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Thema des Tages

Ein Blick ins neue "COMPUTERWOCHE Spezial"

15.10.1999
Thema des Tages

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Seit heute ist das neue "COMPUTERWOCHE Spezial" im Zeitschriftenhandel erhältlich. "Welt am Netz" befaßt sich mit den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und technischen Folgen der Internet-Ausbreitung. Als Leseprobe präsentiert Ihnen CW Infonet heute exklusiv einen Beitrag über den Paradigmenwandel in der Softwareindustrie.

SOFTWARE AUS DER LEITUNG

von Detlef Borchers*, Online-Anpassung (tc)

"Apps on Tap", die Anwendungen vom großen Internet-Faß, sind schwer im Kommen. Das Mieten oder Leasen von Software im Internet wird ein großes Geschäft, und alle wollen sie dabeisein: Oracle, SAP, Sun und Microsoft bringen ihre Truppen in Stellung. Doch die Tücken liegen im Detail.

Wer heutzutage Standardsoftware kauft, bekommt ein eingeschweißtes Paket, das normalerweise viel Luft, eine CD-ROM, einen schwer juristischen Lizenzvertrag und ein Installationshandbuch enthält. Im Zeitalter des Internet muß das nicht sein: Eine Anwendung kann einfach eine Netzadresse (Uniform Resource Locator = URL) sein und wird dann über das Netz geladen. Der Vorteil: Die Software kann irgendwo im Internet gespeichert sein und fortlaufend zentral gepflegt werden. Und: Eine URL kann in einem Computer fest verdrahtet sein: Er hängt sich beim Start ins Netz und lädt, was er braucht. So wird der PC überflüssig, der schlanke Netzwerk-Computer denkbar.

Ganz neu ist die Idee nicht, Anwendungen über das Internet zu zapfen. Im "Shareware"-Geschäft sucht man sich längst eine Anwendung in einem der großen Shareware-Verzeichnisse, installiert sie und zückt später die Kreditkarte. Auch die Benutzung von Programmen, die nur im Internet stehen, ist schon bekannt und besonders in der Spiele-Szene weit verbreitet. Ein Besuch in Microsofts "Gaming Zone" zeigt, wie der Software-Krösus mit den neuen Techniken experimentiert. Wer sich mit dem Strategiespiel "Age of Empires" als Spieler in der Gaming Zone anmeldet, mietet technisch ein Stück Software an.

"Die Vorstellung von Software, die in einem Karton eingeschweißt ist und über die Ladentheke wandert, wird in zwei, drei Jahren verschwunden sein", verkündete Microsofts Steve Ballmer im August 1999 auf einer Konferenz über Online-Spiele. Anfang September legte er nach und kündigte an, daß auch das Office-Paket, das Flaggschiff der PC-Anwendungen, aus dem Internet gezapft werden kann. Zuvor hatte Sun Microsystems die deutsche Star Division gekauft und damit begonnen, das Büropaket "Staroffice" unter dem Namen ".com Office" über das Internet zu vertreiben. Vor allem die von Sun in Aussicht gestellte spezielle Portal-Version mußte Ballmer und Microsoft beunruhigen: Sie ist für Netzwerk-Computer gedacht, die sich kleinste Module nach Bedarf laden.

Das ist das Neue am Konzept der Anwendung frisch vom Internet-Zapfhahn; dadurch wird die Sache für alle Software-Hersteller interessant, denn so werden neue Umgangsformen mit Software kreiert: etwa bei der stundenweisen Miete, wenn eine Formel mit "Mathematica" behandelt oder ein Prospekt mit "Quark Xpress" überarbeitet werden muß. Aber auch größere Module, etwa für das "Customer Relationship Management" mit der SAP-Software R/3, können online angemietet werden. Die Firmen, die diese neue Goldader im Internet erschürfen, werden als "ASP" oder "BPO" geführt.

ASPs und BPOs

Ein ASP ist ein "Application-Service-Provider", der seinen Kunden eine Anwendung über das Netz zur Verfügung stellt. Er kümmert sich um die Lizenzen, rechnet mit dem Hersteller ab und übernimmt mitunter auch den Support der Software. Ein Beispiel ist die kanadische Firma MTT, eine lokale Telefongesellschaft, die den Kabelanschluß an das Internet verkauft. Die Haushalte erhalten eine 7-Megabit-Leitung, über die sie dann Software nach Bedarf mieten. Jeder Kunde ist mit jedem Familienmitglied als User bei MTT eingetragen, komplett mit einer Liste der Anwendungen, die er mieten darf. Über die Benutzung der Anwendungen führt MTT Buch, die Kosten finden sich auf der monatlichen Telefonrechnung. Gegenüber den Softwareunternehmen tritt MTT als Großkunde auf, der günstige Site-Lizenzen erwirbt und den technischen Support im eigenen Hause behält.

