Nicht nur bei amerikanischen Softwarehäusern ist die Bewertung oft schwierig

Auch deutsche Unternehmen können Bilanzkosmetik betreiben

31.05.1991

Abgesehen von den jüngsten Umsatzrevisionen bei Oracle und Informix benutzen viele US-Software-Unternehmen bei der Bewertung ihrer Einnahmen derzeit immer noch ein Anderes "Einmaleins", als in der kaufmännischen Praxis üblich. Frank Sempert* stellte sich die Frage, ob das hierzulande in ähnlicher Weise möglich sei.

Da immer mehr Software-Hersteller "public" gehen, ist es nicht nur für Banken und künftige Anleger, sondern auch für die an der finanziellen Lage ihrer Lieferanten interessierten Anwender wichtig, einen Blick hinter die heute vielfach üblichen Methoden zur Verbesserung des Berichtswesens von Softwarehäusern zu werfen. Große Teile der Software-Branche benutzen nämlich "unübliche" Praktiken, um ihre Ergebnisse darzustellen.

Es gilt daher, die jeweiligen "Meßlatten" transparent zu machen. Betroffene Bereiche sind:

- die Darstellung und Bewertung von Umsätzen oder Erlösen,

- die Bewertung von Lizenz- oder Vertriebsvereinbarungen,

- die Darstellung des Wareneinsatzes, der Management-Fees und sonstiger Regulatorien sowie

- die Bilanzkosmetik oder die Bewertung von Eigenlizenzen beziehungsweise teilfertigen Produkten und Projekten.

Aus der Sicht deutscher Bilanzrichtlinien scheint dieses Problem zunächst irrelevant. Weiß man doch hierzulande, daß Umsätze in direkter Wechselbeziehung zu Erlösen - oder Verlusten - stehen! In der Bundesrepublik fließen Lizenz- und Vertriebsvereinbarungen in die Gewinn- und Verlust-Berichterstattung ein; Wartungsabkommen werden erst mit der Rechnungsstellung aktiv, und für teilfertige Produkte gilt ausschließlich der effektive Anzahlungsbetrag als bilanzrelevant.

Heile deutsche Software-Welt? - Schön wär's! Tatsächlich bietet auch die bundesrepublikanische Steuergesetzgebung zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten. Als Beispiel sei hier nur die Darstellung des Wareneinsatzes genannt. Welche Werte sind etwa bei der Beurteilung einer heterogenen Applikation relevant, wenn Standardprogramme, zu festen Lizenzgebühren eingekauft, individuell mit großem Entwicklereinsatz angepaßt und/oder über Jahre implementiert werden müssen oder zusätzlich neue Lösungen etwa mit Hilfe von Standardwerkzeugen wie 4GL- oder SQL-Tools ausländischer Herkunft erstellt werden?

Jetzt kommt es ganz darauf an, wie die eigenen Leistungen im Verhältnis zu den "eingekauften" eingesetzt werden. Natürlich sind Programmierer-Stundensätze zähl- und meßbar. Doch welcher Stundensatz sollte Grundlage der Bemessung sein? Hier klafft ein erheblicher Interpretationsspielraum.

Die Programmiererstunde wird in vielen Fällen nach der Dienstleistungs-Preisliste festgesetzt, also nach dem Bemessungssatz, der für den - gesetzlich allerdings nicht zulässigen - Verleih von Arbeitskräften in der Preisliste der meisten Softwarefirmen ausgewiesen wird. Schließlich sind fast alle der über 5000 deutschen Softwareanbieter gleichzeitig "Consultants", also Dienstleister, und verstehen sich daher weniger als Produzenten von Weichware, die man auch kommerziell vervielfältigen (...).

Diese speziell deutsche Eigenart ließ neben der unendlich vielseitigen Interpretationsmöglichkeit der Berichtskriterien einen in der Welt wohl einmaligen Sonderstatus entstehen. Es gibt nämlich kaum ein anderes Land, das für jedes Branchensegment derart viele auf den ersten Blick gleichartige Softwareprogramme anbietet, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland erhältlich sind. Programme wie Lagerwesen, Vertriebssteuerung und Bilanzbuchhaltung gibt es hier nicht nur für jede Branche in jeder nur denkbaren Variante, sondern für jedes Betriebssystem gleich vielfach.

Die Anwender könnten also in einem Software-Schlaraffenland schwelgen, wenn sie nicht gerade deshalb erhebliche Nachteile in Kauf nehmen müßten. Und die sind nicht ohne: Jedes Unternehmen, das sich hierzulande einem Software-Anbieter - und das sind fast alle, die mehr als zehn Benutzer in einem LAN vernetzen wollen - ausliefert, geht eine Beziehung ein, die häufig über Jahre oder auch Jahrzehnte die Information und Kommunikation im Unternehmen nachhaltig beeinflußt. Auch wenn die Grundkosten für die Erstausstattung mit Softwareprogrammen zunächst plausibel und durchaus übersichtlich erscheinen, haben die meisten Anwender nicht an die eigene Expansion gedacht, wenn sie die Erfüllung ihrer sorgfältig erarbeiteten Pflichtenhefte vollendet sehen. Doch jetzt beginnt für die Mehrzahl der deutschen Software-Anbieter erst das Geschäft. Die ständige Wartung - neuenglisch "Software-Support" - bringt erst den Gewinn. Anpassung und Erweiterung - davon leben mehr als 80 Prozent der deutschen Softwarehäuser, und darauf bauen sie ihre Zukunft.

