Viele Wege und Umwege zum gemeinsamen Normierungsziel

ISDN: Nicht Substitution der Zusatznutzen ist die Chance

17.02.1989

ISDN ist ein Transportmedium - auch im Büro, kein informationstechnischer Alleskönner, wie es gewisse marktschreierische "Informationskampagnen" nahezulegen versuchten. Das Integrated Digital Services Network, kurz ISDN, bedarf der Computerleistung und der traditionellen Bürokommunikationsanwendungen, um seinen unbestritten erzielbaren Zusatznutzen zur vollen Wirkung zu bringen. Seine Force, so ergab die Umfrage der COMPUTERWOCHE, sind zeitkritische Anwendungen in der Wertschöpfungskette der Unternehmen, und davon gibt es viele.

Ein Spätankömmling in der Bürolandschaft

ISDN ist als Schlagwort, als Leistung und als Transportmedium ein Spätankömmling in der heutigen, meist im Großunternehmen schon über LANs vernetzten Bürolandschaft. Wo ISDN schon Fuß gefaßt hat, sind seine Daten, Text und Grafik integrierenden Eigenschaften nur selten ausgeschöpft. Wie groß oder klein die Schritte über die reine Sprachkommunikation hinaus im allgemeinen sein werden, ist noch von vielen sehr unterschiedlichen Komponeten abhängig, die zwar bekannt, aber mangels Markt und ohne einen breiten Start schwerlich abzuschätzen sind. In Erinnerung an den "Btx-Flop" und eingedenk der "Reifezeiten" von internationalen Telekommunikationsnormen vermeiden die Marktmacher derzeit allzulautes Marketing, noch.

Die deutschen Marktmacher, die sich an der CW-Umfrage beteiligt haben, sind sich einig darin, daß die Rahmenbedingungen, die die CCITT-Empfehlungen setzen, international akzeptiert sind. Genannt werden von Philips für die Schicht 1 I.430 (I.431), für Schicht 2 I.441 (I.442) und für Schicht 3 I.450 (I.451). Telenorma nennt neben der I.400 noch die I.920 und I.930. Bei Nixdorf ergibt sich eine geringfügige Variante, nämlich: I.430/ff- I.440/ff und I.450.

CCITT läßt Spielraum für Herstellerstandards

Der Teufel allerdings sitzt, wie immer, im Detail. Was für den US-amerikanischen ISDN-Markt gilt, könnte sich, wie immer, auch in Europa wiederholen. Große, weiträumig angelegte und auf ISDN basierende Projekte, wie zum Beispiel die Vernetzung der zahlreichen McDonalds-Niederlassungen, drohen am Variantenreichtum der Protokolle und der Schnittstellenvielfalt innerhalb der gesetzten Rahmenbedingungen zu scheitern. Hier gilt es - in den USA jedenfalls - noch vieles auszutesten.

Als Validierungsinstitution haben sich die Bell-Töchter in den Vordergrund zu schieben versucht.

Die Rolle des Telefons im Büro ist wohl kaum zu unterschätzen, es gehört dazu, wie das Pünktchen auf das (kleine) I. Und wenn, wie die CW-Umfrage zur Rolle von ISDN im Büro ergab, eine der aussichtsreichsten ISDN-Anwendungen das Telefonieren ist - so eine ironisch klingende Antwort der IBM - dann muß sich daraus zwangsläufig eine auch künftig tragende Rolle für die Bürokommunikation ergeben, zusätzlich aufgewertet durch die naheliegende Integration der Telematik-Dienste der Bundespost - wie etliche Antworten ergaben - und die Integration bestehender Bürokommunikationssysteme - wie die Auflistung der zahlreichen Pilot-Anwendungen beweist.