Das ASP-Modell ist nicht auf Standardsoftware beschränkt. Das Beispiel der Firma Inktomi zeigt, welche Verschachtelungen in Zukunft möglich sind. Inktomi produziert Software für das Web-Cacheing und für Preisvergleiche, ist vor allem jedoch für seine Suchmaschine bekannt, die von Firmen wie Hotbot oder Yahoo lizenziert wird. Dem normalen Internet-Besucher tritt Inktomi nicht sichtbar gegenüber. Wenn eine Internet-Firma die Suchsoftware einsetzen will und eine Anfrage zu Inktomi schickt, wird sie durch eine automatisierte Befragungsschleife geschickt, die die Kapazität, das voraussichtliche Datenvolumen des Vorhabens, berechnet. Dann landet die Anfrage bei einem ASP namens Exodus, der das nötige Backup-Center stellt und die Software

vermietet. Gleichzeitig läuft die Anfrage zu Sun Microsystems weiter. Sie enthält eine Liste der benötigten Hardware, die Sun entweder an Exodus oder direkt an den Kunden liefert, wenn dieser sein Business nicht auf einem fremden Host-Rechner aufbauen will.

Ist das ASP-Modell schon eine relativ junge Dienstleistungsform, so stecken die BPOs gar noch in den Windeln. Diese "Business Process Outsourcers" verleihen nicht nur Anwendungen, sondern gleich das Personal oder die komplette Logistik, die zu diesen Anwendungen gehört. BPOs stellen sich gerne als die Zeitarbeitsfirmen der Zukunft dar: So wird die Finanzbuchhaltung oder das Personalwesen in amerikanischen Internet-Start-ups zunehmend von BPOs übernommen. Die mörderisch knappe Entwicklungszeit von Internet-Geschäftsideen reicht nicht aus, um solche Abteilungen in jungen Firmen aufzubauen.

Ein Beispiel für einen BPO ist die Firma Corio, die nach eigenen Angaben die Finanzbuchhaltung für ein Drittel aller Internet-Startups im Silicon Valley erledigt. Dabei zeigt das Beispiel von US Internetworking, daß man sich selbst in dieser Kategorie noch spezialisieren kann: auf Finanzbuchhaltung und Personalwesen von Online-Buchläden.

Erfolgreiche Startups, die nach einem Börsengang ihre Gründer zu Millionären machen, sind das Ziel eines interessanten persönlichen BPO-Unternehmens. Der vom Netscape-Mitbegründer Jim Clark aufgebaute My CFO ist ein Informations- und Beratungsdienst für die oberen Schichten, die einen persönlichen "Chief Financial Officer" (CFO) als virtuellen Begleiter bei ihren Investments brauchen. Vom persönlichen Anlageberater bis zum Powerpoint-Schablonendienst und virtueller Golfschule vermietet der Service alles, was ein angehender Kapitalist braucht.

Probleme für Platzhirsche

Finanzdienstleister und Banken sehen das Treiben der BPOs mit Argwohn, könnte doch ein Teil ihres Beratungsgeschäftes den Weg in die Virtualität antreten. American Express, Citibank und Bankers Trust gründen darum Service-Töchter, die dieses Gebiet abdecken sollen. Ähnlich wie den Banken ergeht es den Softwarefirmen. Auch sie würden liebend gerne von den Apps on Tap profitieren. Die dafür notwendige Technik ist in vielen Fällen schon da: Das umfangreiche Microsoft-Programmpaket "Office 2000" wird mit einem neuen Installationsmodul ausgeliefert, das zunächst nur die Hauptanwendungen installiert. Zusätzliche Module folgen von CDs, wenn sie erstmals benötigt werden. Dieses Nachladen gestattet es, selten benötigte Programmteile auch wieder zu entladen und später auf Zeit erneut hinzuzumieten ­ das Installationsprogramm ist in der Lage, die Software aus dem Internet zu holen.

