IT in der Prozessindustrie

Ziel: Eine lückenlose Wertschöpfungskette

24.07.1998

Wie andere Industriesegmente sieht auch die Prozeßindustrie in einem integrierten Workflow den Schlüssel zur erfolgreichen Erfüllung der Kundenanforderungen und zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit. Einsparungen bis zu 25 Prozent, schätzen Experten der Competence-Centers großer IT-Dienstleister, kann die Integration von Beschaffung, Produktion und Distribution bringen.

Das liest sich schön, ist aber nicht so einfach zu realisieren. Traditionell sind in Unternehmen mit Fließfertigung informationstechnisch die Prozeßleitwelt und die kommerzielle Ebene strikt getrennt. Die Übertragung der für die diskrete Fertigung entwickelten PPS-Systeme wie auch ehrgeizige Integrationsprojekte endeten häufig in Frustration, weil die erhofften Resultate ausblieben. Schon bei Produktionsplanung und -steuerung sind die Anforderungen der Prozeßfertiger vielfältiger und komplexer als in anderen Fertigungssegmenten", weiß Karl-Josef Thewes. Der Geschäftsbereichsleiter für die chemisch-pharmazeutische Industrie bei IDS Prof. Scheer in Saarbrücken, einem Anbieter eines Leitstandes für die Prozeßindustrie und Entwicklungspartner der SAP bei dem speziell auf die Belange von Chemie- und Pharmaunternehmen ausgerichteten R/3-Modul PP-PI, ergänzt: "Die Unterstützung der gesamten Logistikkette in der Prozeßindustrie ist heute eine der anspruchsvollsten IT-Aufgaben überhaupt."

Im Unterschied zur diskreten Fertigung handelt es sich bei der Prozeßfertigung in der chemischen, pharmazeutischen, kosmetischen, der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie generell um verfahrenstechnische Vorgänge und chemische Reaktionen, die den Wert der Ausgangsstoffe verändern. Hieraus resultieren spezielle Anforderungen, die sich in einigen Bereichen grundlegend von anderen Fertigungsindustrien unterscheiden:

Zentrales Objekt in der Prozeßindustrie sind nicht Teile oder Stücke, sondern Stoffe, für deren Verarbeitung und Lagerung zusätzliche Parameter wie Temperatur, Druck, Verfall, chemische Reaktionen und Mengeneinheiten berücksichtigt werden müssen. Die Herstellrezeptur ist stoff- und mengenabhängig.

Bei der Fertigung eines Produktes entstehen häufig Kuppel-, Neben- oder Recycling-Erzeugnisse, die es zusätzlich sowohl im Material- als auch im Wertefluß abzubilden gilt. Die Ausgangsmaterialien haben häufig lange Beschaffungszeiten und schwankende Qualitätseigenschaften. Die teils restriktiven und häufig geänderten Gesetzesvorschriften, Umweltauflagen und strengen Regeln im Warenverkehr stellen hohe Ansprüche an die Qualitätssicherung, Rückverfolgbarkeit der Herstellung (Chargenprotokoll über alle Stufen hinweg), die Lagerung und den Transport.

Kräftige Bewegung im Softwaremarkt

Die Forderung der Anwender nach vertikaler und horizontaler Integration hat den Softwaremarkt für die Prozeßindustrie in den vergangenen drei Jahren kräftig in Bewegung gebracht. Zum einen etablierten sich eine Reihe von Nischenanbietern mit teils hochspezialisierten Add-on-Systemen, etwa für die Feinsteuerung der Prozesse, die Qualitätssicherung und Dokumentation, mit denen sich funktionale Lücken herkömmlicher PPS-Systeme schließen lassen. Auf der andern Seite haben neben den Prozeßspezialisten wie Marcam und Ross auch die großen ERP-Anbieter die Prozeßindustrie als interessante Zielgruppe entdeckt. Ihr Anspruch besteht in der Abbildung aller Geschäftsprozesse vom Einkauf über Produktion, Logistik und Vertrieb bis zu den Finanzen. Ziel ist eine über Landes- und Unternehmensgrenzen hinweg durchgängige Wertschöpfungskette im Sinne eines innovativen Supply Chain Ma- nagements, das Kunden, Zulieferer und Dienstleister einschließt.

In einer umfangreichen Studie, die voraussichtlich Ende August im Verlag IT Research erscheinen wird, hat die Dr. Böhmer, Uhrig & Partner Beratungsgesellschaft für Informations- und Prozeßmanagement (BU&P) aus Dreieich bei Frankfurt das Software-Angebot für die Prozeßindustrie unter die Lupe genommen.

Neben einer ausführlichen Beschreibung der Anforderungen enthält die Arbeit mehrere Kapitel zur Bewertung der marktrelevanten Systeme. "Kein Anbieter deckt derzeit bereichsübergreifend sämtliche Anforderungen ab oder erfüllt gar die Erwartungen an die Integration aller Marktpartner", resümiert Mit-Autor Bernd Kox.

SAP hat im Rahmen des von der EU geförderten Capisce-Projektes bereits 1992 mit Arbeiten zur integrierten Planung und Automatisierung aller Produktions-, Entsorgungs- und Transportabläufe begonnen. Im Mittelpunkt stand die Abbildung der Produktstrukturen in der Prozeßindustrie und die Anbindung betriebswirtschaftlicher Systeme an die Prozeßleitebene. Das R/3-Modul PP-PI (Produktionsplanung für die Prozeßindustrie) ist, inzwischen in Ausprägungen für Chemicals, Pharmaceuticals und Consumer Products, seit 1995 verfügbar. Laut SAP ist R/3 rund 2700mal in der Prozeßindustrie installiert. Die Funktionsbreite und -tiefe von R/3 wird in der ERP-Studie als "sehr groß" eingestuft.

