E-Mail als Instrument für das weltweite Konzern-ReportingDegussa: Strategischer Ansatz für Unternehmenskommunikation

19.04.1991

Bei der Realisierung eines Informationskonzeptes standen die Entscheidungsträger der Degussa AG vor der Wahl zwischen Standardisierung der unternehmensinternen Betriebssysteme und flächendeckendem Datenaustausch über flexible Netzwerk-Lösungen. Aus technischen und finanziellen Erwägungen wählte man dann jedoch einen dritten Weg - die Zusammenarbeit mit einem privaten Netzbetreiber.

Zu Beginn der EDV-Ära ging es auch bei der Degussa eher mühsam und projektbezogen voran. Bei der Erarbeitung von DV-Lösungen entstanden vor allem an den Auslandsstandorten zum Teil unterschiedliche Insellösungen mit einer Vielfalt von Rechnertypen von IBM, Nixdorf, Motorola, DEC etc. - und damit verbunden - unterschiedliche Anwendungssoftware. Trotz nationalstaatlicher Postdienste mußten diese Rechner jedoch miteinander kommunizieren.

Zwar war es möglich, inkompatible Protokolle über Gateways anzupassen, dies führte aber notwendigerweise zu Leistungseinbußen. Außerdem verursachten die Anpassung an unterschiedliche Netzprotokolle, die Pflege inkompatibler Betriebssysteme und rechnerspezifischer Anwendungssoftware Kostensteigerungen. Abhilfe schaffen konnte demzufolge nur eine strategische Lösung in Form einer Systemunterstützung, das bedeutete in diesem Fall die technische Verantwortung für die weltweite Kommunikation über Netze sowie für die vom Konzern dezentral eingesetzten Rechner.

So wurde denn auch bald ein naheliegender Weg zur Verbesserung der elektronischen Kommunikationswege beschritten, nämlich die Verringerung der

im Einsatz befindlichen Betriebssysteme auf der Basis eines 3-Ebenen-Modells. Auf dieser Grundlage soll künftig konzernweit auf PC-Ebene mit dem Betriebssystem MS -DOS, auf der Abteilungsrechner-Ebene mit DEC / VMS und auf der zentralen Ebene mit dem IBM-Betriebssystem MVS-ESA gearbeitet werden.

Standardisierung stellt keine Patentlösung dar

Dieser Weg hätte allerdings, als Patentlösung betrachtet, auch Defizite. Denn bis alle Anwender bei Degussa mit untereinander kompatiblen Systemen arbeiten können, werden noch Jahre verstreichen. Auch langfristig wird eine gewisse Heterogenität im Degussa-Equipment bestehen bleiben - eine notwendige Konsequenz aus der Unterschiedlichkeit von Aufgabenbereichen, Betriebsgrößen, abzudeckenden Regionen und strategischen Entscheidungen im Rahmen eines Weltkonzerns.

Aus diesem Grund erarbeiteten die Degussa-Verantwortlichen eine Konzeption für den weiteren Weg, der parallel zu der Standardisierung der Betriebssysteme beschritten werden konnte. Pilotbranchen wie die Automobilindustrie, die Chemie- und die Kreditwirtschaft exerzierten die Möglichkeit einer flächendeckenden Konzernkommunikation über flexible Netzwerk-Lösungen bei zum Teil heterogener Hardware vor, ohne daß dabei Parallelentwicklungen, Inkompatibilitäten und gewaltige Umsetzungsarbeiten entstanden.

Bei diesem zweiten Weg war allerdings von vornherein klar, daß der Aufbau eines eigenen Netzes weder technisch durchführbar noch wirtschaftlich vertretbar war. Insbesondere wäre der große Serviceaufwand und die zu überwindenden Sprach barrieren in einer Vielzahl von Ländern mit eigenen Mitarbeitern nicht zu bewältigen gewesen. Demzufolge war die Kooperation mit einem privaten - die nationale Postgrenzen überwindenden - Netzbetreiber erforderlich.

Electronic Mail als "Informationsautobahn"

1988 erteilte der Finanzvorstand des Degussa-Konzerns den internen Auftrag, nach alternativen Wegen für das weltweite Konzern-Reporting zu sorgen. Bis dahin hatten die Vertriebsstellen, Produktionsstätten und Degussa-Töchter ihre diversen Daten über Umsätze, monetäre Verschuldung, Produktion, Bereichsergebnisse, Edelmetallbestände, Kosten etc. per Briefpost, Telefax oder Eilkurier an die Zentrale gesandt. Dieses Verfahren war dem Finanzvorstand zu unsystematisch und vor allem zu langsam.

