Alle Kernsysteme laufen unter Linux

02.09.2005
Als erstes deutsches Versicherungsunternehmen hat die Rheinland Versicherung ihre gesamten Bestandsführungssysteme auf einem IBM-Großrechner nach Linux migriert.

Vor vier Jahren liefen bei der Rheinland Versicherung die Kernanwendungen in den Bereichen Komposit- und Lebensbestandsführung, Schadenbestandsführung, Provisionierung und anderen Back-Office-Systemen wie Data Warehouse und Rechnungswesen auf verschiedenen heterogener Plattformen. Um die Komplexität zu verringern und die Unterhaltskosten zu senken, beschloss das Unternehmen, den Anwendungspark zu konsolidieren und in eine neue IT-Welt zu überführen.

Steckbrief

Projektart: Konsolidierung heterogener Plattformen auf einem IBM-Großrechner, System- und Datenmigration.

Branche: Versicherung.

Zeitrahmen: seit 2003.

Stand heute: läuft produktiv.

Aufwand: 10 400 Manntage, davon 2175 Tage durch externe Kräfte.

Produkte: IBM z990

Ergebnis: vereinfachter Rechenzentrumsbetrieb, geringerer Datensicherungsaufwand und reduzierte Kosten.

Herausforderung: Migration großer Altdatenbestände, Schnittstellen zu den verbliebenen Altanwendungen.

Nächster Schritt: Migration weiterer Altanwendungen.

Mehr zum Thema

www.computerwoche.de/go/

*80288: Tool analysiert Cobol-Anwendungen;

*78352: Infineon baut am ultimativen IT-System;

*73875: Banken kämpfen mit IT-Altlasten;

*66526: Mainframe-Spezialisten sterben aus.

Kernanwendungen auf Oracle

Dabei konnte Erich Pfeifer, Bereichsleiter IT und Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung, jedoch nicht auf der grünen Wiese beginnen. So setzt die in Neuss beheimatete Versicherungsgruppe für die KFZ-Bestandsführung seit 1998 das plattformunabhängige und spartenübergreifende Bestandsführungs- und Informationssystem Icis (Insurance Company Information System) von Debis, heute T-Systems ein. Zudem hat der mittelständische Versicherer diese Basissoftware über die Jahre stark an seine Bedürfnisse angepasst und weiterentwickelt. Gleiches gilt für das neue Bestandsführungssystem im Bereich Lebensversicherungen, das im Jahr 2002 vom Schweizer Versicherungskonzern Generali zugekauft wurde. Beide Kernanwendungen basieren auf Oracle-Datenbanken.

Zahlreiche Altanwendungen

Dem steht eine Vielzahl gewachsener Altanwendungen wie die SHU-Bestandsführung (Verwaltungssystem für Sach-, Haftpflicht- und Unfallversicherungen) gegenüber, die unter IBMs Mainframe-Betriebssystem VM/ VSE auf Basis einer hierarchischen Datenbank und der Anwendung von Cics und Cobol betrieben werden. "Bei der Konsolidierung der Hardwareplattformen standen wir vor der Wahl, eine Unix-Plattform beispielsweise von HP oder Sun einzuführen oder aber den Schritt zu einem IBM-Großrechner der z-Serie unter Linux zu wagen", erinnert sich Pfeifer an die Entscheidungsphase im Jahr 2003.

Bei der Kalkulation der Kosten stellte sich schnell heraus, dass die Anschaffung entsprechender Unix-Server im Vergleich zu einem Mainframe unter Linux mit erheblichem finanziellem Mehraufwand verbunden gewesen wäre. Für den IBM-Großrechner habe außerdem dessen Ausfallsicherheit gesprochen, so Pfeifer. Die 2001 angeschaffte "z800" entpuppte sich allerdings als ungeeignet, weil sie Linux-seitig auf drei Prozessoren beschränkt ist und somit für den Betrieb der Kernanwendungen mit mehreren hundert Usern zu schwach war. Ende 2003 holte sich die Versicherung daher eine "z990" ins Haus. Sie skaliert auf bis zu 32 Prozessoren. Den Mainframe koppelte die Versicherung mit der z800, auf der die verbliebenen Altanwendungen unter VSE auch derzeit noch laufen.

