Wenige Systeme werden den Anforderungen gerecht Workflow-Systeme sollten eher Assistenten als Polizisten sein

03.06.1994

Von Dietmar Weiss*

Glaubt man einem der Erfinder des Business Re-Engineering, naemlich Michael Hammer, so "scheitern rund 70 Prozent der in Angriff genommenen Restrukturierungen". Ein Grund dafuer ist neben fehlendem Wissen bezueglich der Vorgehensweise vor allem der Mangel an geeigneten Werkzeugen. Auch die Vorgangssteuerungs-Systeme werden den Anspruechen nur selten gerecht.

Eine Klassifizierung der Vorgangssteuerungs-Systeme steht derzeit noch aus. Weder existiert eine einheitliche Begriffsbestimmung oder Abgrenzung zu aehnlichen Gebieten - beispielsweise Groupware oder Dokumenten-Management-Systemen (DMS) noch gibt es eine genaue Funktionsbeschreibung der Workflow-Management-Produkte.

Die Vorgangssteuerungs-Systeme einfach den DMS-Produkten zuzuordnen, ist als problematisch zu bewerten. Es verhaelt sich eher umgekehrt, das heisst: Bei einem DMS handelt es sich eher um den Bestandteil eines Vorgangssteuerungs-Systems, da letzteres elektronische Dokumente als Informationstraeger benutzt und somit alle Funktionen eines DMS besitzen sollte.

Die Abgrenzung zu den Groupware-Systemen laesst sich anhand der Strukturiertheit von Vorgaengen vornehmen: Groupware soll die Gruppe als solche unterstuetzen und nicht den einzelnen im Zusammenhang mit gruppenbedingten Vorgaengen. Workflow-Systeme steuern hingegen das koordinierte Bearbeiten von Vorgaengen durch Personen, die als Teil einer Gruppe eine bestimmte Aufgabe erfuellen muessen.

Viele Softwarehersteller haben sich dennoch auf die Fahne geschrieben, "Vorgangssteuerungs-Systeme" als Werkzeuge zu verkaufen. Insofern ist es interessant, einmal den Markt zu sichten, die Anbieter bezueglich ihres Leistungsangebots zu untersuchen und im Hinblick auf den Anwender eine Klassifikation der bislang verfuegbaren Software vorzunehmen.

Die Funktionen eines idealen Vorgangssteuerungs-Systems soll folgende Beschreibung illustrieren: Vorgaenge muessen fuer die Automatisierung modelliert beziehungsweise entworfen werden. Waehrend der Ausfuehrung benoetigt die Administration Informationen ueber die Ist-Ablaeufe. Aus diesen Informationen ergeben sich Wuensche nach Verbesserungen und sogenannte Was-waere-wenn-Fragen. Die Software sollte darueber hinaus moeglichst viele Schnittstellen besitzen. Aus dieser Beschreibung ergeben sich fuenf Subsysteme (siehe Abb. 1).

Beschreibung der einzelnen Komponenten

Die einzelnen Systeme lassen sich folgendermassen beschreiben:

- Das Modellierungssystem dient der Konstruktion beziehungsweise Beschreibung von Ablaeufen (Vorgangstyp-Beschreibung) sowie teilweise der Organisationsabbildung. Nur so laesst sich ein Vorgang - beispielsweise eine Reisekostenabrechnung oder Kreditvergabe - automatisch vom Ausfuehrungssystem verwalten. In erster Linie erstellt das Modellierungssystem die Formalbeschreibung eines Vorganges. Erst in zweiter Linie findet eine Abbildung der Organisation statt, die die Formalbeschreibung unterstuetzen kann. Damit dient das Modellierungssystem der Festlegung des Vorgangstyps. Bediener sind in erster Linie die Mitglieder der Administration.

-Der Kern eines Workflow-Management-Systems ist das Ausfuehrungssystem, das die Vorgaenge startet, steuert und ausfuehrt. Dort angesiedelte Funktionen sind beispielsweise Terminueberwachung, Wiedervorlage, Mitzeichnung, Starten eines Falles, Zuordnung des Falles und der Werkzeuge - beispielsweise der Programme - zum Sachbearbeiter etc. Das Ausfuehrungssystem steuert jeweils den konkreten Einzelfall (Vorgangsexemplar). Die einzelnen Funktionen werden von der Software oft unter den Ueberschriften Eingangskorb, Bearbeitung oder Ausgangskorb angeboten. Bediener sind Sachbearbeiter beziehungsweise an der Ausfuehrung von Vorgaengen beteiligte Personen.

