Web-Services/Die neue Form der Arbeitsteilung

Web-Services verändern die Weltwirtschaft

31.10.2003
Auf Dauer beeinflussen Web-Services massiv die Kommunikationsstrukturen zwischen Unternehmen. Sie sind die treibenden Kräfte einer neuen weltweiten Arbeitsteilung.Von Holger Silberberger*

Kein Thema vermag die IT-Branche zurzeit derart zu begeistern wie Web-Services. Völlig zu Recht, denn anders als Strohfeuer-Technologien der vergangenen Jahre hat das Modell der flexibel über alle System-, Firmen- und Standortgrenzen hinweg austausch- und kombinierbaren Softwarebausteine das Potenzial, der Weltwirtschaft ein völlig neues Gesicht zu verleihen. Nur das Verständnis für die strategischen Auswirkungen dieser Entwicklung ist in so mancher Vorstandsetage noch gefährlich schwach ausgeprägt. Dabei sollte schon heute gelten: Web-Services sind Chefsache.

Die Zurückhaltung IT-fremder Manager gegenüber Web-Services hat gute Gründe. Da ist natürlich die allgemeine Investitionsvorsicht angesichts einer schwächelnden Konjunktur. Mancherorts wirken Enttäuschungen über Softwareprojekte nach, die deutlich hinter den vollmundig geäußerten Erwartungen zurückgeblieben sind. Ein tiefes Misstrauen gegenüber allen weiteren Forderungen und Ideen aus den Reihen der IT-Organisation ist die Folge. Hinzu kommt, dass Web-Services bisher häufig für Anwendungen zum Einsatz kommen, bei denen sie ihre Vorzüge nicht ausspielen und traditionellen Softwarearchitekturen eher unterlegen sind.

Abschied von der technischen Diskussion

Wesentliche Ursache aber ist ein simples Kommunikationsdefizit: Wer die leidenschaftlich geführte Diskussion zum Thema verfolgt, erlebt eine Fachdebatte, deren Sinn und Zweck sich nur Experten erschließt. Fast immer geht es um Standards wie Soap und UDDI sowie deren Details, höchst selten um Nutzen und Anwendungspotenziale der Technologie, um ihre Implikationen für Geschäftsmodelle, Wirtschafts- und Kooperationsweisen. Dabei erschließt sich die wahre Faszination von Web-Services erst aus einer solchen Business-Perspektive.

Die technische Sicht auf Web-Services ist noch derart dominant, dass selbst ernsthaft interessierte Manager oft abgeschreckt werden und sich rasch wieder ihren vermeintlichen Kernaufgaben und -kompetenzen zuwenden. Wer als Berater in ein Unternehmen kommt, muss häufig erst einmal mit einem eklatanten Missverständnis aufräumen: Web-Services sind eben deutlich mehr als nur Produkte, die sich einkaufen und implementieren lassen, um dann auf eine möglichst umgehende Rentabilität zu hoffen. Vielmehr handelt es sich um ein völlig neues Modell, mit Applikationen - und solchermaßen mit elektronisch unterstützten Geschäftsprozessen - umzugehen. Web-Services sind Softwarekomponenten, die sich über Internet-Standards von anderen Softwarekomponenten nutzen und quasi wie in einem Baukastensystem flexibel kombinieren lassen. Anders gesagt: Betreibt ein Unternehmen eine Web-Service-fähige IT-Landschaft, kann es jeden anderen Betrieb mit den entsprechenden Zugriffsrechten ausstatten. Somit können selbst externe Firmen diese Bausteine verwenden - genau so, als würde es sich um vor Ort und innerhalb der eigenen Firewall installierte Programmroutinen handeln.