Standardsoftware ist immer noch Ausnahme

Mit dem Wartungsvertrag werden Abhängigkeiten geschaffen, die sich in Umfang und Zeit vorher nicht begrenzen lassen. Zwar werden die Wartungsverträge nach festen "Preislisten" abgeschlossen, doch gibt es genügend Gründe und Möglichkeiten, die ursprünglichen Sätze auszuweiten. "Service ohne Ende" ist in vielen Fällen die Situation.

Nicht einmal zehn Prozent der deutschen Software-Anbieter leben von Standardprodukten. Das war vor zehn Jahren nicht wesentlich anders als heute.

Zwar haben die amerikanischen Anbieter erhebliche Breschen in das vermeintlich starre Marktgefüge schlagen können. Auch Unix wurde zunächst in erster Linie als Befreiung von der Diktatur proprietärer Betriebssysteme gesehen und erst seit kurzer Zeit als Plattform für Standardprogramme. Im Mainframe-Umfeld - insbesondere in der IBM-Welt - wird zwar in den Bereichen Informationsmanagement und Rechenzentrums-Automation bereits auf Standardprogramme gesetzt.

Diese Ausnahmen stehen jedoch im absoluten Gegensatz zur Situation bei der Anwendungssoftware.

Unter diesen Prämissen bietet der deutsche Softwaremarkt erhebliche Spannweiten in der Bemessungsgrundlage für die Bewertung eines Unternehmens. Dabei spielt die deutsche Praxis, nur Ist-Umsätze in die Bilanz zu nehmen, eine eher untergeordnete Rolle.

Entscheidend ist vielmehr die Einschätzung des gesamten Unternehmens mit allen Aktiva und Passiva. Und hier lassen sich dann je nach Bedarf Einzelprojekte oder Eigenlizenzen entweder als Passiv- oder Aktiv-Posten in die Bilanz einfügen. In den wenigsten Fällen können die betriebswirtschaftlichen Abteilungen der Kreditinstitute abschätzen, ob die ausgewiesenen Werte tatsächlich angemessen sind. So ist es erklärlich, daß viele Software-Unternehmen hinsichtlich Bonität und damit Kreditwürdigkeit häufig überbewertet sind.

Manipulationen an der Stundenzahl

Werden die langjährigen Software-Projekte zum Beispiel mit den für die Beratung ausgewiesenen Stunden als Material- und Honoraraufwand geführt, so ergeben sich am Bilanzstichtag deutlich abweichende Größen. Zwischen 57,80 Mark (Programmiereraufwand einschließlich Lohnnebenkosten) und 250 Mark (Softwarehaus-Stundensatz) besteht immerhin die Differenz von 192,20 Mark.

Auch wenn die absoluten Zahlen nicht in diesem krassen Verhältnis ausgewiesen werden, gibt es die Möglichkeit der Manipulation über die Anzahl der aufgewandten Stunden. Und die kann niemand tatsächlich nachvollziehen. Über diese "variablen" Größen können je nach Bedarf kosmetische Verschiebungen vorgenommen werden.

Anleger, die sich an einem, Softwarehaus beteiligen wollen, sollten sich sehr sorgfältig über die Lizenzkalkulation und über die dabei angewandten Stundensätze informieren. Nicht abgeschlossene und durch Verträge abgesicherte Projekte - auch wenn sie als noch so marktfähig dargestellt werden - sollten rigoros auf Null bewertet werden. Denn niemand kann abschätzen wieviel Stunden noch bis zur Einsatzreife benötigt werden - häufig noch nicht einmal die beteiligten Entwickler - und ob die entsprechenden Programme Oberhaupt den Deckungsbeitrag einspielen. Das gilt insbesondere für deutsche Softwarehersteller.

Bisher ab es nur sehr wenig erfolgreiche Standard-Software deutschen Ursprungs, die eine Auflage von mehr als 1000 Lizenzinstallationen erreicht auch nicht im PC-Markt. Hier und auch in den kommerziellen Software-Märkten dominieren unangefochten die US-Hersteller. In der Rangfolge der ersten 50 Software-Anbieter sind 45

amerikanische Unternehmen zu finden. Die ersten zehn zeigen sogar hundertprozentig "Stars and Stripes". Und fast alle werden an der Börse gehandelt.

Diese Kapitalquelle - so wichtig sie für die Deckung der Entwicklungskosten auch ist birgt immense Gefahren für die Unabhängigkeit der Softwareunternehmen. Zwar ist die US-Börsenaufsicht sehr streng und hinsichtlich der Berichtspflichten pro Quartal nicht zu umgehen; die Unternehmensbewertung läßt aber auch hier erhebliche Freiräume.

