Investitionsentscheidung in der Diskussion

Groupware oder Intranet? - Es kommt immer darauf an ...

15.03.1996

Das Internet - oder besser das World Wide Web (WWW) - eignet sich auch als Basis fuer die unternehmensinterne Kommunikation. Ein TCP/IP-basiertes Netz, ein eigener WWW-Server, ein billiger Browser auf jedem Desktop - und fertig ist das "Intranet". Unter diesem Begriff verstehen die Analysten eine WWW-Umgebung, die sich quasi hinter verschlossenen Tueren ausbreitet.

Nach Angaben der Meta Group wird heute schon jeder zweite WWW- Server fuer den Inhouse-Gebrauch installiert - auch wenn dieser Trend offenbar noch nicht auf die deutschen Unternehmen uebergegriffen hat. Die WWW-spezifische Hypertext Markup Language (HTML) besticht vor allem durch ihr Hardware-unabhaengiges und simples Client-Interface. Deshalb gilt eine firmeneigene WWW- Umgebung derzeit als die ideale Loesung, um Informationen allen Mitarbeitern zugaenglich zu machen. Damit aber bietet ein HTML- basiertes Intranet einen guten Teil der Funktionalitaet, fuer die Groupware-Produkte wie Lotus Notes derzeit im Einsatz sind.

Unter dem Begriff Groupware werden die unterschiedlichsten Systeme subsumiert. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die kooperative Nutzung von Informationen. Infolgedessen reicht das Spektrum der angebotenen Software vom reinen Messaging ueber gemeinsam genutzte Datenbereiche - Zeitplaene beispielsweise - bis zum Workflow- Management. Lotus Notes nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als es sich um ein Datenbanksystem mit Anwendungsentwicklungs- Werkzeugen handelt. Im Dunstkreis dieses Produkts hat sich denn auch ein breitgefaecherter Loesungsmarkt gebildet.

Die Analysten beobachten derzeit eine Konvergenzbewegung zwischen dem E-Mail- und Groupware-Markt auf der einen sowie dem WWW-Umfeld auf der anderen Seite. Einen ersten Schritt in Richtung Integration unternahm der Internet-Spezialist Netscape Inc. im vergangenen Jahr, als er sich den Groupware-Anbieter Collabra einverleibte. Dessen Produkt "Collabra Share" dient dazu, Diskussionsforen zu verwalten.

Darueber hinaus ermoeglicht die Server-Variante dieser Software auch den Abgleich von zentral und dezentral gehaltenen Daten, auch bekannt als Replikation. Damit macht Netscape/Collabra dem unangefochtenen Groupware-Marktfuehrer Lotus Notes eines seiner Alleinstellungsmerkmale streitig. Dem Vernehmen nach plant Netscape, die Mail-Variante von Collabra Share in eines der naechsten Releases seines WWW-Browsers "Navigator" zu integrieren.

Wie der Muenchner Berater Michael Wagner betont, sollte Groupware- Funktionalitaet jedoch nicht auf der Client-, sondern auf der Server-Seite angesiedelt sein. Dafuer muesste Netscape dort Funktionen installieren, die weit ueber das plattformuebergreifende Hypertext Transfer Protocol (HTTP) hinausgehen. Damit koennte die Software nur noch in einer geschlossenen Netscape-Welt arbeiten. Das immer wieder gegen Notes vorgebrachte Argument der proprietaeren Architektur waere folglich ausser Kraft gesetzt.

Aber die Netscape-Entwickler sind nicht die einzigen, die an WWW- basierter Groupware basteln. Die meisten Projekte befinden sich derzeit allerdings noch nicht im Stadium eines marktfaehigen Produkts.