Bei einer anderen Lösung bot es sich an, im Zusammenhang mit der Gestaltung einer "elektronischen Informationsautobahn" nicht nur das Konzern-Reporting zu reorganisieren, sondern das aufzubauende Kommunikationssystem grundsätzlich für die Abdeckung weiterer Kommunikationsbereiche offen zu halten. Als eine technische Lösung neben anderen kam "Quik-Comm", das Electronic-Mail-System von GE Information Services, auf der Basis des Mark-III-Netzes in Frage. Mitte 1988 wurde GE

Information Services aus den folgenden Gründen der Zuschlag erteilt:

Mit Mark III konnte ein hoher Abdeckungsgrad in den Ländern erzielt werden, in denen die Degussa vertreten ist. GE Information Services bot das Know-how für System -Management, Schulung und Betreuung, in einer Vielzahl von Ländern. Dadurch konnte GE die Einführung des neuen Degussa-Kommunikationssystems im Ausland übernehmen, ohne daß dabei Sprach-, Post- oder sonstige Probleme auftraten. Für die Anbindung der Degussa-PCs an das GE-Netz Mark III lag - mit der Software "PC-Mailbox" - eine einfache technische Lösung vor, die gleichwohl internationale Standards erfüllte und somit überall als einheitliches Interface zwischen Anwendung und Kommunikation verwendet werden konnte.

Nach der Auftragsvergabe stellte sich für Degussa und GE Information Services die folgende gemeinsame Aufgabe: Vertriebsbüros, Fertigungsanlagen sowie weitgehend selbständig agierende Degussa-Töchter und deren Töchter sollten, wo immer sie ihren Standort hatten und wie auch immer ihr technisches Equipment beschaffen war, problemlos miteinander kommunizieren können. Darüber hinaus waren für firmeninterne Anwender direkte Zugänge zu Telex, Teletex, Telefax, den Postgesellschaften und den Teilnehmern im internationalen Verkehr zu installieren. Ähnlich wie bei der Post mußten die Informationen, "im Umschlag" verpackt und mit einer Adresse versehen, schnell sicher und kostengünstig beim Empfänger ankommen. Schon um den Qualifizierungsaufwand in Grenzen zu halten, hatte zudem die Einführung einer benutzerfreundlichen Oberfläche besondere Priorität.

Das Pflichtenheft war äußerst umfangreich

Voraussetzungen für die Degussa-Kommunikationssysteme waren zum einen die Anschlußmöglichkeit unterschiedlicher Geräte und Systeme, eine hohe Funktionalität und Sicherheit vor Ort, Übertragungsmöglichkeiten unformatierter sowie formatierter Daten, die Gewährleistung der Vertraulichkeit durch persönliche Kennwörter und technisch sichere sowie schnelle Übertragung. Zum anderen galt es, die Unabhängigkeit von Zeitzonen, jederzeitige Verfügbarkeit und die Anbindung unintelligenter Terminals wie Fernschreiber zu gewährleisten. Auch die Kompatibilität zu anderen Systemen, eine Anbindung aller gängigen Rechnersysteme mit Unterverteilung, die freie Wahl von Übergangsprotokollen, der Anschluß an die jeweils nationalen Postnetze und die Berücksichtigung internationaler Standards (OSI / X400) standen im Pflichtenheft.

Abgesehen von einer benutzerfreundlichen Oberfläche mußte die Kommunikationssoftware am Arbeitsplatz in der Lage sein, aus den Anwendungen bereitgestellte Daten zu versenden oder empfangene Daten an diese weiterzugeben sowie die ein- und ausgehenden Nachrichten zu verwalten. Funktionen wie die automatische Anwahl des Teilnehmers, Adressierung durch Kursbezeichnung Stellvertreterprinzip, mehrsprachige Bedienerführung, Postein- und -ausgangsliste, Hilfemenü etc. wurden als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt.

Ende 1990 waren weltweit rund 80 Anschlußpunkte im Rahmen des Konzern-Reporting-Systems von Degussa eingerichtet. Wichtiger aber als die Zahl der Anschlußpunkte ist aus der Sicht von Abteilungsdirektor Horst Chemnitzer, zuständig für die Systemunterstützung im Fachbereich Informatik bei Degussa in Frankfurt, daß "wir die vielfältigen technischen Probleme in über 20 Ländern mit unterschiedlichen Postgesellschaften gelöst haben". Zwar werde sich die Zahl der Anschlußpunkte noch erhöhen, aber das sei nach der Lösung der technischen Probleme nur mehr Fleißarbeit.

