CASE-ALTERNATIVEN

Anwender haben ganz andere Probleme als Methoden-Gurus

08.05.1992

Um die Märkte der 90er Jahre zu öffnen, gibt es nur ein Password, und das heißt Flexibilität. Während Methoden-Gurus und Hersteller sich den Kopf über Unternehmensmodelle und integrierte CASE-Konzepte zerbrechen, müssen die Software-Abteilungen vor allem eins: fertige Systeme liefern - schnell, kostengünstig und auf einfache Änderbarkeit ausgelegt. Bei der Klöckner-Humboldt-Deutz AG (KHD) in Köln wird ein Ansatz zur Lösung dieses Problems erprobt.

CW-Bericht, Karin Quack

"Wir arbeiten unter Kostendruck, denn das Unternehmen verändert sich", skizziert Lothar Grapatin, im KHD-Bereich kommerzielle Systeme für Organisation und Systementwicklungverantwortlich, die Situation, der er und seine Mitarbeiter sich zu stellen haben. "Die Fertigungstiefen verlagern sich, das Verhältnis zwischen Kunde und Lieferant wird ein anderes, Automatisierungsgrad und Komplexität steigen, und wir müssen schneller reagieren", er läutert er.

Die DV-Abteilungen seien nicht länger nur für die technische Realisierung von Systemen verantwortlich, sondern - in folge der Systemintegration ungewollt zum Synchronisationsorgan der betrieblichen Prozesse geworden.

Die technischen Mittel, mit denen der Maschinenbaukonzern diese Aufgabe zu bewältigen hofft, erscheinen auf den ersten Blick recht konventionell, nämlich auf einen zentralen (IBM-)Mainframe ausgerichtet. Mit dem Etikett "innovativ" versehene Strategien wie Downsizing und Offene Systeme lassen sich nach Grapatins Dafürhalten derzeit nur in "speziellen" Anwendungen betriebswirtschaftlich sinnvoll umsetzen.

Ebenso wenig kann Grapatin mit dem Begriff CASE anfangen. "Für mich ist das ein Marketing-Begriff, und ich lehne es ab, großartig darüber zu reden", lautet seine Einschätzung. Analyse und Design sind für ihn nach wie vor "Bleistift-Akte". Bislang habe er noch kein Werkzeug gefunden, das diesen Prozeß ohne größeren Aufwand unterstützen könne: "Es ist zwecklos, viel Geld für ein Tool auszugeben, wenn die Mannschaft ein Jahr braucht, um es zu beherrschen."

Ablauforganisatorische Problemlöser gefragt

Auch das Stichwort Unternehmensmodell ruft bei der KHD keine Euphorie hervor. Dazu Grapatin: "Ich habe dabei immer die Vorstellung, daß da Leute durch das Unternehmen gehen, alle Mitarbeiter nach ihren Informationswünschen fragen und darauf ein Unternehmensmodell aufbauen. Dafür geben Sie dann locker 500000 Mark aus, und wenn diese Leute zurückkommen, hat sich das Unternehmen schon wieder verändert."

Die organisatorische Seite der Anwendungsentwicklung müsse sich im laufenden Betrieb regeln lassen - auch wenn ein Methoden-Experte darüber den Kopf schütteln sollte. "Ich bin eben ein Praktiker", kommentiert er seine Einstellung. Das Unternehmen brauche ablauforganisatorische Problemlöser und keine technischen Bürokraten. Methodisches Vorgehen sei selbstverständlich notwendig; doch wenn es dazu dienen soll, die Unternehmensprozesse zu optimieren, müsse es auch unter den jeweiligen Bedingungen des Unternehmens erfolgen - getreu dem Motto: "EDV schafft keine Ordnung, sondern setzt eine geschaffene Ordnung voraus."

Allerdings hat die KHD bereits seit mehr als zehn Jahren ein Repository - im damaligen Sprachgebrauch: Data-Dictionary - im Einsatz, nämlich den Data Manager von MSP. "Ich war damit nie ganz glücklich", gesteht Grapatin. "Ich vermutete damals schon, daß das vom administrativen Aufwand her auf Dauer nicht durchzuhalten sein würde."

Darüber hinaus habe er stets daran gezweifelt, daß ein einziges Repository alle Anwendungen abdecken könne.

