Das Verhältnisdes deutschen Mittelstands zur IT Infrastructure Library (ITIL) ist zumindest gespalten. Viele kleinere und mittlere IT-Organisationen halten das im IT-Service-Management (ITSM) mittlerweile gut etablierte Regelwerk für überdimensioniert. Das bestätigt eine Studie der MSG Services AG, die auf einer Befragung von fast 300 Firmen mit einem Jahresumsatz zwischen 25 und 200 Millionen Euro fusst. Ihr zufolge resultiert die Skepsis der Mittelständler vor allem aus der komplexen Gestalung der ITIL-Prozesse und aus der daraus abzuleitenden langen Projektdauer.
Nur 39 Prozent der befragten IT-Manager äußerten die Auffassung, dass sich die Einsatzbedingungen für ITIL im Mittelstand und in Großunternehmen nicht wesentlich unterscheiden. Ein Drittel der IT-Verantwortlichen sieht jedoch deutliche Einschränkungen bei der Eignung für kleinere Betrieb. Und ein Fünftel hält das Famework für Mittelstands-ungeeignet.
Fundierte Einschätzungen
Diese Einschätzungen beruhen augenscheinlich auf einer intensiven Auseinandersetzung mit ITIL. Jeder zweite Studienteilnehmer hat eigenen Angaben zufolge praktische ITIL-Erfharungen. 37 Prozent können eine persönliche ITIL-Zertifizierung vorweisen. Zur Meinungsfindung beigetragen haben häufig auch der Besuch von Fachveranstaltungen (41 Prozent) und Recherchen in der Fachliteratur (44 Prozent). 32 Prozent haben ITIL-erfahrene Kollegen befragt, und immerhin 23 Prozent bereits ein oder mehrere ITIL-Bücher durchgearbeitet.
Ein Großteil der Befragten hatte auch schon im eigenen Unternehmen Kontakt zu ITIL. Jeder dritte der teilnehmenden Betriebe hat bereits ein IT-Service-Management-Projekt auf der Grundlage des Frameworks in Angriff genommen. Und in jedem zweiten Untenrehmen wurdne die IT-Mitarbeiter im Umgang mit der Best-Practices-Sammlung geschult. Verschiedentlich kam das Regelwerk auch als konzeptionelle Hilfe für unternehmenseigene Prozessansätze zum Einsatz.
"In unseren Marktkontakten stellen wir im Regelfall keine pauschale Kritik gegenüber ITIL fest", besätigt Christian Boellert, Vorstand bei MSG Services, "sondern wir treffen meist auf eine sehr differenzierte Sicht." ITIL werde von den meisten ITSM-Experten sogar "mit großem Respekt bewertet".
Wo es bei ITIL hapert
Laut Boellert haben die Vorbehalte der mittelständischen Anwender meist einen "pragmatischen" Kern. Sie bezögen sich vor allem auf das "zu umfassend angelegte und deshalb zu wenig mittelstandsgerechte Prozessdesign" - einschließlich der Konsequenzen, die das für die IT-Organisaitonen der kleineren Unternehmen hat.
- Sechs Tipps zum Umgang mit Regelwerken
ITIL, CoBIT, Togaf & Co. haben durchaus ihren Sinn. Aber eine zu enge und unkritische Ausrichtung auf solche Standards wird den individuellen Anforderungen der Unternehmen oft nicht gerecht. - Tipp 1:
Lassen Sie sich nicht von einem Regelwerk vereinnahmen, sondern entwickeln Sie eine kritisch-konstruktive Distanz dazu. - Tipp 2:
Versuchen Sie nicht, individuelle Erfordernisse des Unternehmens in den Standard eines Methodenwerks zu pressen. - Tipp 3:
Definieren Sie ein unternehmensspezifisches Framework und übernehmen Sie nur die Teile aus den Regelwerken, die nützlich sind und verstanden werden. Beachten Sie dabei die Pareto-Regel (mit 20 Prozent Aufwand 80 Prozent der Dinge regeln), damit keine zu komplizierte Frameworks entstehen. - Tipp 4:
Entwerfen sie zum Unternehmen passende Prozesse, zum Beispiel mit der "Wertschöpfungsmaschine" von Andreas Suter oder der Business-Engineering-Methode von Hubert Österle. - Tipp 5:
Bestehen Sie auf klaren und präzisen Begriffsdefinitionen. Prüfen Sie Ihre Definition, indem sie drei Stakeholder/Experten aus Ihrem Unternehmen nach deren Interpretation fragen. Wenn jeder etwas anderes interpretiert, taugt die Begriffsdefinition nicht. - Tipp 6:
Greifen Sie bei Servicedefinitionen auf fundierte und konkrete Werke zum IT-Produkt-Management oder Service-Engineering zurück (beispielsweise von Harry Sneed, Tilo Böhmann oder Klaus-Peter Fähnrich).
Neben dem Komplexitätsaspekt kristallisierten sich auch der zu erwartende Projektumfang und der hohe Consulting-Bedarf sowie die für Mittelstandsunternehmen wenig geeignete methodische Struktur des Regelwerks als Kritikpunkte heraus. Zwei von fünf Teilnehmern befürchten einen größeren internen Ressourcenbedarf und einen gesteigerten Schulungsaufwand durch ITIL.
Ausweg aus dem Dilemma
Im Grunde hilfreich, aber zu aufwändig, so lautet das Fazit der Mittelständler. Folgerichtig plädierte fast die Hälfte der Befragten für eine offizielle "Light-Version" des Regelwerks. Auch eine ergänzende Einführungsmethodik könnte aus der Sicht von 45 Prozent der Teilnehmer dazu beitragen, ITIL attraktiver für den Mittelstand zu machen. Als weiteren möglichen Ansatz, um das Regelwerk auf die Bedürfnisse er Unternehmen mit bis zu 100 IT-Mitarbeitern zuzuschneiden, nannten 42 Prozent eine verstärkte Beraterunterstützung.
Doch diesen Weg erachtet Boellert als wenig realistisch, weil es ja unter anderem der hohe und kostenintensive Beratungsbedarf sei, den der Mittelstand im Zusammenhang mit ITIL kritisiere. Im Übrigen zweifle er, ob es der richtige Ansatz sei, die komplexen Prozessbeschreibungen einfach nur zu reduzieren. Seiner Ansicht nach weist der Mittelstand von vorn herein ganz andere prozessuale Bedingungen aus als ein Großunternehmen. Demzufolge hält er es für sinnvoll, ein Regelwerk mit mittelständischem Fokus ganz neu aufzusetzen: "Man kann ja auch nicht ein Mehrfamilienhaus zu einem bedürfnisgerechten Einfamilienhaus downsizen, indem überflüssige Stockwerke einfach beseitigt werden. Dafür unterscheiden sich die architektonischen Konzepte zu sehr." (qua)