- Das Informationssystem raeumt den Fuehrungskraeften erhoehte Steuerungsmoeglichkeiten ein, indem es sie ueber den aktuellen Bearbeitungsstatus informiert und es ihnen erlaubt - soweit notwendig - einzugreifen. Gegenstand der Auswertungen sind sowohl Vorgangstypen als auch Vorgangsexemplare.

- Die Darstellung des modellierten Arbeitsflusses vor der Vorgangstyp-Implementierung ist die Aufgabe des Simulationssystems. Damit sollen Schwachstellen und Verbesserungsmoeglichkeiten aufgezeigt werden.

Eingesetzt wird das Simulationssystem vor allem bei der Untersuchung unterschiedlicher Systemvarianten, aber auch dann, wenn ein Pilotprojekt zu umfangreich waere. Es kann auch nach der Implementierung eingesetzt werden, um Aenderungen bei der Loesung von tatsaechlichen Engpaessen zu visualisieren und zu loesen. Anwender sind ausschliesslich Mitglieder der Administration, die die modellierten Vorgangstypen simulieren.

- Das Schnittstellensystem liegt unter den anderen Subsystemen und sorgt fuer die Verbindungen zur "Aussenwelt", also zwischen Software und Hardware sowie zwischen dem Workflow-Management-System und externen Daten, Programmen oder Benutzern. Im wesentlichen gibt es vier Interfaces: Hardware-, Daten-, Programm- und Benutzungs- Schnittstelle.

Drei Klassen von Systemen

Ausgehend von dieser Subsystem-Unterscheidung laesst sich das Angebot an Vorgangssteuerungs-Systemen grob in drei Klassen einteilen:

1. Die einfachste Auspraegung ist der "Verkehrspolizist": Ein solches Workflow-Management-System gibt lediglich starre Wege vor beziehungsweise verwaltet Warteschlangen von Dokumenten, die es dann an die naechste Stelle weiterleitet.

2. Eine hoeher entwickelte Gruppe von Vorgangssteuerungs-Systemen sind die "Steuermaenner" (Controller): Das System verwaltet automatisch den Arbeits- und Dokumentenfluss nach Regeln, die das Management eingerichtet hat. Die Unternehmensfuehrung besitzt dabei weiterhin die Moeglichkeit, in bestimmten Faellen einzugreifen und den Arbeitsprozess zu beeinflussen. Auf dieser Stufe generiert das System Antwortbriefe oder Warnungen an die Beteiligten und definiert Ausnahmen fuer Einzelfallbehandlungen. Darueber hinaus sammelt es Daten und Informationen ueber die Arbeitsprozesse und erstellt Berichte fuer das Management, das auf dieser Basis Arbeitsprozesse weiter verfeinern kann.

3. Die fortgeschrittensten Systeme lassen sich als "Assistenten" bezeichnen. Sie assistieren dem Manager beim der Analyse von Geschaeftsprozessen, indem sie diese anschaulich darstellen. Ausserdem lassen sie es zu, dass die Fuehrungskraft Aenderungen in diesen Prozessen simuliert. Neben dieser Faehigkeit zur Simulation ist das Assistentensystem in der Lage, ein Dokument automatisch zurueckzuhalten, bis notwendige Begleitdokumente zur Verfuegung stehen. Beispielsweise haelt es die Kreditbearbeitung an, so lange noch kein Bericht der Schufa eingegangen ist. Nach dem Eintreffen des Reports werden dann beide Dokumente verbunden und zum naechsten Bearbeitungsschritt weitergeleitet.

Waehrend der sogenannte Assistent die gesamte Palette der Subsysteme abdeckt, verfuegt der Verkehrspolizist weder ueber die Informations- noch die Simulationskomponente. Der Steuermann oder Controller unterscheidet sich vom Assistenten durch das Fehlen des Simulationssystems.

Die von mir vorgenommene Marktuntersuchung erfasst 58 Produkte. Quellen fuer diese Erhebung sind Aufsaetze, Messebesuche und die verschiedenen ISIS-Kataloge der Nomina Gesellschaft fuer Wirtschafts- und Verwaltungsregister. Alle Firmen wurden angeschrieben und um Informationsmaterial gebeten.