Nach einiger Zeit trat dann das ein, was Grapatin befürchtet hatte: Die Standardsoftware-Lieferanten brachten eigene Dictionaries auf den Markt, die weit davon entfernt waren, einem Standard zu folgen. "Wenn Sie jetzt beispielsweise SAP-Software kaufen, dann rissen Sie deren Dictionary mitkaufen, weil sie ansonsten keine Wartung durchführen können", klagt der KHD-Manager. Folglich habe er derzeit mindestens sieben verschiedene Dictionaries im Haus, die mit Hilfe des Data Manager redundanzfrei und konsistent gehalten werden müssen.

Abgesehen von der SAP-immanenten Programmiersprache Abap4 haben Grapatin und seine Mitarbeiter für die Anwedungsentwicklung weder eine Fourth Generation Language (4GL) noch ein CASE-Tool zu Hilfe geholt. Der Systementwicklungsleiter sieht in den bisherigen CASE-Angeboten "nur einen Zwischenschritt", da sie lediglich den Prozeß der Code-Produktion beschleunige, ohne aber den Wartungsaufwand zu verringern. Nachteilig seien außerdem die hohen Kosten und die langen Anlaufzeiten: "Da sind Sie mehr als ein Jahr lang unterwegs, bis Sie zu einem Pay-back kommen."

Cobol auf dem absteigenden Ast

Bis Ende 1990 wurde bei der KHD - neben Abap4 - nur in Cobol entwickelt; und in weiten Bereichen der Software-Entwicklung, nämlich für die installierten Systeme, ist die Drittgenerationssprache immer noch im Einsatz. "Bei großen Anwendungen, zum Beispiel der Vertriebsabwicklung, sind wir quasi gezwungen, in Cobol zu verändern und weiterzuentwickeln", konstatiert Grapatin.

Zwar sieht der KHD-Manager Cobol "auf einem absteigenden Ast", doch glaubt er, daß es noch bis zur Jahrtausendwende dauert, bis die Programmiersprache aus dem Unternehmen verschwunden ist. Mit wirtschaftlichen Argumenten lasse es sich eben nicht begründen, alle Cobol-Anwendungen komplett neu zu entwickeln.

Standardpakete kein Allheilmittel

Selbstgestrickt sind bei der KHD ohnehin nur jene Applikationen, die, so Grapatin, "unser Firmen-Know-how ausmachen", beispielsweise technische Anwendungen, die genau auf die jeweilige Fabrik abgestimmt sind. "So etwas können Sie woanders einfach nicht kaufen", erläutert der Organisations- und Entwicklungsleiter.

Für Systeme, die in starkem Maße außengesteuert sind, etwa Personal- oder Rechnungswesen, hat Grapatin schon frühzeitig auf die Angebote der Standardsoftware-Industrie zurückgegriffen. Die vorgefertigten Anwendungspakete lieferten immerhin die Gewähr dafür, daß sich die Anwendung stets auf dem aktuellen Stand der Gesetzgebung befindet.

Als Allheilmittel will Grapatin den Einsatz von Standardsoftware jedoch nicht anpreisen: Zum einen gerate der Anwender "unwahrscheinlich schnell" in eine Abhängigkeit von den Methoden, Werkzeugen, Terminen und Kosten des Anbieters. Zum anderen lasse sich nur der Code von der Stange kaufen; der Aufwand für die notwendigen Anpassungen und das zugrundeliegende betriebswirtschaftliche Modell würden meist unterschätzt. Grapatins Fazit: "Standardsoftware entlastet nicht von der konzeptionellen Vorarbeit."

Klassische Teilung Programmierer - Analytiker

Konventionelle Cobol-Applikationen und Standardpakete von SAP beziehungsweise ADV/Orga sind immer noch die beiden Säulen, auf denen die Hauptlast der KHD-Systeme ruht. Mit dem Anwendungsentwicklungssystem Sapiens vom gleichnamigen Anbieter hat man jedoch seit etwa zwei Jahren eine dritte Stütze.

Grapatin hatte sich bereits Gedanken gemacht, wie sich die klassische Zweiteilung zwischen Programmierer und Systemanalytiker aufheben ließe. Das war für ihn die Voraussetzung dafür, weniger an den technischen Gegebenheiten und stärker an den Vorgängen innerhalb des Unternehmens orientiert zu arbeiten.

Die Fragen, die dabei mit den betroffenen Fachabteilungen zu diskutieren wären, lauten: Wie wird der Vorgang aufgebaut, wie läuft er ab, aus welchen Stadien setzt er sich zusammen? Anhand dieser Definitionen, so Grapatins Vorstellung, sollte dann eine betriebswirtschaftliche Logik aufgebaut werden, die sich "per Knopfdruck" in technische Statements umwandeln ließe.

