Zur Zukunft von künstlicher Intelligenz:

Eine Symbiose von Mensch und Maschine

06.03.1981

"Das Ausmaß der menschlichen Intelligenz ist nicht festgelegt", urteilt nüchtern Professor Marvin Minsky. "Es ist nichts anderes als die Menge, über die wir in diesem Augenblick unserer Entwicklung verfügen." Mehr nicht. Und weiter: "Es gibt Leute, die meinen, daß die Evolution beendet sei, daß nichts geschickter sein kann, als wir es sind." Ist der Mensch nicht mehr länger das Maß aller Dinge? Wird die Maschine eines Taqes intelligenter sein als der Mensch? Unmöglich ist es nicht, wenn man den Wissenschaftlern am Laboratorium für künstliche Intelligenz des Massachusetts Institut of Technology (MIT) glauben darf. Werden Computer denken können? In Gesprächen mit Professor Marvin Minsky, einem berühmten Forscher auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz, und Professor Winston unterhielt sich Dr. Peter Sokolowsky, der ein Studiensemester in Cambridge am Massachusetts Institut of Technology (MIT) verbrachte.

Bislang waren unsere Computer immer nur so intelligent wie ihre Programmierer, deren Anweisungen sie schnell und präzise befolgten. So wurden und werden Programmfehler gleichsam kritiklos vom Computer übernommen, Wird es vielleicht Maschinen geben, die aus ihren Fehlern (das heißt, denen der Programmierer) lernen können? Wird die künstliche Intelligenz der Maschine der menschlichen Intelligenz ebenbürtig sein, oder wird sie sie sogar übertreffen können?

Überall in der Welt - in Ost und West - beschäftigen sich Wissenschaftler und Forschungsgruppen mit den Möglichkeiten künstlicher Intelligenz. Computerexperten, Ingenieure, Psychologen, Linguisten und Philosophen interessieren sich brennend für dieses große Thema. Sie suchen allesamt die Ergebnisse der Erforschung künstlicher Intelligenz in die Praxis ihres Wissenschaftsgebietes zu übernehmen.

Um die Antworten auf die Fragen nach der künstlichen Intelligenz verstehen zu können, die zum Beispiel die Wissenschaftler am MIT gefunden haben, wollen wir zunächst die Forschungsgebiete des MIT-Laboratoriums für künstliche Intelligenz und die theoretischen Grundlagen der künstlichen Intelligenz kurz vorstellen.

Das Laboratorium für künstliche Intelligenz des Massachusetts Institut of Technology in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts hat ein sehr ausgedehntes Forschungsprogramm. Hierzu gehören: Problemlösungen im Bereich der Naturwissenschaften und der Technik, Verarbeitung von natürlichen Sprachen an Rechnern, Studium von Denk- und Lernprozessen (Repräsentation von Wissen, psychologische Modelle), rechnermäßige Verarbeitung von visuellen Informationen (Szenenanalysen und Computersehen), Entwicklung von Manipulatoren und Robotern, Entwicklung von Computerarchitekturen.

Unter Anwendung von Ideen und Methoden der Datenverarbeitung orientiert sich die Forschung über künstliche Intelligenz primär auf das Studium der Intelligenz an sich. Eine exakte Definition dessen, was Intelligenz ist, scheint dabei derzeit noch unmöglich. Sie wird jedoch als eine Art Mischung von Fähigkeiten der Verarbeitung und der Darstellung von Informationen verstanden. Selbstverständlich liefern verschiedene Wissenschaften wie Psychologie, Philosophie, Linguistik und verwandte Disziplinen unterschiedliche Perspektiven und Methoden für das Studium der Intelligenz. In den meisten Fällen sind jedoch die dabei entwickelten Theorien zu unvollständig, und es fehlt ihnen oft an Begriffen, um sie in den Computercode umsetzen zu können. So reduziert sich das Forschungsziel des MIT-Laboratoriums auf die Frage, mit der sich eigentlich die gesamte EDV-Industrie mehr oder weniger beschäftigt: Wie können Computer "intelligenter" gemacht werden?

Dabei gelten folgende Ziele:

1.Die Verwendbarkeit der Computer soll gesteigert werden. Denn erst dadurch wird es möglich sein,

2. die Prinzipien der menschlichen Intelligenz tiefer zu analysieren und besser zu verstehen.