Anschließend begann das Unternehmen, seine Anwendungen für das Rechnungswesen, das Data Warehouse samt Auswertungsapplikationen sowie das Bestandsführungssystem Icis im Rahmen einer Systemmigration zu portieren. Seit März 2004 laufen diese Programme auf einer Oracle-Datenbank Version 9iR2 unter zLinux/390 auf einem z990-Großrechner.

Im Juni dieses Jahres wurde mit der SHU-Bestandsführung im Zuge einer Daten- und Systemmigration eine weitere zentrale VSE-Anwendung portiert. Somit hat die Rheinland Versicherung alle wichtigen Kernsysteme in die neue Welt geholt, lediglich die Anwendungen für die Schaden- und Provisionsbearbeitung sowie die Lebensbestandsführung für das Inlandsgeschäft laufen noch unter VSE auf der z800.

Alleine für die Ablösung der bisher auf der z800 unter VSE betriebenen SHU-Bestandsführung und die Migration in das Bestandsführungssystem Icis wurden binnen mehr als drei Jahren rund 600000 Versicherungsverträge und 80 Millionen Datensätze übertragen. An dem Vorhaben waren etwa 90 Mitarbeiter aus 20 verschiedenen Abteilungen beteiligt, der Gesamtaufwand belief sich auf 10 400 Manntage, wovon 2175 Tage auf externe Kräfte entfielen. Die Umstellung war kein reines IT-Projekt, sondern außerdem mit zahlreichen organisatorischen und fachlichen Neuerungen verbunden. Pfeifer sieht die intensive Einbindung der Fachabteilungen als wichtigen Erfolgsfaktor.

Neben der Datenmigration und der Erweiterung von Kernfunktionen der Icis-Bestandsführung lag die größte Herausforderung in der Bereitstellung der Schnittstellen zu den verbliebenen Altanwendungen. Viele Schnittstellentests konnten erst relativ spät vorgenommen werden, da zuvor der umfangreiche Altdatenbestand bereinigt, angereichert und migriert werden musste. Die lange Projektlaufzeit von 43 Monaten sei dagegen kein großes Problem gewesen. "Wir haben immer darauf geachtet, die Übergänge so weich wie möglich zu gestalten", erklärt der IT-Bereichsleiter.

Deutlich weniger Kosten

Insgesamt ist Pfeifer mit dem Projektverlauf, einer Mischung aus System- und Datenmigration, hochzufrieden. Die Vorteile der neuen Umgebung lägen nicht nur in der verbesserten Skalierbarkeit. Durch die erfolgreiche Konsolidierung könne das Unternehmen nun wesentlich schneller und flexibler auf die vielen Veränderungen im Versicherungswesen reagieren. Außerdem habe sich der Rechenzentrumsbetrieb vereinfacht und der Datensicherungsaufwand erheblich verringert. Das schlägt sich auch auf der Kostenseite positiv nieder. So liegt der durchschnittliche DV-Kostensatz deutscher Versicherungsunternehmen mit einem Beitragsaufkommen von 500 Millionen bis einer Milliarde Euro laut GDV (Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft) bei 3,05 Prozent. Dagegen gibt die Rheinland Versicherungsgruppe lediglich 1,66 Prozent der Beiträge für ihre IT aus.

Dennoch hat die IT-Abteilung der Neusser Versicherungsgruppe noch einiges vor: "Trotz erfolgreicher Systemumstellung und Bestandsmigration werden wir bis zum Jahreswechsel noch Fehler aus der Systemeinführung bereinigen", kündigt Pfeifer an. Anschließend wolle man den Weg der Systemkonsolidierung konsequent weitergehen. Dabei sind die VSE-Applikationen Schadenbestandsführung und Provisionierung die nächsten Anwendungen, die in die neue Systemumgebung überführt werden sollen.