Anwendungen DV dient als Waffe im Kampf um die Hoerergunst

04.03.1994

1. Januar 1992, 0.01 Uhr: In Potsdam auf dem Babelsberger DEFA- Gelaende geht der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB) auf Sendung. Eine Minute zuvor wurden der Deutsche Fernsehfunk (DFF) sowie der DDR-Hoerfunk abgeschaltet - oeffentlich-rechtliche Landesrundfunkanstalten loesten den ehemaligen DDR-Rundfunk ab. Der ORB nutzte die Chance des Neubeginns auch beim DV-Einsatz: SAP-Anwendungen werden vom externen Rechenzentrum bearbeitet. Die internen Ressourcen sind auf Applikationen des Kerngeschaefts konzentriert, und hier gilt die Praemisse Offenheit. Die noch junge Geschichte des ORB ist wie die vieler anderer Unternehmen und Institutionen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gepraegt vom Pioniergeist. Ende Mai 1991 wurde der gebuertige Potsdamer und fruehere Intendant des WDR, Friedrich- Wilhelm Freiherr von Sell, zum Gruendungsbeauftragten berufen. Seine Aufgabe bestand darin, den Aufbau des Rundfunksenders vorzubereiten. Der Sitz des neuen Senders sollte in jedem Fall das Gelaende der Deutschen Filmanstalt (DEFA) in Babelsberg sein.Am 26. Juni 1991 beschloss der Potsdamer Landtag ein "Vorschaltgesetz zur Neuordnung des Rundfunks in Brandenburg". Damit begann nur sechs Monate vor dem geplanten Sendestart das Gesetzgebungsverfahren fuer die neue Rundfunkanstalt. Den brandenburgischen Rundfunkpionieren blieb nur eine kurze Frist. Der Termin des Sendebeginns stand fest, in der kommenden Silvesternacht sollte der DDR-Rundfunk endgueltig abgeschaltet werden.Eine Baracke wird zum Fernsehzentrum"Mich hat es sehr gereizt, sozusagen auf der gruenen Wiese einen oeffentlich-rechtlichen Rundfunksender voellig neu aufzubauen", erinnert sich Gruendungsbeauftragter von Sell. Zusammen mit seinem Stellvertreter bezog er Mitte Juli 1991 auf dem riesigen DEFA-Areal drei Bueroraeume. Erst zehn Wochen vor Sendebeginn wurde dem ORB von der DEFA das Haus 38, eine unansehnliche, abbruchreife Steinbaracke, als Sendezentrum zur Verfuegung gestellt. "Eigentlich haetten wir das Haus mit einer Planierraupe zusammenschieben und neu bauen muessen. Doch dazu hatten wir nicht mehr die Zeit", beschreibt Chefingenieur Ralf Lenk den ersten Eindruck vom neuen Domizil. Alles musste neu geschaffen werden: Senderegie, Studios, Produktions-, Redaktions- und Verwaltungsraeume. Innerhalb kuerzester Zeit stampfte man das Fernsehzentrum aus dem Boden. Die oeffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten stehen unter dem Druck, mit den Gebuehren der Zuschauer sparsam und wirtschaftlich umzugehen, und dies bei einem Programmauftrag, den Mitbewerber in aller Regel so umfangreich nicht wahrnehmen. DV-spezifische Folgen der breitgefaecherten Spektren von Hoerfunk- und Fernsehproduktionen sind die damit verbundenen Datenstrukturen. Ein Fernsehspiel weist zum Beispiel andere Datenstrukturen auf als eine Nachrichtensendung im Hoerfunk. Sie nutzen verschiedene Quellen, Mittel zur Bearbeitung und Ergebnisdaten mit unterschiedlicher Relevanz. Die Ist-Daten aus dem Bereich Hoerfunk liegen beim ORB auf einem "Sparc2000"-Rechner von Sun Microsystems, mit dem Betriebssystem Solaris 2.2, auf dem auch das Audiomaterial und die Sendeplaene gespeichert werden. Im ORB-Fernsehen setzt niemand mehr manuell ein VPS-Label. Dies erledigt ein Standard-PC - zu welchem Zeitpunkt, bestimmt ein Sendeplan, eine Playlist. "Hier hatten wir ein Problem: Die Ist- Daten eines Tages liegen in Form von C-ISAM-Dateien auf einem PC, die zugehoerigen Produktionskosten in Form von SAP-RK-Daten auf einem Host. Nun ging es darum, die Kosten je Sendeminute zu ermitteln. Durch das ISO-OSI-Modell ist die Hardware-Connectivity gesichert. Was aber ist mit der Software-Connectivity?" fragt Frank Johannsen, Leiter Allgemeine Organisation und Informationsverarbeitung. Die betriebswirtschaftlichen Anwendungen sollten in Berlin im IVZ Informationsverarbeitungszentrum laufen, einer Gemeinschaftseinrichtung von SFB, ORB und MDR. Bei den externen Datenbasen wie denen von der Gebuehreneinzugszentrale (GEZ), von der Gesellschaft fuer Konsumforschung (GfK) und den Archiven, waren SNA-Bedingungen zu erfuellen. Die Nachrichtenverteilung erfolgt