KI-Technologien: Allheilmittel oder Seifenblase

KI-Erfolg nur bei Integration in vorhandene DV-Umgebungen

08.02.1991

*Ruth Bosch, langjährige Mitarbeiterin der Zeitschrift KI, arbeitet als freie Fachjournalistin in Kirchheim bei München.

Obwohl der Markt für KI-Software schon einige Jahre alt ist, konnte er sich bis heute nicht so recht etablieren. Zwar wurden Tausende von Shells verkauft, der rechte Durchbruch in der Praxis aber ist noch lange nicht geschafft Neueren Zahlen zufolge gibt es in der BRD kaum mehr ab 360 "echte" Anwendungen.

Auch die Strategien der KI-Unternehmen reflektieren die unbefriedigende Situation. Man rettet sich mit dem Angebot von Seminaren und anderen Dienstleistungen über die Runden. Wirkliche Abhilfe jedoch verspricht erst eine neue Generation von KI-Software: Wenn es gelingt, die KI-Techniken vollständig mit konventionellen Programmiermethoden zu verschmelzen, dann könnte das den Durchbruch bedeuten.

Ganze 363 Anwendungen gab es nach Angaben der Mülheimer Firma Zenit Anfang 1990 in der Bundesrepublik (die Daten basieren auf Quellen von Professor Mertens, Universität Erlangen-Nürnberg) - und das, obwohl es in Sachen KI schon einige Jahre boomt. Entwickler und Vertreiber betonen die Vielzahl von Shell-Lizenzen, die sie angeblich bereits verkauft haben.

Umfragen in dir Industrie bestätigen das: Tatsächlich wurden und werden immer noch viele Versuche mit den KI-Tools unternommen. Warum aber kommen diese Wunderwerkzeuge nicht zum Zug?

Mangelnde Integration In DV-Umgebung

Ursprünglich hatte man sich von den KI-Methoden die Lösung aller anstehenden innerbetrieblichen Probleme versprochen. Der Ansatz, eine Aufgabe nicht algorithmisch anzugehen, sondern symbolisch und über ein Regelwerk, war vielversprechend. Denn es gibt eine Reihe von Problemen, die sich mit herkömmlichen Programmiersprachen entweder gar nicht oder nur sehr schwer lösen lassen.

Laut Reinhard Behrendt, IBMs Leiter für KI-Produkte, liegt das Problem in der fehlenden Integration von, KI-Methoden in die klassische DV-Umgebung. "Wir sind jetzt erst dabei, die dritte Generation von KI-Werkzeugen zu bauen". Die erste Generation waren Tools und Shells, die als Entwicklungshilfe für isolierte wissensbasierte Systeme geschaffen wurden. Die zweite Generation, derzeit am häufigsten im Einsatz, sind Shells, die mit Schnittstellen zu den gängigsten Datenbanken ausgerüstet sind. "Das genügt aber nicht", so seine Interpretation der derzeitigen Situation. Denn erst wenn die "wissensverarbeitende Technologie Teil einer umfassenden Anwendungsentwicklungs-Umgebung ist, können die Bedürfnisse von Entwicklern und Anwendern befriedigt werden". Als Nebenprodukt wird seiner Meinung nach auch endlich eine Entmythologisierung der KI stattfinden".

Bis dahin aber ist es noch ein langer Weg. Viele Hindernisse sind noch aus dem Weg zu räumen. Das beginnt mit der in den Betrieben weitverbreiteten negativen Einstellung gegenüber dieser neuen Technik. Und, wie Rainer Strobel, Intellicorps Vertriebsleiter Zentraleuropa, es ausdrückt: Es gibt immer noch nicht genügend Leute, die an vorderster Front im KI-Bereich stehen.

Die neuen Ideen haben sich noch nicht durchgesetzt, weil die vielen - meist kleinen KI-Unternehmen - nicht genug Geld haben, um es in Marketing-Aktivitäten zu investieren."

Im Detail liegt das laut Rainer Strobel daran: "Unsere Branche macht mit ein paar wenigen "technologischen Vorreitern" Umsätze - und das sind seit Jahren dieselben. Der Durchbruch ist erst geschafft, wenn eine breite Anwendergruppe die Erfolge der neuen Technologie erkannt hat."

Mit dieser Ansicht steht Strobel nicht alleine. Hans-Rudolf Albrecht, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Albit GmbH in Mülheim an der Ruhr - einem Ableger der Zenit -, spricht von einem langsamen, aber kontinuierlichen Anstieg der Nachfrage nach den mit KI-Methoden erstellten Programmen". Doch er zeigt sich optimistisch: "Wir sind im Moment dabei, den Durchbruch zu erzielen.