Spezialisten positionieren Subsysteme als Add-onsPositiv bewerten die Autoren auch die vielfältigen Schnittstellen für den Zugriff beziehungsweise Import von Daten oder die direkte Kommunikation mit externen Anwendungen. Gleichwohl vermissen Anwender zur Zeit etliche branchenspezifische Funktionen wie Kampagnenplanung, Gebindeverwaltung oder auch die komfortable Handhabung von Aufträgen. Für Spezialisten im Leitstandsumfeld oder im Bereich der Prozeßleitsysteme gibt es Möglichkeiten, ihre Subsysteme als Add-ons zu positionieren.

Nachgezogen mit der Entwicklung eines Branchenpaketes hat Baan, eher bekannt als Spezialist für Software zur diskreten Fertigung. Seit zwei Jahren wird Baan Process ausgeliefert. Die Niederländer erheben den Anspruch, die gesamte Versorgungskette abdecken zu können - vom Rohstofflieferanten bis zum Endverbraucher. Die Einschätzung von BU&P: "Dieses Modul bietet die grundsätzliche Funktionalität für die Prozeßfertigung, ohne mit den Paketen der Spezialisten für dieses spezielle Bedarfsprofil voll mithalten zu können." Mit dem für Herbst angekündigten Nachfolgeprodukt Baan Series soll die Funktionalität - etwa um die Verwaltung von Konsignationslägern - erweitert werden. Baan hat für die Feinsteuerung einen Prozeßleitstand integriert und bietet zudem standardisierte Schnittstellen für die Kopplung mit Subsystemen.

Mit der Übernahme des auf Fließfertigung spezialisierten Software-Anbieters Datalogix im Herbst 1996 signalisierte Oracle wachsendes Interesse an diesem Marktsegment. Das Datalogix-Produkt "Gemms" wird als Branchenmodul "Process Manufacturing" der "Oracle Applications" weiter vermarktet und deckt die Kernfunktionen der chemisch-pharmazeutischen Industrie vom Einkauf über Fertigung bis zum Vertrieb ab. Lagerverwaltung, Laborinformationssystem und Leitstand gehören dazu.

Speziell für die Konsumgüterindustrie hat der Datenbankspezialist das Lösungspaket "Consumer Packaged Goods" (CPG) geschnürt, das neben "Oracle Pro- cess Manufacturing" und "Oracle Financials" zudem Partnerprodukte von Manugistics (Planung), Industrie-Mathematik International (Auftragsbearbeitung) und Indus (Instandhaltung) einbindet. Die dadurch erreichte große Funktionstiefe, so die Studie, müsse jedoch derzeit noch durch unzureichende Integration erkauft werden. Als Stärke werden in der Studie die mächtigen Fore- cast-Funktionen und die Möglichkeit zur Verarbeitung von Scannerdaten gewertet.

Zu den ERP-Anbietern, die Spezialpakete anbieten, zählen auch Qad sowie J.D. Edwards und SSA, beides Unternehmen aus der AS/400-Welt. Insgesamt decken sie die Kernanforderungen ab, haben jedoch Defizite in der Anbindung von Fremdprodukten und generell zuwenig Beratungspartner, die Anwender bei der Einführung von Systemen unterstützen könnten.

Marcam ist als reiner Prozeßspezialist der größte Mitbewerber für klassische ERP-Anbieter. Die beiden Produkte "Prism" (AS/400) und das modernere, objektorientierte "Protean" (NT, Unix) sind ausschließlich für die Prozeßindustrie konzipiert. Entsprechend gut ist die Abdeckung der Branchenspezifika. Chargenverwaltung, Kampagnenplanung, Abbildung von Rezepturen und Herstellanweisungen sind von Grund auf im Softwaredesign berücksichtigt. Protean besitzt noch nicht den vollen Funktionsumfang von Prism, der US-Hersteller arbeitet aber mit Hochdruck an der Erweiterung. Derzeit sind die Module für Produktionsplanung- und Steuerung inklusive Ressourcenverwaltung, Instandhaltung und seit kurzem auch das mit NEC entwickelte Finanzmodul fertig. Für diesen Sommer ist die Auslieferung des Vertriebsmoduls angekündigt.

Die meisten großen Chemie- und Pharmaunternehmen setzen derzeit strategisch auf SAP und damit auf R/3. Doch räumen Analysten auch den Mitbewerbern, die ihre Systeme klar auf die Anforderungen der Branche ausrichten und das Angebot erweitern, gute Chancen ein. In diesem Zusammenhang ist bei den Spezialisten eindeutig der Trend erkennbar, eher die Nähe zu SAP R/3 über zertifizierte Schnittstellen zu suchen, als sich strikt gegen den absoluten Marktführer abzugrenzen. "Eine fundierte Auswahl lohnt sich," meint Werner Barbe, Leiter des neu eingerichteten Branchenzentrums Prozeßindustrie von CSC Ploenzke, "denn bezüglich Leistungsfähigkeit und Kosten bei der Einführung unterscheiden sich die Pakete teils erheblich." Eine möglichst umfassende und vollständige Integration der DV-Systeme ist dabei seiner Einschätzung nach gar nicht immer sinnvoll. Wichtig seien Schnittstellen zur einfachen und effizienten Anbindung von Subsystemen auf der Prozeßleitebene. Und, als Voraussetzung für eine höhere Wertschöpfung, die konsequente Neugestaltung der Geschäftsprozesse. Als größte Teilbranche der produzierenden Industrie in Europa ist die Prozeßindustrie für Service- wie für Software-Anbieter auf jeden Fall eine interessante Kundschaft.