Etwa die Haelfte - genau 30 - Produkte musste ich von einer weiteren Untersuchung ausschliessen: 14 der Anbieter liessen das Schreiben unbeantwortet, in zwei Faellen waren die Unterlagen nicht verwertbar. Sieben Produkte waren reine Archivierungs- Buerokommunikations- oder Imaging-Systeme. Die Gruende fuer das Ausscheiden der restlichen sieben Produkte sind unterschiedlicher Natur.

Nur wenige hoeher entwickelte Produkte

Weiterverfolgt und ausgewertet wurden schliesslich 28 Produkte. Interessant ist dabei der geringe Anteil an Simulationssystemen und Informationssystemen: Nur 15 der beruecksichtigten Produkte verfuegen ueber die Informationskomponente, ein Simulationssystem ist gar nur bei acht Anbietern vorhanden. Viele Vorgangssteuerungs-Systeme sind unter diesem Gesichtspunkt als Werkzeuge fuer das Business Process (Re-)Engineering nur bedingt geeignet.

Keine Probleme gibt es mit dem Kern eines jeden Vorgangssteuerungssystems: Der Ausfuehrungsteil ist offenbar bei allen Systemen vorhanden. Allerdings scheint bei einem Anbieter diesbezueglich Unklarheit zu herrschen.

Ein Modellierungssystem als Voraussetzung der Steuerung hat ebenfalls die ueberwiegende Mehrzahl der Produkte zu bieten. Es gibt jedoch Unterschiede in der Methodik. Eine grafische Modellierung ermoeglichen nach Herstellerangaben nur elf Systeme. Die Ausstattung der Modellierungssysteme mit aufbau- und ablauftechnischen Gestaltungsmoeglichkeiten sind von Herstellerseite nicht detailliert genug beschrieben. Es fehlen beispielsweise Angaben darueber, inwieweit eine Organisationsstruktur abgebildet werden kann oder eine Vertreterregelung unterstuetzt wird.

Wie oben schon angedeutet, wird ein Informationssubsystem offenbar nur von jedem zweiten Hersteller angeboten. Die Abdeckung dieser Funktion ueber fremde Produkte ist prinzipiell moeglich, sollte aber ueber eine Schnittstelle spezifiert werden. Solche Schnittstellen werden jedoch nicht expliziert genannt.

Ein Simulationssystem besitzt nur jedes vierte System. Dabei kristallisiert sich im uebrigen eine dreistufige Unterteilung heraus: Typ 1 ist ein reines Simulationssystem, Typ 2 hat die Moeglichkeit zu Berichten, Typ 3 liefert auch Loesungsvorschlaege.

Deutlich geworden ist auch die ungenuegende Unterstuetzung der Administration bei Analyse und Verbesserung von Vorgaengen. Da Vorgangssteuerungs-Systeme einen starken Organisationsbezug haben ("Orgware"), ist hier ein funktionales Defizit der angebotenen Software auszumachen.

Betrachtet man die jeweilige Herkunft beziehungsweise Charakteristik der Systeme, so faellt ein Zusammenhang ins Auge: Bis auf eine Ausnahme handelt es sich bei den Assistenten- Produkten um solche Sysetme, die von vornherein als Vorgangssteuerungs-Systeme geplant waren. Programmen, die urspruenglich als DMS, E-Mail, Textverarbeitung, Groupware oder Buerokommunikationssystem gedacht waren, gelingt es kaum, in die Assistentenklasse aufzusteigen. Eine Ausnahme bildet Filenet mit seinem neuen Release.

Der Markt fuer Vorgangssteuerungs-Systeme praesentiert sich breit gefaechert mit unterschiedlich leistungsfaehigen Produkten. Reine Vorgangssteuerungs-Systeme sind bislang noch rar. Ein abgewandeltes Dokumenten-Management-System kann im allgemeinen nicht die organisationsbedingte Funktionalitaet bieten.

Als effektive Werkzeuge fuer das Business Process (Re-)Engineering sind vor allem die Assistentensysteme, allenfalls noch die besseren Steuermann-Systeme, geeignet. Da in dieser Klasse aber noch grosse Streuungen zu beobachten sind, empfiehlt sich fuer die Produktauswahl ein Pflichtenheft oder ein Fragenkatalog.

* Dietmar Weiss ist Mitarbeiter am Lehrstuhl fuer Wirtschaftsinformatik an der Universitaet Hohenheim.