Zwar scheinen sich die gröbsten Fehler, in Form von willkürlichen Herstellerstandards von alleine "auszumendeln", aber bevor es die umfassenden, europäischen Normen gibt, müssen hierzulande noch viele sorgfältig gesteuerte und abgestimmte Zwischenschritte gemacht werden. Da gibt es beispielsweise die "Cornet-Initiative" von Siemens. Die Hicom-Anbieter setzen für ihre Inhouse-Anlagen (ISPBX) zwar noch "Herstellernamen", sie seien jedoch "CCITT-like" und füllten Lücken, die CCITT (noch) nicht ausgelotet habe, insbesondere solche, wie Siemens betont, die so flexibel sind, daß sie eine spätere Migration zu CCITT- oder CCITT-abgeleiteten allgemeinen Normen gestatten.

Aber der Trend geht "eindeutig", so Rechner-Hersteller Digital Equipment, in Richtung herstellerneutraler ECMA-Standards. Moderater äußert sich da die große IBM: Verschiedene europäische Arbeitsgruppen haben Big Blue zufolge Chancen einen Stein ins Normierungsbrett zu bekommen, so das ETSI, eine Institution der europäischen Postverwaltungen, ferner das entsprechende Gremium CEPT oder auch eine ominöse "vierlaterale Gruppe" (O-Ton IBM). Sie alle bemühten sich um eine funktionale Einheitlichkeit. Siemens hinwiederum räumt der Cenelec, einer EG-nahen Normierungsbehörde, das größte Gewicht ein, allerdings für den Inhouse-Sektor. Sie kümmere sich im Hinblick auf den Binnenmarkt 1992 um von der EG-Kommission finanziell geförderte Normen, zirka 30, wie Siemens präzisiert Diese EG-Normen sollen europaweite Multivendor-Konfigurationen unterstützen. Für weitere Gültigkeit werde eine gleichartige Aktivität in ISO/ IEC (JTC 1) Sorge tragen.

All diese Wege führen (hoffentlich) zu einem gemeinsamen Ziel. Vorerst dominieren in der Bundesrepublik noch unterschiedliche "Herstellerstandards", allen voran der der Bundespost: 1TR6, ferner das Protokoll des ISDN-Modellversuches 1R6 (zum Beispiel Telenorma). Als künftige Norm wird DKZ-N2 zu den Schnittstellen So und Upo expressis verbis von Telenorma und Nixdorf akzeptiert. Der Protokoll-Vorschlag DKZ-N2 stammt vom ZVEI und wurde bei der CEN/Cenelec-ECMA für den TK-Anlagen-Anschluß eingebracht.

Dennoch haben nach wie vor herstellerspezifische Schnittstellen ihre Verfechter, als da sind die Unixdorf oder die Upo, die vom ZVEI gepuscht wurde. Computerbauer DEC bezeichnet diese Standards zwar als "out", Nixdorf seinerseits hält alle 80 KBit-Schnittstellen für restlos überholt, und Siemens gibt selbst nationalen Normen oder solchen, die auf CCITT-Vorläufern beruhen, keine Chance mehr.

Die leidige Schnittstellendiskussion nimmt, wie die doch sehr unterschiedlichen Antworten auf die CW-Umfrage ergaben, bei allen propagierten Bemühungen um Gemeinsamkeiten, immer noch einen breiten Raum ein, sicherlich einen zu breiten Raum im Hinblick auf solche künftigen Anwender, die wie in den USA der Hamburger-König McDonalds auf flächendeckende Installationen mit unterschiedlichen Endgeräten setzen. Solange ihnen nicht mehr funktionale Einheitlichkeit bewiesen werden kann, werden sie sich mit dem Argument der mangelnden Planungssicherheit zurückhalten können, auch wenn es noch so schöne Anwendungen zu demonstrieren gäbe. Bei kleinen und mittleren Unternehmen sehen die Aussichten, so die Prognosen einiger Marketiers, besser aus.

