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Netze mit Nutzen (I)

Hör mal, was da piepst: Gerangel um Multimedia-Handys

16.02.1999
Von Michael Hufelschulte
Netze mit Nutzen (I)

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - 1974 waren die Programmierer und Designer Ted Nelson und Alan Kay wild entschlossen, ihren Traum vom perfekten Computer zu verwirklichen. In ihren Notizen, später unter dem Titel "Dream Machines" veröffentlicht, skizzierten sie damals ein "Good Guy System", ein "überall einsetzbares Computersystem für naive Anwender, das freundlich, hilfsbereit, einfach aufgebaut und vollkommen verständlich sein soll". Die Industrie jedoch produzierte in jeder Hinsicht das Gegenteil: Computer und Programme sind vor allem abwärtskompatibel, um mit früheren Versionen zusammenarbeiten zu können, und dadurch mit den seltsamsten Altlasten gesegnet, die sie gelegentlich fast unbedienbar machen. Das Gute-Leute-System ist weit entfernt. "Die Konzepte sind da, haben aber wenig an der Praxis verändert. Die eigentliche Revolution kommt noch", erklärte Alan Kay im Dezember 1998 auf einer Feier zum 30. Geburtstag der Computermaus.

Kay muß es wissen: er leitet eine Forschungsabteilung im Disney-Konzern, die sich unter anderem mit einfach zu bedienenden Handy-Computern für das UMTS-Netz befaßt. Dieses "Universal Mobile Telecommunication System" soll das Good Guy System endlich wahr machen. Denn niemand hat das Dilemma der Computerindustrie besser erkannt als die Kommunikationsindustrie: Die Handy-Bauer stellen inzwischen regelrechte Software-Boliden mit Antenne her. Ein Handy mit integriertem Organizer wie Nokias "Communicator 9110" übertrifft von der Leistung her PCs von vor vier Jahren. Bald wird man die Laptops eingeholt haben – aber bewußt nicht den Anschluß suchen: Firmen wie Nokia, Ericsson und Motorola haben vielmehr ein Konsortium gegründet, das ein eigenes, computerfernes Betriebssystem namens "Symbian" entwickeln soll.

Symbian will das Empfangen und Senden von Nachrichten aller Art so intuitiv machen, wie "das Drücken einer Türklingel", schreibt das Fachblatt "Communication Week". Damit steht die Gruppe nicht allein: Seit 1990 müht sich die Firma General Magic mit so einem Konzept ab. Zuerst wollten die ehemaligen Apple-Entwickler den Kleinstcomputer ("Handheld") für Jedermann entwickeln, nun arbeiten sie an "Portico", einer sprachgesteuerten Mailbox im Internet: Der Nutzer spricht ins Telefon, und Portico sorgt für einen Ausdruck auf einem Drucker in der Nähe.

Multimedia-Daten drahtlos

Die UMTS-Szenarien sind verlockend: Optisch hochwertige Digitalkameras mit Mikrofon und beschreibbarem Kontrollfenster nehmen Urlaubsfotos auf und verschicken sie per integriertem datenfähigen Telefon, vielleicht noch grafisch bearbeitet und mit einem kleinen Gruß besprochen.

Szenarien wie das werden denkbar, weil um das Jahr 2002 zwei Faktoren zusammenkommen, die UMTS ermöglichen: Mit der drahtlosen Übertragungstechnik werden Geschwindigkeiten erreicht, die heute allenfalls in Hochleistungsnetzen auf Glasfaser-Basis möglich sind. In städtischen Gegenden werden 384 KBit/s erreicht, in unmittelbarer Umgebung von vernetzen Gebäuden sind es gar 2 MBit/s. Selbst auf dem Land sollen 144 KBit/s möglich sein, mehr als die doppelte ISDN-Geschwindigkeit. Ein Video-Clip, heutzutage via ISDN zehn Minuten und übers Handy mehr als eine Stunde unterwegs, wird dann in Sekunden übertragen.

Und die passenden Geräte zur Multimedia-Kommunikation für jedermann werden kommen, das steht für die Techniker außer Frage. Seit 1996 hat der Verkauf von Handys die PC-Stückzahlen hinter sich gelassen – die ihrerseits das Auto überholt haben. In Finnland, wo sich der Anteil der mobilen Endgeräte im gesamten Telefonnetz der 50-Prozent-Marke nähert, verdrängen laut Handy-Hersteller Nokia elektronische Kurznachrichten ("SMS") traditionelle Grußmedien: Angeblich, so die Forschungsabteilung des finnischen Konzerns, werden zu Weihnachten oder zum Valentinstag mehr SMS-Nachrichten als Postkarten verschickt.