Bei der Gesellschaft fuer Mathematik und Datenverarbeitung mbH (GMD) entstand beispielsweise ein WWW-basierter File-Server, der den Mitgliedern einer Arbeitsgruppe ueber einen der verbreiteten WWW-Browser nicht nur Lese-, sondern auch Schreibzugriff auf gemeinsam genutzte Dokumente erteilen soll. Derzeit arbeiten die in der Naehe von Bonn ansaessigen GMD-Forscher an dem Folgeprojekt "CoopWWW". Es hat zum Ziel, unterschiedlichen Teammitgliedern die gleichzeitige Bearbeitung eines Dokuments zu ermoeglichen.

Die Frage ist also, ob es sich fuer ein Unternehmen heute noch lohnt, in ein proprietaeres Produkt wie Lotus Notes oder die angekuendigten Mitbewerber Microsoft Exchange und Novell Groupwise zu investieren. Die Antwort darauf lautet "jein". Zunaechst ist es kaum moeglich, die drei Produkte in eine Schublade zu stecken. Waehrend Notes bereits in der Version 4.0 vorliegt, sind die Groupware-Angebote von Microsoft und Novell noch nicht einmal auf dem Markt. Auch Novell wird erst in diesem Sommer mit seinem Groupware-Angebot aufwarten koennen.

Zudem setzen die Anbieter unterschiedliche Schwerpunkte. Entgegen den urspruenglichen Ankuendigungen entpuppt sich Microsoft Exchange als ein reines Messaging-System - mit ungewisser Zukunft, wie die Marktbeobachter befuerchten. Denn darueber, ob und wie Exchange mit dem eigenen "Internet Information Server" (IIS) in Einklang gebracht werden soll, schweigt sich Microsoft noch aus. Novell Groupwise hingegen konzentriert sich auf die Zeitplanung und die Bearbeitung von ad hoc initiierten Vorgaengen.

Entsprechend seinem Reifegrad hat Lotus mit Notes die umfassendste Funktionalitaet zu bieten. Was Notes nach Ansicht der Analysten ueber die Mitbewerber hinaushebt, ist aber vor allem die Moeglichkeit, mit der Software die jeweilige Unternehmensorganisation abzubilden.

Die Funktionen, die eine WWW-Umgebung von Haus aus mitbringt, nehmen sich demgegenueber reichlich bescheiden aus: Per se eignet sich ein HTTP-basiertes Netz eigentlich nur dazu, vorgefertigte Informationsangebote fuer den Abruf bereitzustellen. Allenfalls lassen sich - mit Hilfe des in die Browser integrierten Simple Network Mail Protocol (SNMP) - Messages verschicken.

Andreas Zilch, Geschaeftsfuehrer der IDC Deutschland GmbH, Eschborn, zieht daraus die Schlussfolgerung, dass das Intranet derzeit weniger dem Groupware-Produkt Notes Konkurrenz mache als vielmehr dem E- Mail-System "cc:Mail". Die Unternehmen, die Notes lediglich als Transportmittel fuer die elektronische Post einsetzen - von Lotus selbst auf 70 Prozent der Anwender beziffert -, waeren demnach mit einem Intranet genauso gut oder besser bedient.

Allerdings duerften die beschraenkten Interaktionsmoeglichkeiten des WWW in naher Zukunft der Vergangenheit angehoeren. Die von Sunsoft entwickelte Programmiersprache Java weist den Weg: In die statischen Web-Seiten lassen sich neuerdings lauffaehige Anwendungen einbetten, so dass die Benutzer die heruntergeladenen Informationen lokal manipulieren koennen. Die Meta Group geht davon aus, dass spaetestens 1997 eine Reihe von Anbietern mit Notes-Clones in den Markt einsteigen werden, die mit Web-Technologie arbeiten und Java-Code nutzen.

Ueberlegen ist die geschlossene Notes-Umgebung den Web-Alternativen derzeit noch, wenn die Informationen die geschlossene Welt des eigenen Unternehmens verlassen sollen. Hier bietet Lotus in Gestalt des "Name and Address Book" Sicherheitsfunktionen an, die dem Internet bislang fehlen. Es gibt dort zwar eine Reihe von konkurrierenden Loesungsansaetzen fuer die Verschluesselung und die zweifelsfreie Zuordnung von Informationen, ein verbindlicher Standard fehlt jedoch.

