Globalisierung

Zehn Irrtümer, die für Unternehmen gefährlich werden

07.02.2013
Von Professor Dr. Pankaj Ghemawat
Viele Menschen überschätzen die Globalisierung und ausgerechnet Firmenchefs liegen besonders stark daneben. Der renommierte Ökonom Pankaj Ghemawat erklärt in zehn Punkten, was Spitzenmanager über die Globalisierung wissen sollten, um ihr Geschäft in der Krise nicht weiter zu gefährden.

Irrtum Nr. 1: Wir leben in einer völlig globalisierten Welt

Trotz all der Aufregung darüber, dass wir angeblich schon in einer völlig globalisierten Welt leben, hat die Globalisierung gerade erst einen Grad zwischen zehn und zwanzig Prozent erreicht. Lediglich zwei Prozent aller Telefongespräche werden über nationale Grenzen hinweg geführt. Nur drei Prozent aller Menschen leben außerhalb des Landes, in dem sie geboren wurden. Exporte machen nicht einmal 20 Prozent des Weltsozialprodukts aus. (Weitere, detaillierte Daten dazu in meinem Buch "World 3.0: Global Prosperity and How to Achieve It", Harvard 2011).


Irrtum Nr. 2: Wir kennen uns in der Welt aus

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Die meisten Menschen überschätzen durchgängig den Grad der grenzüberschreitenden Vernetzung und unterschätzen die Bedeutung von geografischer Entfernung sowie kulturellen Unterschieden. In einer Umfrage der Harvard Business Review schätzten die Leser den Anteil internationaler Telefongespräche am Gesamtvolumen aller Telefonate auf 29 Prozent, der Migranten an der Gesamtbevölkerung auf 22 Prozent, den der ausländischen Direktinvestitionen auf 32 Prozent der gesamten Anlageinvestitionen und den der Exporte auf 39 Prozent des Weltsozialprodukts - und lagen damit im Schnitt über dem Dreifachen des tatsächlichen Werts. Diesen Hang zur Übertreibung nenne ich "Globaloney" oder Globalisierungs-Humbug.

Irrtum Nr. 3: Erfahrung bietet Schutz vor Fehleinschätzung

Erfahrung und Rang schützen nicht vor der Tendenz zur Übertreibung - im Gegenteil, sie verstärken sie noch. In der erwähnten Umfrage kamen Manager mit über zehn Jahren Berufserfahrung auf einen Durchschnittswert von 33 Prozent und CEOs - das muss ich leider erwähnen - verschätzten sich noch deutlicher: Sie kamen auf 38 Prozent! Manager kommen also nicht umhin, sich mit den tatsächlichen Fakten auseinanderzusetzen (mehr dazu unter Punkt 10).

Irrtum Nr. 4: Geografische Distanz zählt heute nicht mehr

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Internationale Wechselbeziehungen sind nicht nur begrenzt, sie bestehen auch vornehmlich zwischen Ländern, die nahe beieinander liegen. Entsprechend finden 50 bis 60 Prozent aller beschriebenen internationalen "Bewegungen" von Migranten, Informationen, Sachinvestitionen und Produkten innerhalb von Kontinenten statt. Für Europa liegen diese Zahlen sogar noch höher, weil wir hier in einer hervorragend vernetzten Region leben. Und selbst Deutschland als "Export-Vizeweltmeister" exportiert zu 60 Prozent in andere EU-Länder. Rechnet man das restliche Europa und die Türkei hinzu, so steigt diese Zahl gerade mal auf 65 Prozent.

Irrtum Nr. 5: Deutschland ist international bestens aufgestellt

Wenn wir anschauen, wo der Schwerpunkt des Weltsozialprodukts liegt, so ist er seit 1980 von der Mitte des Atlantiks gen Westen gewandert, lag 2008 bei Izmir (Türkei) und wird, wenn sich die Vorhersagen bestätigen, etwa 2050 an der Chinesisch-Indischen Grenze ankommen. Europa wird durch diese Verschiebung als (relativ gesehen) größter Verlierer dastehen. Umso wichtiger ist es für die CEOs deutscher Unternehmen, ihre Handelsaktivitäten außerhalb Europas deutlich zu verstärken.

Irrtum Nr. 6: Qualitäts-Produkte "Made in Germany" erobern die Welt von allein

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Viele Unternehmen entwickeln ihre Strategie zu den Wachstumsmärkten in Asien in der Überzeugung: "Da müssen wir hin, weil es dort viele Chinesen und Inder gibt".
Doch sowohl China als auch Indien sind kulturell, administrativ (was die Spielregeln betrifft), wirtschaftlich und geografisch weiter von uns entfernt als die europäischen Märkte, in denen sich deutsche Unternehmen gut auskennen.