Ein häufig praktiziertes und offiziell genehmigtes Verfahren ist die Umsatzmeldung bei Vertragsabschluß. Darunter fallen Entwicklungs- und Lieferverträge ebenso wie Distributorenvereinbarungen. Die Werte werden mit Datum des Vertragsabschlusses in die Bilanz genommen, auch wenn sich die tatsächliche Abwicklung über Jahre hinzieht. Viele der US-amerikanischen Software-Unternehmen, die diese Methode anwenden, können damit kurzfristig erhebliche Umsatzzuwächse melden. Für die Aktienbewertung und auch für das "Ranking" gibt es dadurch natürlich kurzfristige Vorteile.

Liquiditätzengpässe sind vorprogrammiert

Auch wenn die Verträge, die zur Buchung kommen, zunächst sicher sind, kann es zu Ausfällen oder ganz erheblichen Verzögerungen kommen. Es muß noch nicht einmal der schlimmste Fall - Konkurs des Vertragspartners - eintreten; auch Verzögerungen der Vertragsabwicklung, die durch technische Schwierigkeiten entstehen, müssen einkalkuliert werden. Liquiditätsengpässe des Softwareherstellers lassen sich dann nicht schnell genug durch andere Umsätze ausgleichen, sondern werden nach dem Schneeball-System weitergeschoben und nehmen immer größere Dimensionen an. Diese "Todesspirale" läßt sich nur bremsen, wenn die Eigendynamik der Illiquidität noch nicht zu stark ist.

Die jüngste Chronik weist gerade bei einigen ganz Großen erschreckende Cash-flow-Meldungen auf Einer der "Softwareriesen" mit fast einer Milliarde Dollar Umsatz mußte kürzlich über 300 Millionen Dollar schwer aktivierbare Außenstände berichten.

Der Kurs ging in den Keller

Ein erheblicher Betrag dieser Summe wurde wertberichtigt und führte zu einem negativen Quartalsergebnis. Der Kurs der Aktie ging entsprechend in den Keller, und sofort waren Übernahmegerüchte zu hören. Das US-Wirtschaftsgeschehen reagiert ungleich sensibler und spontaner auf die leisesten Andeutungen gewisser Schwächen - auch wenn sie nur vorübergehender Natur sind - als das unsere.

Für mittlere und kleinere US-Softwarehäuser folgt daraus in den meisten Fällen der Verlust ihrer Freiheit. Doch auch für Softwareriesen ist das nicht ganz ungefährlich; sie können in einen sogenannten "Unfriendly takeover" geraten. Selbst Unternehmen mit mehr als 150 Millionen Dollar Umsatz sind nicht dagegen gewappnet. Das Aktienkapital ist zwar meist dem Aktiengesetz entsprechend breit gestreut, doch schützt diese Praxis nicht vor Übernahmeangeboten.

In fast allen Fällen gelang es den "Agressoren", die Mehrheit der Aktionäre zum Verkauf zu bewegen, wenn der angebotene Aktienwert deutlich über dem aktuellen Kurs der Aktie lag.

Die zunehmende Zahl der Mergers und unfreundlichen Attacken zeigen einen Trend auf, der noch lange nicht den Höhepunkt erreicht hat. Was bei den Hardwareherstellern begann, greift jetzt auch auf die Software-Anbieter über. Herauskommen wird eine Marktbereinigung großer Dimension. Damit verbunden ist ein Zusammenschrumpfen des Marktes auf wenige große Softwarehersteller.

Hier sind die deutschen Software-Unternehmen mit ihrem konservativen Buchungs- und Finanzgebahren sicherlich weniger gefährdet. Das hiesige Börsengesetz mit der jährlichen Berichtspflicht schützt sie einerseits, verführt sie aber auf der anderen Seite zu lang hinausgezögerten Entscheidungen bei eindeutig negativem Geschäftsverlauf.

Boom für "Weiche Ware"

Auf jeden Fall wird die Marktbereinigung die deutsche Softwarebranche erst später und dann eher durch Verdrängung als durch spektakuläre Aufkäufe erfassen. Die Verdrängung der Individualsoftware durch Standardprogramme hat bereits begonnen. Mit zunehmendem Bewußtsein der Anwender, daß gute Software auch aus preiswerten Paketen kommen kann, wenn man sich mit einer 80prozentigen Lösung zufriedengibt, sinken die Chancen der Individualanbieter.

Die These: "Weiche Ware - weiche Zahlen" kann nicht pauschaliert werden. Auch wenn es bei vielen Softwarehäusern Ansätze zu weichen Zahlen gibt und - wie eingangs geschildert - die Versuchung zur Bilanzkosmetik bei einigen Unternehmen deutlich wird, so haben die Anbieter von weicher Ware insgesamt doch einen boomenden Markt zu bedienen.