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WTO muß weltweiten E-Commerce regeln

24.11.1999
Sollen Zölle und Steuern wegfallen?

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Vor einer ausgesprochen schwierigen Aufgabe steht die Welthandelsorganisation (WTO) bei ihrem Treffen in Seattle, Washington, in der kommenden Woche: Sie muß mittelfristig Regeln für den globalen elektronischen Handel aufstellen und dabei unterschiedlichste lokale Interessen und Ansichten berücksichtigen. "Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir schwerwiegende Entscheidungen fällen müssen, mit denen wir eine lange Zeit leben werden", verdeutlicht James Lucier von Prudential Securities den Ernst der Lage. Die Kernfrage lautet: Was passiert mit Steuern und Zöllen im E-Commerce-Zeitalter?

Auf der einen Seite stehen die Lobbyisten der USA, die die Interessen von IT-Branchengrößen wie America Online (AOL), AT&T oder Microsoft vertreten. Diese pochen laut einem Bericht von "News.com" seit geraumer Zeit darauf, daß die WTO ihr 1998 verfaßtes Moratorium zu Abgaben auf elektronische Transaktionen dauerhaft festschreibt. Dies würde im wesentlichen einen Verzicht auf Zölle sowie auf die Klassifizierung elektronischen Handels als Dienstleistung bedeuten. Damit wäre aus Sicht der Amerikaner der Weg frei für einen gigantischen Markt mit einem geschätzten Umsatz von fünf Billionen Dollar im Jahr 2005.

Solch einem ungebremsten Wirtschaftsliberalismus stehen im Rest der Welt jedoch begründete Bedenken und Traditionen entgegen. Diese gewinnen zunehmend an Bedeutung, weil das Internet-Wachstum in Lateinamerika und Europa das der USA vermutlich schon in den kommenden Jahren hinter sich lassen wird. Auch Schwellen- und Drittweltländer haben begründete Bedenken gegen einen Wegfall der gewohnten Handelsschranken. Erik Olbeter, Internet-Analyst bei Charles Schwab, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß viele Staaten auf Zolleinnahmen angewiesen seien und diese deswegen auch nicht abschaffen würden. Indien beispielsweise bestreite 18 Prozent seiner Einkünfte aus Zöllen.

Zahlreiche Länder würden sich bei dem prognostizierten Wachstum des elektronischen Handels die zusätzliche Einnahmequelle ungern nehmen lassen, mutmaßt Olbeter. Auch die Europäische Union, die weniger abhängig von diesen Einnahmen sei und sich oftmals auf die Seite der USA geschlagen habe, sei wohl nicht grundsätzlich zu einem Verzicht auf Zölle bereit.

Catherine Mann, Senior Fellow der Forschungseinrichtung Institute for International Economics, hält ebenfalls einen permanenten Verzicht auf Zölle für verfrüht: "Die Amerikaner sollten zwar das Prinzip verfolgen, aber nicht auf dem Rücken der Entwicklungsländer." Die Lobbyisten der Amerikaner führen laut Olbeter ein altbekanntes Gegenargument ins Feld: Befreit man Internet-Companies von Zollschranken, werden Online-Transaktionen angekurbelt, deren Umsätze alle Verluste aus sinkenden Zolleinnahmen mehr als wettmachen dürften.

Die Business Software Alliance (BSA) und das Information Technology Industry Council (Itic) legen in einem gemeinsamen Entwurf der WTO nahe, keine globalen Regelungen zu treffen, sondern den Ländern - so diese einen speziellen Handlungsbedarf sehen - den weniger restriktiven Weg einzelstaatlicher Regelungen ans Herz zu legen. Auch diese bergen allerdings eine Reihe potentieller Hemmschuhe für den elektronischen Handel. Beispielsweise könnten Aktionen einzelner Länder andere Staaten vom jeweils betroffenen Markt ausschließen. Zudem gebe es bei lokalen Abgaben in einer Zeit, in der das Internet nationale Grenzen überflüssig macht, stets das organisatorische Problem der tatsächlichen Eintreibung.

Gleichzeitig wehrt sich das Itic gegen Pläne der Europäer, elektronische Geschäftsabschlüsse als Dienstleistungen (und nicht als Produkte) einzuordnen, bei denen striktere Handelsregeln gelten. Dann nämlich, so befürchtet die Organisation, könnte der alte Kontinent kulturelle Barrieren gegen den elektronischen Handel aufbauen - so wie Frankreich beispielsweise schon heute Import und Sendezeit amerikanischer Filme beschränke. Ähnliche Blockaden könnten auch für Software-Downloads, elektronische Grußkarten und andere Produkte drohen, wenn man diese als Dienstleistungen klassifiziere.

Außerdem denken die Europäer über die Einführung einer sogenannten "Bit-Steuer" bereits auf kleinste elektronisch verteilte Informationseinheiten nach. In deren Zuge könnte ein System etabliert werden, bei dem sich Unternehmen registrieren und für den elektronischen Handel in einzelnen Ländern Gebühren zahlen müßten. Die USA sind laut Lucier aber strikt gegen diesen Plan, und Europa sei noch nicht bereit für eine Konfrontation. Nach Meinung des Prudential-Manns ist das Treffen in Seattle in der nächsten Woche ohnehin erst der Beginn jahrelanger Gespräche, in denen die brisanten Fragen immer wieder aufs Tableau kommen würden.

Laut George Vradenburg, Senior Vice-President von AOL, liegt die eigentliche Herausforderung zum jetzigen Zeitpunkt darin, zu erkennen, "daß E-Commerce neu und anders ist und wirklich niemand zum jetzigen Zeitpunkt große Erfahrung und Sachverstand vorweisen kann." Regeln und Methoden, die auf traditionellen Märkten bislang funktionierten, müßten nicht notwendigerweise auch im Cyberspace gelten.