Einer der Gründerväter des Forschungsgebietes "Künstliche Intelligenz" ist Marvin Minsky, neben John McCarthy (Stanford University in Kalifomien), Allen Newell und Herbert Simon (Carnegie Mellon University in Pittsburg).

Nach dem Studium der Mathematik in Harvard und Princeton ging Minsky, Jahrgang 1927, zum MIT als Professor. Von 1958 bis 1973 leitete er als Direktor zunächst die Artificial Intelligence Group des MAC-Projektes und später das Laboratorium für künstliche Intelligenz. Er ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Organisationen in den USA, so zum Beispiel der amerikanischen Academy of Arts and Science. Sein Hobby ist Musik (Klavier und Orgel) und das Basteln mit elektronischen Bauelementen.

Während seiner jahrzehntelangen Forschungsarbeiten entwickelte Minsky unter anderem ein theoretisches Modell des Verstandes. Er modellierte eine "Gesellschaft des Verstandes" (society of mind), bei der sich menschliche Intelligenz aus einer Fülle weitgehend parallel arbeitender Interaktionen zwischen "Einzelagenten" ("Handelnden") bildet. Diese einzelnen, eher einfachen "Agenten" können sich zu Gruppen zusammenschließen, die dann spezielle Aufgaben erfüllen. Eine Gruppe ist zum Beispiel zuständig für die Sprache, eine andere fürs Sehen, Hören, langfristiges Planen etc. Da die Agenten an sich einfach sind, ist auch die Kommunikation unter ihnen weder intensiv noch komplex. Das führt dazu, daß hierarchische Steuerstrukturen errichtet werden, die den jeweiligen Zustand der Verstandesentwicklung kennzeichnen. Minsky unterstellt in seinem Modell, daß die Arbeit des Verstandes im Grunde auf der Aktivierung vergangener Verstandes stände basiert, in denen ähnliche Situationen (Probleme) bewältigt wurden.

So werden die abgespeicherten Ideen, Problemlösungen und Erfahrungen in dem Augenblick aktiviert, wo eine reale Situation dem "Erinnerten" ähnlich ist. Haben wir zum ersten Male ein Problem gelöst, so wird innerhalb unseres Verstandes eine "K-Linie" errichtet. Diese Linie verbindet alle für die Problemlösung notwendigen Agenten. Der nunmehr geschaffene "Mentalzustand" kann in ähnlichen Situationen nun abgerufen werden.

Minskys Agenten- und K-Lnien-Modell soll nunmehr in der Praxis erprobt werden. So will der Wissenschaftler den Lernprozeß bei Kindern erforschen. Dabei geht Minsky davon aus, daß das Gehirn mehrere Prozessorencenter besitzt, die die unterschiedlichen Typen von Kenntnissen parallel verarbeiten.

Ob sein Modell, das die psychologischen Theorien von Piaget und Freud beleuchten soll, auch wissenschaftlich produktiv ist - und Minsky ist der erste, der zugeben würde, daß seine Ideen über das Arbeiten des Verstandes falsch sein können -, eines ist sicher: Sein Werk hat die Strukturen von Computerprogrammen stark beeinflußt.

Gewaltige Fortschritte in der Technologie der elektronischen Bauelemente und die Ideen der künstlichen Intelligenz führen dazu, daß Computer-Wissenschaftler glauben, daß wir imstande sind, Computern "das Denken" beizubringen, daß der Zeitpunkt in greifbare Nähe gerückt ist, in dem Computer entwickelt werden könnten, die so intelligent werden wie Menschen. Einige Wissenschaftler glauben, daß künftige Computer nicht nur in der Lage sein werden, fortgeschrittene Denkprozesse zu vollbringen, sondern auch Gefühle zu simulieren, wenn nicht sogar zu kopieren.

Wie können wir die Intelligenz mit bestimmten Merkmalen beschreiben? Die MIT-Wissenschaftler betonen vor allem drei charakteristische Fähigkeiten der wahren Intelligenz. Die Fähigkeit

-Probleme von verschiedenen Standpunkten zu betrachten,

-des Lernens aus Erfahrung,

-des Korrigierens eigener Fehler.