Der wird nicht durch einen Riesensprung erreicht sondern durch die Ablösung von Expertensystemen als Stand-alone-Projekten, durch die Integration in die konventionelle DV, was durch die Schnittstellen zu Datenbanken und durch einheitliche Oberflächen gewährleistet ist." Im Vergleich zur IBM gibt man sich hier also schneller zufrieden.

Die Unzufriedenheit von potentiellen Kunden hat viele Gründe. Zum einen hat man ihnen - und da gibt es keine Ausnahme - mit der Einführung von KI-Methoden den Himmel auf Erden versprochen. Was sehr leicht war, weil die neue Technik es gestattet, mit nur einigen wenigen ausgesuchten Regeln innerhalb von kürzester Zeit Prototypen zu bauen, an denen man sich bereits vorstellen kann, wie ein fertiges System aussieht. Daß das alles Spielzeugprodukte waren, die lediglich als Überzeugungsmittel dienen sollten, auch das geben speziell die PC-Shell-Vertreiber heute zu. Auch sie waren einige Zeit Opfer des blendenden Rapid Prototyping".

Nachdem klar wurde, daß die eigentliche Arbeit erst nach dem Prototypen einsetzt, daß also doch eine Menge Zeit und Geld investiert werden muß "verschimmelten" viele gute Ansätze nach kurzer Zeit in einem Sachbearbeiterbüro, und niemand wollte mehr etwas davon wissen - ein Grund für die vielen Prototypen, die es nie bis zur Anwendungsreife gebracht haben.

Ein konkretes Beispiel für die lange Zeit, die bei einem wissensbasierten System vom ersten Versuch bis zur Einsatzreife vergeht, ist "Proover", ein seit kurzem im Vertrieb von Siemens eingesetztes Expertensystem: Knapp sieben Jahre ist es her, daß der erste Prototyp in Prolog entwickelt wurde. Heute werden mit diesem System sämtliche Hard- und Softwaresysteme bei Siemens kundenspezifisch konfiguriert. Für den Einsatz in der Praxis wurde es jedoch komplett in C neugeschrieben, so daß es heute auf DOS- und Unix-Rechnern läuft.

Dr. Nandakishore Banerjee war 1984 bei der Entwicklung des Prototypen dabei. Der heutige Geschäftsführer der Wolfratshauser Softwareentwicklungs- und Beratungsfirma Isardata betont: Prolog hilft, den Weg zu finden, aber zur Einbindung eines wissensbasierten Systems in eine größere DV-Landschaft ist C wesentlich besser geeignet.

Vermutlich ist das einer der Hauptgründe für den langsamen Durchbruch von KI-Methoden: Kaum ein KI-Experte vermag einem Laien den Vorteil der neuen Software-Technologie so zu erklären, daß bei diesem ein Aha-Erlebnis stattfindet. Denn wenn ein System erst einmal steht, dann kann es erfahrungsgemäß auch in jeder anderen Programmiersprache implementiert werden.

Der eigentliche Vorteil der neuen Methode aber, nämlich bei bestimmten Problemstellungen - wo die normale Programmierung scheitern würde, weil für sie jeder Einzelschritt bereits bekannt sein müßte - einen Lösungsweg Oberhaupt erst zu finden, wird von KI-Unbeleckten häufig übersehen.

Speziell in der Industrieautomatisierung ist noch ein weiteres Problem dafür verantwortlich, daß sich KI-Systeme nur vereinzelt im Einsatz befinden: Die mangelhafte Performance, mit der beispielsweise intelligente vorbeugende Diagnosen an Fertigungsstraßen ausgeführt werden. Manfred Helzle, Leiter und Inhaber der schwäbischen Beratungsfirma Hema, setzt deshalb auf KI-Shells, die auf Transputersysteme portiert das Geschwindigkeitsproblem lösen sollen. Denn, so der erfahrene Automatisierungsberater: Der Bedarf an Intelligenz wird in der Industrie immer größer."

Die Nachfrage ist 1990 erheblich gestiegen

Kein Zweifel: Es tut sich was im Markt für wissensbasierte beziehungsweise Expertensysteme. Dr. Hensel von der Diebold Deutschland GmbH erläutert: "Wir verspüren eine zunehmende Nachfrage bei den Informationsveranstaltungen; auch die Beratungsaufträge sind 1990 im Vergleich zum Vorjahr deutlich angestiegen."