Zwei Faktoren sind es, die für Firmen wie Microsoft den schnellen Einstieg in das Geschäft mit den Apps on Tap verhindern: Noch ist die Mehrheit der typischen Microsoft-Kunden offline oder technisch nicht in der Lage, ein Programmpaket mit einigen 100 Megabyte modular zu installieren.

Hinzu kommt ein gravierendes Lizenzproblem: Das vieldiskutierte "End User License Agreement" (MS-EULA) enthält Passagen, die das Anmieten von Software verbieten. Das ist zudem, anders als der Kauf eines Programmpakets, von Land zu Land unterschiedlich geregelt. Für Deutschland gilt bei allen Mietverträgen die strikte Gewährleistungspflicht des Vermieters. Während Microsoft beim Verkauf von Office 2000 nur sechs Monate lang die Mängel des Programms beheben muß, ist die Firma bei der Vermietung zum Dauer-Support gezwungen.

Der Vorteil, mit Apps on Tap immer die aktuelle Version einer Software benutzen zu können, wandelt sich aus der Perspektive des Softwareproduzenten unversehens in einen Nachteil: Die aktuelle Version muß immer fehlerbereinigt sein. "Bananensoftware", die erst beim Kunden zu voller Reife getestet wird, hat bei diesem Modell keine Überlebenschancen. Aus diesem Grunde sind ASP heute immer zwischengeschaltete Firmen, denen gegenüber kein direkter Regreßanspruch geltend gemacht werden kann.

Vor diesem Hintergrund muß die Debatte um den "UCITA" gesehen werden, die vorerst nur in den USA geführt wird, aber internationale Auswirkungen hat. UCITA steht für "Uniform Computer Information Transaction Act" und ist ein neues System zur Software-Lizenzierung, das dieser Tage heftig diskutiert wird. Mit dem neuen Lizenzgesetz will die Software-Industrie auf die Möglichkeiten des Internets reagieren und die alten Gepflogenheiten der "Shrink-wrapped"-Lizenz, des klassischen Software-Kaufs auf CD also, mit dem Modell der Apps on Tap modernisieren.

Kernstück des Gesetzentwurfs sind ein paar Punkte, die der Software-Industrie ein Dorn im Auge sind: der Lizenzverkauf an andere Firmen, Lizenzwechsel durch Firmenübernahmen oder Lizenzvermietungen über ASPs. Dies soll in Zukunft ohne Erlaubnis des Herstellers nicht mehr möglich sein. Verweigert die Softwarefirma die Erlaubnis, soll sie die Möglichkeit haben, wieder in den Besitz der Software zu kommen. Technisch geschieht dies über einen Deinstallationsbefehl, der über das Internet geschickt wird. Auch bei der Garantiefrage will UCITA neue Wege beschreiten: Die Garantie soll erlöschen können, wenn ein Computersystem vireninfiziert ist und der Kunde nicht nachweisen kann, daß er regelmäßig nach Viren sucht. Für die Installation sauberer Software könnte dann der Neupreis fällig sein. Zudem soll das neue Lizenzgesetz das "Reverse Engineering" verbieten, bei dem die Software von anderen Firmen in ihrer Funktionalität nachgebaut

wird.

Großfirmen wie IBM, Microsoft, Novell und Oracle, die die UCITA-Vorlage vertreten, geben offen zu, daß sie das Vermieten von Software nach ihren Bedürfnissen gestalten wollen. Welche Auswirkungen die amerikanische Gesetzgebung auf europäische und deutsche Softwareverträge hat, ist noch unklar. Sicher ist nur, daß hiesige Regelungen zur Produkthaftung wie Garantieleistung nicht einfach außer Kraft gesetzt werden. Ebenso sicher ist allerdings, daß das "Repossessment Feature", das Löschen von Installationen durch ein Fernwartungskommando, im Kern jeder US-Software eingebaut sein würde.

Vor allem an diesem Feature entzündet sich die Kritik: Was ist, wenn Hacker dem Verfahren auf die Schliche kommen und Software löschen? Die Frage ist, ob frisch gezapfte Software mit solch einem Hintertürchen der große Renner sein wird. Manchmal ist Dosenbier eben besser als das frische Pils vom Faß.

*Detlef Borchers ist Inhaber des Pressebüros "Topspin" in Westerkappeln-Metten bei Osnabrück.