übergabe bis zum tatsächlichen Abschluß der Arbeit. Für diese Periode kommen wir für unsere operationellen Kosten selbst auf.

Aus heutiger Sicht handelt es sich dabei um ein Jahr. Amadeus trägt im Gegenzug die eigenen zusätzlichen operationellen Kosten.

CW: War es aus heutiger Sicht nicht zu ehrgeizig, den Cut-over für das gesamte System auf einen Schlag machen zu wollen?

Tsaoussis: Ich gebe Ihnen recht, daß der jetzige Plan mit den Phasen eins bis drei viel mehr Sinn macht.