Würden wir eines Tages in der Lage sein, Computer so zu programmieren, daß sie die oben genannten Fähigkeiten aufweisen, so würden wir Maschinen haben, die so intelligent werden wie die Menschen. Dies würde uns vor eine neue Situation stellen: Daß wir in naher Zukunft die Rechner Artikel, Berichte, Bücher lesen und nach unseren Kriterien für uns analysieren lassen, um daraus für unsere Entscheidungen brauchbare Informationen zu gewinnen. Dies erscheint uns heutzutage nicht mehr länger utopisch.

Noch besser können wir uns vorstellen, daß Computerprogramme Roboter steuern werden, die für uns schwere, gefährliche, gesundheitsschädigende oder an schwer zugänglichen Orten zu bewältigende Arbeiten ausführen werden. Die Computerprogramme können sogar mehr Spezialwissen über bestimmte Bereiche der Wissenschaft sammeln und über effektivere situationsbedingte Handlungsweisen verfügen als zum Beispiel dies bei Ingenieuren, Ökonomen, Ärzten, Anwälten, Marketing-und Militärstrategen der Fall wäre.

Nicht nur, daß dabei für den Menschen der Anteil der entweder nicht kreativen oder "schädlichen" Arbeiten stark abnimmt beziehungsweise die Arbeitsproduktivität entscheidend zunehmen würde; die realen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz sind wesentlich größer: Es werden dem Menschen Werkzeuge in die Hände gegeben, die zur Steigerung seines Intellektes um Größenordnungen führen werden, von denen wir früher nur träumen konnten.

Diese Mensch-Maschine-Symbiose wild der nächste entscheidende Qualitätssprung auf der Entwicklungsskala der Menschheit sein, wie etwa die Erfindung des ersten Werkzeuges.

Würde der Mensch eines Tages Computer so programmieren können, daß sie intelligenter werden als er selbst, wie er schon seit Jahrtausenden in analoger Weise fähig ist, Häuser zu bauen, die größer sind als er? "Manche äußern die Meinung, daß die Evolution beendet ist, daß nichts geschickter werden kann, als wir es sind", sagt Minsky schmunzelnd.

Es ist heutzutage nicht unvorstellbar, daß zum Beispiel Manager einen Computer im Büro als Büroassistenten zur Hand haben werden, der nicht nur Routinearbeiten erledigt, Sondern auch das gesprochene Wort beispielsweise bei Sitzungen verstehen, Berichte lesen und beides nach bestimmten Gesichtspunkten analysieren kann, um daraus Entscheidungsvorschläge für die Einleitung von Maßnahmen für den Manager vorzubereiten. Er könnte auch für seinen "Chef" zusätzliche Informationen von einem anderen "Kollegen"-Computerassistenten besorgen, in DV-unterstützten Bibliotheken und Archiven suchen, etc.

Würde aber nicht in diesen Computerfähigkeiten zugleich die Schattenseite des Fortschrittes liegen? Die Gefahr besteht nämlich darin, daß wir allzu abhängig von Maschinen werden, daß wir uns an ihre Dienste zu schnell gewöhnen und uns auf sie blind verlassen werden. Denn dann werden wir die Kontrolle über unsere Entscheidungen aus den Händen geben. So ist es durchaus denkbar, daß der Computer uns aus seinen eigenen rationellen Gründen Vorschläge für Entscheidungen vorlegt, die jedoch vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet "politischen" Schaden verursachen könnten, weil es dem Rechner - gelinde gesagt - an Fingerspitzengefühl für die jeweilige Entscheidungssituation und ihre Umgebung fehlen würde.

Prof. Dr. Peter Sokolowsky, derzeit Bad Homburg v. d. H.

Literatur

Marvin Minsky: Computation, Prentice Hall, 1967

Marvin Minsky and Seymour Papert :Perceptrons, MIT Press, 1968

Marvin Minsky (Ed): Semantic Information Processing, MIT Press, 1968

Terry Winograd: Unterstandig Natural Language, Academic Press, 1972

Patrick H. Winston: Artificial Intelligence, Addison- Wesley, 1977

Patrik H. Winston and Richard H. Brown (Eds.):Artificial Intelligence-A MIT Perspective (Vols. 1 and 2), MIT Press, 1979

Marvin Minsky: The Society Theory of Thinking in P. Winstons, R. Browns Artificial Intelligence-A MIT Perspective, Cambridge, 1979