Anwendungen:

Die Katze ist aus dem Sack

Am wenigsten auskunftsfreudig und offenbar informiert zeigten sich die Computerbauer zum Thema Anwendungen. Aufschlußreich, daß gerade sie sich auf der anderen Seite zum Thema Lokale Netze um so eloquenter erwiesen (siehe Seite 42). ISDN in Kombination mit dem Einsatzfeld Büro assoziieren sie zu nächst in erster Linie mit Sprachkommunikation (IBM!), gefolgt vom Einsatz mit Telematikdiensten, aber doch auch als Übertragungsmedium für File Transfer in der Rechner Rechner-Kommunikation. Großer Büro-Kommunikator ist für die traditionellen DV-Anbieter das LAN; die digitale, ISDN-fähige Nebenstellenanlage (ISPBX) kann aber auch Direktverbindungen substituieren, so daß bestehende Inhouse-Anwendungen immerhin über ISDN abgewickelt werden können. Dennoch seien ausgesprochene Datennetze wegen der höheren Übertragungsgeschwindingkeiten meist mit LAN realisiert und ISDN könne für sie auch kein Ersatz sein.

Aber so schlecht die eingeführte LAN-Konkurrenz ISDN auf den ersten Blick erscheinen laßt, die DV- Traditionalisten räumen gleichwohl ein, daß grundsätzlich a 11 e Anwendungen die Leistungen des ISDN nutzen können, ISDN substituiere aber keine Anwendungen (IBM). DEC erhofft sich gar, daß ISDN bestehende Anwendungen "intelligenter" macht.

Konkreter wird da schon Siemens. Vor diesem globalen Ansatz nehmen sich die realisierten Anwendungen beim Hicom-Entwickler, aber auch bei Nixdorf und Telenorma, zwar noch recht mager aus, aber in ihnen stecken diesmal Erfahrungen aus Pilotinstallationen. Tabula rasa, wie vor ein paar Jahren noch propagiert, wird ISDN im Büro nicht machen. So beurteilen auch die eigentlichen ISDN-Marktmacher - als da sind Siemens, Nixdorf und Telenorma - die Zukunft. Folgende "anwenderseitige Effekte" jedoch erwartet speziell Siemens beim Übergang ins ISDN-Zeitalter:

- Bürovorgänge, die stark kommunikationsorientiert sind und durch Abstimmungen sowie Kooperationen mehrerer Mitarbeiter unter Einsatz technischer Mittel heute sequentiell ablaufen (also mit Telefon, Fax, Teletex und/oder DV/PC), werden sich in Richtung simultaner Misch- und Mehrfachkommunikation entwickeln.

- Beim Zusammenspiel von DV und PBX, wobei alle Verbindungen durch den Menschen hergestellt werden, entwickelt sich die folgende Integration: Telefon und Datenstation in einem Gerät am Arbeitsplatz, Sprache und Daten auf einer Leitung sowie DV-gestützter Verbindungsaufbau, das heißt Geräte- und Leitungsintegration.

- Sinnvolle Organisation der Integration von Telefon- und Computerleistung in einer Anwendung. Hier geht die Initiative für eine Telefonverbindung von einer DV-Applikation aus, die die Logik abgespeichert hat für den notwendigen Kommunikationsprozeß zum Beispiel bei Materialbestellung und Lieferantenauswahl oder Informationsretrievel und Informationsbeschaffung.

Besonders aussichtsreiche ISDN-Anwendungen sind nach den Erkenntnissen von Siemens: schnelle Abwicklungen von Anfragen und Klärungen im Wertschöpfungssystem (Kunde, Hänler, Lieferanten, Hersteller) und die Filial-/Geschäftsstellen-Kommunikation in Handel, Versicherungen und Banken; ferner sehen die Siemensianer gute Möglichkeiten für das bereichs- und ortsübergreifende Zusammenspiel von DV-Systemen und Kommunikationssystem bei Büroprozessen auch in der innerbetrieblichen Wertschöpfungskette.

Zum Kostenaspekt äußerte sich Nixdorf am knappsten: Für sehr wirtschaftlich halten die Paderborner

- die Nutzung der Telefonverkabelung als Inhouse-Leitungsnetz und

- die Integration der verschiedenen Telematik-Dienste (Teletex, Datenübertragung, Telefax) in integrierten Arbeitsplätzen, zum Beispiel PCs.

- Kostensenkend wirkten auch im Sinne der Zeitersparnis Unterstützungsfunktionen, wie zum Beispiel das elektronische Telefonbuch, bildschirmunterstütztes Wählen, und den Rückruf bei "besetzt" .