Ausgeräumt sind mittlerweile auch die qualifikatorischen und vereinzelt aufgetretene psychologische Probleme. Nach anfänglichen Mißverständnissen zu Beginn der Einführungsphase sei das neue E-Mail-System nunmehr konzernweit akzeptiert. Das ist allerdings auch notwendig, da es zu dem elektronischen Berichtssystem keine Alternative mehr gibt.

Daten sind vier Tage früher in der Zentrale

Auch die Kooperation und Arbeitsteilung mit GE habe, so Chemnitzer, nach einer etwas zähen Startphase so wie vorgesehen funktioniert. So übernahm der internationale Netzanbieter die Einführung des Quik-Comm-Systems, die Qualifizierung der Degussa-Mitarbeiter vor Ort und die Anbindung an die lokalen Postgesellschaften im gesamten außereuropäischen Ausland. In Europa wurde diese Aufgabe von einer Degussa-eigenen Task force "Tedi" übernommen.

Mit der Einführung von Quik-Comm sollte vorrangig eine größere Geschwindigkeit bei der Anlieferung der Daten erreicht werden. Dieses Ziel wurde erreicht, stellt Chemnitzer in einem vorläufigen Resümee fest. So kommen die Daten in der Konzernzentrale vier Tage früher als bisher an, können hier konsolidiert werden und haben konzernweit die gleiche Struktur durch Verwendung einheitlicher Anwendungssoftware auf den PCs. Das System hat sich laut Chemnitzer als so flexibel und für die Integration weiterer Dienste als so offen erwiesen, wie man sich dies zu Beginn der Einführungsphase erhoffte.

Den Anwendern, von denen allerdings die meisten einiges an PC-Erfahrungen aus der Zeit vor der E-Mail-Installation mitbrachten, wurde das Kommunizieren erleichtert - unter anderem aufgrund der Unabhängigkeit des Systems von unterschiedlichen Zeitzonen. Die Anforderungen an das System in puncto Verfügbarkeit, Vertraulichkeit und Datensicherheit wurden erfüllt. Die an die Zentrale gelieferten Daten sind aktueller, transparenter und vergleichbarer geworden - letzteres, weil die Einführung eines konzernweiten elektronischen Berichtswesens auch einen Standardisierungsprozeß bei den Kommunikationsinhalten auslöste. Auch die Kostensituation wurde durchschaubarer, weil das Accounting-System zu einer eindeutigen Zuordnung der entstehenden Kosten zu verschiedenen Degussa-Abteilungen führt.

Mehr als nur Konzern-Reporting

Mittlerweile wurde der erste Jahresabschluß auf der Basis des neuen Berichtswesens erstellt. Mitarbeiter aus den zuständigen Abteilungen erklärten: "Ohne

E-Mail-Unterstützung hätten wir das so schnell nicht geschafft." Mehr und mehr gehen einzelne Konzernbereiche dazu über, die gelegte "Autobahntrasse" in neue Richtungen zu nutzen. Anders ausgedrückt: Die verschiedenen Degussa-Standorte kommunizieren über das reine Konzern-Reporting hinaus auch verstärkt direkt miteinander.

Ein Vergleich mit der vorherigen Situation sei trotz allem schwierig, entgegnet Chemnitzer. Wie ist beispielsweise die Tatsache, daß eine Nachricht vier Tage früher ankommt, in Mark zu bewerten? Man habe vielmehr bei der Degussa einen eher strategischen Ansatz verfolgt. "Wir sahen uns an, was das kosten könnte, und das war es uns wert." Folgerichtig soll die neue Kommunikationsmöglichkeit daher möglichst schnell weiter ausgebaut werden. 1991 wird zunächst mit einer Vernetzung von Quik-Comm zu den beiden weiteren unternehmensinternen Mailbox-Systemen eine Brücke geschlagen.

Ist dies realisiert, können die Benutzer des zentralen Unternehmensrechners, der dezentralen Abteilungsrechner und der PCs im Mailbox-Verfahren miteinander kommunizieren. Automatisch soll dabei die Leerung der Briefkästen aus dem Mark-III-Netz erfolgen. Umgekehrt werden die auf höherer Rechnerebene gespeicherten Informationen an die GE-Clearing-Stelle zum Abruf über den PC weitergereicht. Wenn dies abgeschlossen ist, können weitere Anwendungen über die einmal installierte "Informationsautobahn" abgewickelt werden.