So basteln denn die Forscher an Übertragungsarten, die Bild und Ton auf das Handy legen. "HSCSD" (High Speed Circuit Switched Data) heißt ihre Lösung für die Postkarte der Zukunft. Geht alles nach Plan, wird im Jahr 2000 ein weiterer Baustein für die universale Kommunikation fertiggestellt sein. Er hört auf den Namen "MPEG-7" (Motion Picture Experts Group Standard 7) und ist für die Beschreibung von multimedialen Inhalten zuständig. Ein Beispiel wäre das Pfeifen einer Melodie ins Handy, das daraufhin eine Liste aller in Frage kommenden Musikstücke liefert. Oder eine Skizze der Umgebung würde umgehend eine Liste aller Restaurants in der Nähe zurückliefern.

Unterstützt durch einen ständig aktiven Internet-Anschluß der neuen Geräte könnten völlig neue Szenarien umgesetzt werden, wie die Bürger ihre Informationen beziehen. Die Handys des nächsten Jahrtausend wählen sich dabei nicht nur bei einem Telefondienstleister ein, sondern docken in der virtuellen Umgebung an. Wer einen Vergnügungspark betritt, wird mit Übersichtskarten und dem Veranstaltungskalender versorgt; wer in die Firma geht, bekommt die Firmenpost und den Terminkalender automatisch zugestellt. Vor dem Computer, wie wir ihn heute kennen, braucht niemand mehr zu sitzen. Seine Funktionen werden im UMTS aufgegangen sein – wenn die Forscher recht behalten.

Gerangel um den Standard

Vor der Realisierung der Pläne steht aber der Weg durch die Gremien, Verbände und sonstigen Interessengruppen. Neben Symbian gibt es die "Bluetooth Special Interest Group", die sich mit der Frage beschäftigt, wie UMTS-Geräte untereinander kommunizieren können. Bei Bluetooth sind auch die Symbian-Mitglieder vertreten, was sie nicht daran gehindert hat, eine weitere Gruppe zu gründen, das "Wireless Application Forum" (WAP-Forum). Seine Ziele sind etwas kurzfristiger und enger ausgelegt: Mobiltelefone sollen auf Internet-Inhalte zugreifen können. Und seit Anfang dieses Jahres entwickelt die "Wireless Ready and Trade Alliance" ein Logo und einen Standardtest für UMTS-Geräte.

Schließlich gibt es noch die ITU, die oberste internationale Fernmeldebehörde in Genf, die ihre UMTS-Pläne unter dem Namen "IMT-2000" zusammengefaßt hat. Anfang Dezember 1998 schlug die ITU Alarm: Deutlich zeichnete sich ab, daß bei der Sende- und Frequenztechnik für UMTS keine Einigung erzielt werden konnte. Die Fronten haben sich aussichtslos verhärtet. Die unterschiedlichen Definitionen, die schon bei der heutigen Handy-Technik zu unterschiedlichen Standards in den USA, Europa und Japan geführt haben, werden auch in Zukunft eifrig gepflegt: Auf der einen Seite stehen die Amerikaner (die Firmen Qualcomm und Motorola, mit Microsoft als Qualcom-Software-Partner) mit ihrer Technik ("WCDMA One" oder "CDMA 2000"), auf der anderen die Europäer (Ericsson, Nokia, Philips) und Japan/Korea mit anderen Ansätzen ("W-CDMA" und "Global CDMA II"), die in den meisten Teilen untereinander kompatibel sind. Der

Streit ist in voller Schärfe entbrannt, seitdem Qualcomm als Inhaber einer Reihe von Patenten für wichtige CDMA-Funktionen sich weigert, diese Patente zu lizenzieren, wenn die andere Seite nicht ihren Definitionen folgt. Bleiben die Fronten hart, könnten alle Pläne Makulatur werden, UMTS bis zum Jahr 2002 zu realisieren. Beobachter aus der Computerbranche werden sich an eine ähnliche Situation erinnern, als IBM mit dem "Microchannel" für den PC-internen Datenfluß den anderen Herstellern Lizenzgebühren abnehmen wollte. Die konterten mit der lizenzfreien EISA-Technik Erst als beide Systeme langsam aber sicher veralteten, einigte man sich auf einen Nachfolgestandard.

Wenn alles nicht so gut läuft, könnte sich das Good Guy System auch diesmal wieder nur als Schimäre erweisen.

Autor: Detlef Borchers, betreibt in Westerkappeln-Metten bei Osnabrück das Redaktionsbüro Topspin/tc