All diese Varianten von "Entfernung" sind aber enorm wichtig: Länder handeln um 42 Prozent mehr miteinander, wenn sie eine gemeinsame Sprache sprechen, 47 Prozent mehr, wenn sie derselben Handelszone angehören, 114 Prozent mehr, wenn sie eine gemeinsame Währung haben, 188 Prozent mehr, wenn ein Land das andere in der Vergangenheit kolonialisiert hat. Umgekehrt ist es umso schwieriger, in die Märkte von Ländern vorzudringen, mit denen es kaum Gemeinsamkeiten gibt.

Irrtum Nr. 7: Eine bewährte Strategie greift überall

Selbst in relativ nah verwandten Ländern entstehen Herausforderungen, die CEOs nicht ignorieren sollten. Als Wal-Mart's damaliger CEO Lee Scott 2004 gefragt wurde, warum er glaube, das Unternehmen könne auch außerhalb der USA erfolgreich sein, erwiderte er, Kritiker hätten auch schon seine Expansion von Arkansas nach Alabama angezweifelt. Wer internationale Unterschiede derart trivialisiert, anstatt sie in seiner Strategie zu berücksichtigen, bzw. Nutzen aus ihnen zu ziehen, wird scheitern.

Eine strategische Ausrichtung, die im Heimatmarkt funktioniert, ist international üblicherweise erfolglos. Der Leiter von Wal-Mart Deutschland gab nach der Schließung reumütig zu: "Uns war nicht klar, dass es in Deutschland andere Größen für Kopfkissenbezüge gibt". Und Deutschland ist den USA kulturell, administrativ, wirtschaftlich und geografisch noch weit näher als China oder Indien.

Irrtum Nr. 8: Großkonzerne agieren wirklich global

Wal-Marts Verwurzelung in seinem Heimatmarkt - der immer noch 75 Prozent seiner Erträge erwirtschaftet - ist durchaus nicht ungewöhnlich. Ähnliches lässt sich bei anderen Unternehmen feststellen, selbst bei großen Konzernen. Von den `Fortune 500` Unternehmen erzielen 88 Prozent mehr als die Hälfte ihrer Verkäufe in den Heimat-Regionen.

Dasselbe gilt für die deutschen Konzerne: die Allianz erwirtschaftet 78 Prozent ihrer Prämien-Einkünfte in Europa, die BASF 55 Prozent, die Deutsche Bank hält hier 67 Prozent ihres Kreditportfolios. Der Daimler-Konzern bildet eine große Ausnahme: er macht jeweils mindestens 20 Prozent seines Umsatzes in der Triade Nordamerika, Europa und Asien - obwohl auch hier Europa mit über 40 Prozent herausragt. Lediglich zwei Prozent aller ´Fortune 500´ Unternehmen sind so "tri-regional" aufgestellt wie Daimler.

Irrtum Nr. 9: Globale Großkonzerne verdrängen kleinere Unternehmen

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Wenn man Prognosen anschaut die besagen, dass Deutschlands Anteil am Weltsozialprodukt bis zum Jahr 2030 von fünf auf drei Prozent zurückgehen wird, und das der EU von 26 auf 20 Prozent, so entsteht hier offensichtlich großes Potenzial, den Handel mit weiter entfernten Regionen zu intensivieren. CEOs, die die Kriterien von Punkt 6 in ihre Unternehmensstrategie einbeziehen, haben größere Chancen, dieses Potential tatsächlich zu nutzen. Davon profitiert zum einen die Weltwirtschaft. Darüber hinaus besänftigt dies Ängste daheim.

Kürzlich ergab eine Umfrage des YouGov/Policy Network, dass die Menschen in Deutschland, Großbritannien und den USA insbesondere fürchten, Großkonzerne könnten kleine Unternehmen völlig verdrängen. Wie ich aber in meinem Buch World 3.0 belege, ist genau das Gegenteil der Fall: in den meisten Fällen verringert ein Mehr an Globalisierung sogar Marktkonzentration. Da die deutsche Wirtschaft relativ stark vom Handel abhängig ist - Deutschlands Handelsintensität liegt etwa dreimal so hoch wie die der USA - haben deutsche Unternehmen hier viel zu gewinnen.

Irrtum Nr. 10: Topmanager kennen sich in der Welt hervorragend aus

Wissen die Manager, die in Ihrem Unternehmen an den Schaltstellen sitzen, wie globalisiert, bzw. semiglobalisiert die Welt wirklich ist? Verfügen diese Leute über den notwendigen Weitblick, wenn es darum geht, sich in neuen Märkten zu vernetzen? Denken sie kreativ genug, um die Herausforderungen großer Distanzen mit ihrer Strategie bewältigen zu können? Sind sie darauf vorbereitet, sich an der Debatte um die sozialen Konsequenzen von Globalisierung zu beteiligen?

Am Besten sollten Sie diese Fragen zunächst für sich selbst beantworten. Wie ich in Punkt 3 erläutert habe, kann es für jede Führungskraft nur von Vorteil sein, wenn sie die Fakten selbst genau kennt. (Quelle: Wirtschaftswoche)