Lotus und die neue Eignerin IBM haben die Gefahr, die ihnen von seiten des Internet droht, durchaus erkannt. Ihre Antwort darauf ist in der juengsten Produktversion Notes 4.0 enthalten: Jetzt koennen Notes-Dokumente als HTML-Formulare ins Netz gestellt und nach dem Ausfuellen in die Notes-Datenbank zurueckgespeichert werden. Zudem will Lotus in der zweiten Jahreshaelfte einen Notes- Server ausliefern, der gleichzeitig das HTTP-Protokoll unterstuetzt und deshalb auch als Web-Server fungiert.

Fuer den Groupware-Experten Wagner ist Notes heute sogar "die beste Entwicklungsumgebung, um Web-Applikationen zu entwickeln und die Informationen darin konsistent zu halten". Zwar habe beispielsweise Netscape einen Browser mit Editierfunktionen angekuendigt. Doch stuenden im Web-Umfeld derzeit keine Werkzeuge zur Verfuegung, mit denen sich Informationen fuer eine verteilte Organisation abgleichen liessen.

Der ehemalige Gartner-Group-Analyst Helmut Guembel, heute freier Berater in Kirchheim bei Muenchen, sieht die Weiterentwicklung des Groupware-Produkts hingegen kritisch: IBM habe mit Lotus 4.0 zunaechst einmal "den Erdrutsch gestoppt". Auf die verbindliche Ankuendigung einer Strategie warteten die Anwender bislang jedoch vergebens. Deshalb sollten sie es derzeit "tunlichst unterlassen, selbst Anwendungen auf Notes zu programmieren", um sich nicht tiefer als notwendig auf das Produkt einzulassen.

Den Einwand, dass das leistungsfaehige Produkt als blosses Messaging- System unterfordert sei, kontert Guembel mit dem Hinweis auf die staendig sinkenden Nutzungsgebuehren. Tatsaechlich hat Lotus Anfang dieses Jahres die Preise derart gesenkt, dass ein Mail-Client schon fuer rund 100 Mark zu haben ist. Die Multiprozessor-faehige Server- Software schlaegt zwar immer noch mit rund 6000 Mark zu Buche, aber viel billiger ist derzeit auch der Web-Server von Netscape nicht zu haben.

Auch der britische Groupware-Berater Clive Longbottom, Mitglied der Meta Group, raet den Anwendern, die Zukunft von Notes realistisch zu betrachten. Wer mehr wolle, als nur Informationen zu verbreiten, sei mit Notes derzeit am besten beraten. Doch das Ende der Produktentwicklung sei bereits absehbar. Longbottom raeumt Notes eine Lebensspanne von weiteren drei bis vier Jahren ein - es sei denn, Lotus gelinge es, in Anwendungsbereiche vorzustossen, die noch ausserhalb der Notes-Moeglichkeiten liegen.

Trotzdem hat Longbottom keine Bedenken, den Anwenderunternehmen auch jetzt noch eine Investition in Notes zu empfehlen. Die Chancen fuer einen baldigen Return on Investment rechtfertigten eine solche Entscheidung. Zudem haetten Lotus und IBM "voll und ganz akzeptiert, was da mit den Intranets passiert". Deshalb werde es mit Sicherheit einen Migrationspfad geben: Hoechstwahrscheinlich stehe Notes irgendwann einmal als Plug-in-Funktion im WWW zur Verfuegung.

Kurz & buendig

Inhouse-Netze auf TCP/IP- und HTML-Basis, kurz: Intranets, scheinen den Groupware-Produkten das Wasser abzugraben. Sie versprechen preisguenstige und relativ problemlose Publishing- und E-Mail-Funktionen fuer die Unternehmenskommunikation. Und genau das liefern sie auch - mehr allerdings noch nicht. Wer Workgroup- Funktionalitaet auf hoeherer Ebene sucht, muss sich bis auf weiteres nach Zusatzwerkzeugen umsehen.