Dies bestätigt auch Joachim Stender, Geschäftsführer der Berliner Brainware GmbH, die sich seit ihrer Gründung im Jahre 1984 ganz den KI-Methoden gewidmet hat. Stender sieht allerdings strukturelle Veränderungen in der Nachfrage: "Waren es noch vor wenigen Jahren überwiegend "Schnupperer" die die KI-Seminare besuchten, so sind es heute fast ausschließlich Angestellte aus Fachabteilungen, die reale Probleme lösen wollen, und die sich schon seit Jahren mit KI beschäftigen." Auch Hans-Rudolf Albrecht spricht von "einer starken Belebung der Nachfrage, zumindest was die Beratung angeht".

Grund der verstärkten Nachfrage sind zum einen die besseren Anbindungsmöglichkeiten an konventionell erstellte Software wie die inzwischen meist realisierten Schnittstellen zu den gängigen Datenbanken, wie auch die verbesserten - meist grafischen - Benutzerschnittstellen. Diese sind Grundlage eines neuen Schlagworts, das sich auch im KI-Bereich breitmacht: objektorientierte Programmierung (OOP).

"Im Augenblick läuft eine massive Diskussion um die objektorientierte Programmierung, allerdings nicht unter dem Label KI, sondern ganz allgemein in der DV, formuliert Joachim Stender den aktuellen Trend, den er teilweise bedauert. Denn er sieht die Gefahr, daß alle Sprachen auf diesen Zug aufspringen, und damit ihre spezifischen Vorteile verlieren könnten. Und er fährt fort: "Wenn alle Sprachen gleich aussehen, beispielsweise wie Turbo-Pascal, dann kann man gleich in Turbo-Pascal programmieren." Reinhard Strobel äußert ebenfalls Unmut: "Plötzlich ist alles objektorientiert, was mit Icons arbeitet."

Dabei ist OOP wesentlich mehr: Am besten wird der Begriff durch seine Charakteristiken beschrieben, die den Unterschied zum prozeduralen Programmieren verdeutlichen. Diese Charakteristiken sind:

- Einkapselung: Objekte bestehen aus Daten und prozeduralen Komponenten, die auf den Daten operieren;

- Abstraktion: Objektklassen beschreiben allgemeine Eigenschaften und das Verhalten von Objekten;

- Message Passing: Objekte kommunizieren untereinander durch das Senden und Empfangen von Nachrichten und

- Vererbung: Objekteigenschaften werden schon auf Klassenebene definiert und bis zu den sogenannten Instanzen vererbt." (Zitat aus einem Aufsatz von Britta Balcke, Intellicorp).

Wichtig beim OOP ist also die Abbildung der Realität auf Objekte mit Eigenschaften. Das bedeutet für den Programmierer ein erhebliches Umdenken, paßt aber in die bisherigen KI-Programmiermethoden hervorragend. So kündigt ein altgedientes KI-Unternehmen wie Symbolics ihr CeBit-Engagement auch damit an, daß es sich nun mit dem neuen Messestand in Halle 4 "erstmals mitten im Bereich der System- und Softwarehäuser" präsentiere. "Damit wird auch nach außen hin sichtbar, daß der frühere KI-Workstation-Spezialist die Umstrukturierung zum reinrassigen Systemhaus abgeschlossen hat. Im Mittelpunkt des Symbolics-Angebots stehen Beratung und Software-Entwicklung mit objektorientierten Methoden zur Lösung von komplexen Planungs- und Terminierungsaufgaben", so der Pressetext zur CeBit.

Die Kunden interessiert nur die Problemlösung

Der allgemeine Trend wird in mehrfacher Hinsicht in dieser Meldung deutlich. Zum einen scheut man sich, den Begriff KI in den Mund zu nehmen. Es geht vielmehr um Problemlösungen. Zum anderen wird OOP - neben anderen Programmiermethoden - als ein Mittel zu jenen Problemlösungen eingesetzt, um die es den Kunden geht. So spricht Reinhard Behrendt genauso wie Dr. Hensel auch von "Case-Tools", die als integrierte Entwicklungsumgebungen zukünftig mit allen möglichen Techniken einschließlich KI-Methoden und OOP zum Einsatz gelangen. Erst dann, wenn komplette Entwicklungsumgebungen zur Verfügung stünden - und hier sind sich die Experten einig - käme damit implizit auch der Durchbruch der KI-Methoden. Über den Zeitpunkt gehen die Meinungen auseinander. Er kann zwischen heute und der Mitte dieses Jahrzehnts liegen.