ueber Unix-Back-ends. Ferner wurde als Textverarbeitung "Wordperfect" sowie andere MS-Windows- Anwendungen eingesetzt. Der kleinste gemeinsame Nenner der Architekturen war auf der Protokollebene ODI von Novell. "Hier spielten eher Sachzwaenge zur Integration heterogener Loesungen eine Rolle als ein freier Entwurf. Diese Sachzwaenge forderten eine Orientierung auf Hardware-unabhaengige Produkte." Die DV wird von nur drei Mitarbeitern betreut, die fuer Supervisor-Aufgaben, Systemadmini- stration und die Entwicklung kleinerer Applikationen verantwortlich sind. In Babelsberg werden heute in einer offenen Rechnerarchitektur neun Novell-Server, vier Unix-Server (bestehend aus zwei Sun-Servern mit 256 MB Hauptspeicher und jeweils 50 GB Festplattenkapazitaet sowie zwei Intel-Servern mit SCO-Unix- Betriebssystem) sowie rund 400 PCs betrieben. Bis zum Jahresende 1994 werden 450 PCs zum Einsatz kommen. Die einzelnen Standorte sind mit Glasfaser vernetzt."In anderen Anstalten ist die DV- Struktur historisch gewachsen. Wir brauchen nicht alles selbst zu machen. Andere koennen manches besser als wir, etwa die betriebswirtschaftlichen Anwendungen, so dass wir hier auf externe Dienstleistungen zurueckgreifen", erklaert DV-Leiter Johannsen. Fuer die restlichen Bereiche war eine Software notwendig, die heterogene Systeme unterstuetzt. "Die Ist-Daten entstehen vor Ort in der Sendeabwicklung, und man muss von anderen Systemen aus darauf zugreifen koennen", so Johannsen. Die Entscheidung fiel auf das "SAS System" vom SAS Institute, nachdem man einige Loesungen geprueft hatte, darunter zum Beispiel "Informix Online". Mit der SAS-Software wird auf die Datenbank "Informix", die unter SCO-Unix und MS-DOS auf den Front-ends laeuft, sowie auf Excel-Tabellen, C- ISAM-Dateien und VSAM-Applikationen zugegriffen. Derzeit werden zehn Windows- und vier Sparc-Lizenzen eingesetzt.Das absehbare Datenvolumen fuer drei Hoerfunkwellen belaeuft sich auf zirka eine Million Datensaetze pro Jahr. Diese sind auszuwerten und unter anderem mit Daten ueber das Hoererverhalten abzugleichen. Hier unterscheidet sich der ORB nicht von anderen Rundfunkanstalten - wohl aber in den zu ziehenden Schlussfolgerungen fuer den Programmauftrag. Noch laeuft fuer den Fernsehbereich die Auswertung der GfK-Daten - wer hat wann welche Sendungen gesehen - und die der Sende-Ist-Daten separat. Es ist jedoch geplant, die Programmstrukturen mit Software-Unterstuetzung in Relation zum Zuschauerverhalten zu bringen. "In vielen Dingen sind wir Pilotkunden", weiss Johannsen, "aber dadurch sind wir sicher, dass wir auch noch in einigen Jahren ueber eine moderne Technologie verfuegen." Unterstuetzung hat der ORB durch das Berliner Beratungsunternehmen Condat erhalten, das eine Applikation fuer das Vorabendprogramm entwickelt hat. Hier ging es darum, moeglichst dicht am Sendeplan sowohl planerische Informationen als auch Abrechnungsdaten zu erfassen und auszuwerten. Ein Regionalfenster zu gestalten ist ein mehrstufiger Prozess, der auf allen Stufen unterstuetzt werden musste. Zur Feinabstimmung vor der Sendung moechte beispielsweise der zustaendige Regisseur wissen, ob seine Beitraege technisch in Ordnung sind und wie die exakten Laengen sind. Nach der Sendung sind Informationen darueber wichtig, wie welches Genre bedient wurde oder wie oft ein bestimmter Spot lief. Eines der komplexeren Probleme war dabei die freie Gruppierung der in C-ISAM-Struktur vorliegenden Daten nach verschiedenen Kriterien je Gruppe.Und was steht in naeherer Zukunft an? Als erstes wird eine Sendeplanungssoftware entwickelt, damit die zustaendigen Mitarbeiter Ad-hoc-Abfragen aus dem Bereich Fernsehdirektion selbst durchfuehren koennen. Schliesslich sollen die 350 000 bestehenden Datensaetze fuer Analysezwecke aufbereitet und mit den betriebswirtschaftlichen Anwendungen verbunden werden; die SAS- Software soll direkt auf die SAP-Daten zugreifen koennen. Zudem soll die Datenkommunikation mit den Aussenstellen Cottbus und Frankfurt/Oder realisiert werden, wobei das Ziel ist, Datenverarbeitung und Telekommunikation voll miteinander zu verbinden. Von Anne Christina Remus. Die Autorin ist Inhaberin der Vertriebs- und Marketingberatung Remus Marketingteam, Hamburg.