Als Grapatin 1989 mit dem wissens- und objektbasierten "Sapiens" in Berührung kam, fand er seine Idee technisch umgesetzt. Ende 1990 wurde der Lizenzvertrag für die Anwendungsentwicklungs-Software unterschrieben. Zufällig stand gerade eine für das Unternehmen wichtige und sehr komplexe Anwendung, nämlich der Sales-Service-Bereich, zur Neurealisierung an. Den dafür notwendigen Aufwand hatte Grapatin gemäß der bisherigen Vorgehensweise auf drei bis vier Jahre geschätzt; vom Standpunkt des Marketing aus gesehen, war es jedoch erforderlich, die Applikation sehr viel früher zum Laufen zu bringen.

Eine Art von Kulturrevolution

Und da sprang Grapatin einfach ins kalte Wasser: Nachdem er sich der Unterstützung des Anbieters versichert hatte, setzte er für die Realisierung des Sales-Service-Systems kurzerhand Sapiens ein. Positive Erfahrungen machte er dabei vor allem wegen der gegenüber Cobol deutlich höheren Entwicklungsgeschwindigkeit und dem um ein Vielfaches niedrigeren Änderungsaufwand. Bis zum 1. November 1992, also nach einer Realisierungszeit von etwas mehr als einem Jahr, soll das Basissystem fertig sein.

Gewöhnungsbedürftig sei allerdings die für Sapiens erforderliche "abstrakte" Denkweise. Laut Grapatin findet derzeit "ein bißchen so etwas wie eine Kulturrevolution" statt: Die objektorientierte Vorgehensweise setze bei den Mitarbeitern ablauforganisatorisches Wissen voraus und stehe der von der prozeduralen Programmiersprache her gewöhnten anweisungsbezogenen Arbeitsweise diametral entgegen. Einige seiner Leute hätten damit - zumindest am Anfang - Probleme gehabt. Eine praktikable Lösung bestehe jedoch darin, diese Mitarbeiter zunächst in kleine Projekte einzubinden und ihnen Teilaufgaben zu geben, die sie selbständig in Zusammenarbeit mit den Fachbereichen bearbeiten können.

Daß Sapiens in Deutschland noch nicht sehr weit verbreitet ist, stört Grapatin wenig. Um nicht Gefahr zu laufen, ins DV-technische Abseits Zu geraten, habe er sich vom Anbieter allerdings zusichern lassen, daß das Sapiens-Dictionary an das Repository der IBM angepaßt würde. Seit Sapiens zum Kreis der AD/Cycle-Partner zählt, dürften sich solche Bedenken ohnehin zerstreut haben.

Das Unternehmen

Die auf die Produktion von Motoren, Industrieanlagen und landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen spezialisierte Klöckner-Humboldt-Deutz AG erzielte 1990 mit etwa 15 000 Mitarbeitern einen Konzernumsatz von 4,060 Milliarden Mark. Der Exportanteil am Umsatz betrug dabei 64 Prozent. Zum ersten Mal seit 1986 wurde 1990 wieder ein Überschuß erwirtschaftet: Die Bilanz weist einen Gewinn von 30 Millionen Mark aus.

Die Datenverarbeitung des Unternehmens ist mit einer konventionellen Hardwarekonfiguration ausgestattet. Sie besteht im wesentlichen aus einem IBM-Mainframe des Typs 9021-720 mit 260 MB Hauptspeicher und 117 MIPS sowie 2306 Bildschirmen und 464 Druckern. Darüber hinaus sind vier Mehrprozessor-Systeme von Tandem, nämlich eine Sechsprozessor-Maschine der VLX-Reihe und drei Doppelprozessor-Computer aus der CLX-Familie, sowie mehrere Leitrechner von DEC und SNI verfügbar. Auf der Datenbankseite komme neben IMS neuerdings verstärkt DB2 zum Einsatz. Historisch bedingt, sind Standardsoftware-Produkte sowohl von SAP (Rechnungswesen und Teile des PPS-Systems) als auch von ADV/Orga (Personalabwicklungs-System) im Haus. Für die Neuentwicklung wird die Anwendungsentwicklungs-Software Sapiens benutzt, für schnelle Auswertungen das SAS-System.