Eingehende Untersuchungen über kostensenkende Effekte des ISDN gibt es, laut Siemens, bisher noch nicht. Dafür sei das Medium noch zu jung. Hingegen könnten Arbeitszeit und Personalkosten, aber auch Nutzenaspekte wie bessere interne und externe Information und Kommunikation, positiv zu Buche schlagen. Hinzu kommen die Vorteile beschleunigter und vereinfachter Verwaltungsvorgänge, Unterstützung von Entscheidungsfindungen sowie eine größere Zufriedenheit der Kunden. Doch all dieses ließe sich eben schwer bis gar nicht in Mark und Pfennig angeben, so die Siemens-Strategen. Auch den übrigen von der CW befragten Unternehmen gelingen exakte Angaben zu Kostenersparnissen nicht. Einig sind sich alle jedoch darin, daß die unterstützende Funktion des ISDN ihr Geld wert ist, daß die Nutzung des Telefonkabels auch für nichtsprachliche Kommunikation ein großer Vorteil ist, ferner der direkte Zugang zu internen oder externen Daten- und Textsystemen.

Gefragt hatte die CW auch nach bestehenden Büro-Anwendungen, die durch spezielle ISDN-Anwendungen substituiert gehende Einigkeit: ISDN ist in erster Linie ein Transportmedium. Seine Chancen liegen weniger in der Substitution bestehender traditioneller BK-Netze, als vielmehr in deren Ergänzung.

Aussichtsreiche ISDN-Anwendungen unter Einbeziehung des öffentlichen ISDN-Netzes*

Siemens:

Schnelle Abwicklung von Anfragen und Klärungen in dem Wertschöpfungssystem (Kunde, Händler, Lieferant, Hersteller)

Filial-/Geschäftsstellen-Kommunikation in Handel, Versicherungen, Banken

Bereichs- und ortsübergreifendes Zusammenspiel von DV-Systemen und Kommunikationssystemen bei Büroprozessen

Kommunikation im Bereich öffentliche Verwaltung

Nixdorf:

ISDN-Datenübertragung

ISDN-Bildtelefon

ISDN-Fax

Telenorma:

Räumlich getrennte Bürokommunikations-Netze zwischen räumlich getrennten Standorten

DEC:

Private, virtuelle Netzwerke und Verbindung von Sprachleistungsmerkmalen mit Merkmalen der informationsverarbeitenden Systeme

*Alle Angaben beruhen auf Aussagen der Hersteller

Realisierte Inhouse-ISDN-Anwendungen*

Siemens:

Info-Drehscheibe für die Geschäftsführung

Krankenhausservice (Labor, Station, Leistungsstellen)

Bürgerservice und Verwaltungsarbeiten Vertriebs- und Marketingunterstützung

Außendienststeuerung

Bestellabwicklung (Produktion, Einkauf, Lieferant)

Projektmanagement

Nixdorf:

Arbeitsplatzvernetzung (ISDN-LAN)

Automatisches Anrufverteilsystem, zum Beispiel für den Versandhandel Integrierte Lösungen für Handel, Hotellerie, Geldinstitute, Krankenhäuser und öffentliche Verwaltung

Telecom-Server (Telex und Teletex)

Integrierte Lösungen für den mittelständischen Anwender, die neben Rechnerfunktionen mit solchen der ISDN-Anlage ausgestattet sind, z.B. Bildvermittlung

Telenorma:

Anschluß von PCs und Ascii-Terminals über V.24-Adapter an TN-ISDN-Systeme

File transfer bei PCs

Zugang zu ASCII-Rechnern (DEC, HP, Bull, NCR)

Zugang über Server in Host-Systeme IBM (SNA) und Siemens (Transdata)

Zugang über Server zum Teletex- und Telexdienst

Zugang zum Datex-P-Netz

Digital Equipment:

Anschluß einer digitalen Nebenstellenanlage über einen S2-Anschluß nach ECMA-Norm an Ethernet LAN

* Alle Angaben beruhen auf Aussagen der Hersteller