Kooperationsprozesse ohne Zwänge

Diese Betrachtungsweise liefert wichtige Hinweise auf das durchaus revolutionäre Potenzial, das Web-Services in sich bergen. So ist nicht nur Hubert Österle, Professor für Informations-Management an der Universität St. Gallen und CTO der Information Management Group, überzeugt, dass die Technik eine neue Welle der Arbeitsteilung entfachen wird: "Bisher beruhte Arbeitsteilung auf dem physischen und entsprechend aufwändigen Transport von Gütern und Menschen. Web-Services machen uns unabhängiger von diesen Zwängen. Die Technologie erlaubt es Unternehmen, noch enger über Firmen- und Ländergrenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Wir werden neue Kooperationsprozesse kennen lernen. Wir werden Zeuge, wie das Monopol der Vernetzung seine Kraft entfaltet."

Die Entwicklung der globalen Arbeitsteilung ist von der Ambition geprägt, jeden Prozess genau dort abzuwickeln, wo sich das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis bietet. Such- und Integrationsaufwände, die gesamten Transaktionskosten behindern jedoch eine solchermaßen optimierte Kräfteallokation. In der Folge werden noch viele Arbeiten innerhalb der eigenen Organisationsstruktur geleistet, obwohl ein entferntes Unternehmen dies deutlich besser oder zumindest preiswerter erledigen könnte. Mit Web-Services aber spielen diese räumlichen Aspekte keine Rolle mehr. Denn die Technik erlaubt es Unternehmen, einen von Standorten losgelösten Handel mit kompletten Geschäftsprozessen zu betreiben und sich auf diese Weise neue Einnahmepotenziale oder Kostenvorteile zu erschließen. Wer bezüglich bestimmter IT-gestützter Arbeitsabläufe über außerordentliche Stärken verfügt, kann diese mittels Web-Services sehr einfach und zu minimalen Implementierungskosten auch anderen Firmen anbieten. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, Abläufe aus allen Geschäftsbereichen kommen als Outtasking-Kandidaten in Frage.

Flexible Wertschöpfung

Zumindest für weniger komplexe Unternehmensfunktionen könnte sich auf Dauer sogar das UDDI-Modell auf breiter Front etablieren: Firmen kaufen ihre Prozesse in offenen Datenbanken nach Webshop-Vorbild ein - inklusive der Option, von einem Tag auf den anderen zu einem anderen Partner zu wechseln. So verliert das starre Modell der Wertschöpfungskette mit dem anstehenden globalen Siegeszug der Web-Services rasch an Bedeutung. Es wachsen schon in den nächsten Jahren mehrdimensionale, weltweit verflochtene und hochdynamische Wertschöpfungsnetze, in denen Unternehmen intensiv kooperieren und neben Waren und Daten in großem Maßstab auch Geschäftsprozesse austauschen.

Von diesem Modell profitieren nicht nur jene Unternehmen, denen es gelingt, ihr betriebswirtschaftliches Know-how als via Internet wiederverwendbare Softwarekomponenten zu vermarkten. Vielmehr verhilft die Option zum selektiven Prozess-Shopping jedem Web-Service-fähigen Unternehmen zu nachhaltigen Rationalisierungseffekten.

Reaktionszeiten schrumpfen

Nahezu alle systemübergreifenden Prozesse lassen sich weitaus preiswerter realisieren. So können Unternehmen mit Web-Services vor allem ein bisher ungeahntes Maß an Reaktionsfähigkeit erlangen. Ihr Einsatz rechnet sich überall dort, wo Veränderungsdynamik herrscht und sich Wettbewerbsfähigkeit vor allem über Flexibilität bestimmt. Nicht umsonst gehören zu den Vorreitern der Technik viele Computerhersteller, müssen diese doch in Märkten agieren, in denen sich Preise und Produkte beinahe täglich ändern.

Trotz dieses Rationalisierungspotenzials, das sich durch den intelligenten Einsatz von Web-Services aktivieren lässt, dürfte gelten: Arbeit wird nicht weniger, sondern nur anders verteilt und organisiert. Web-Services werden den Trend zum Outtasking weiterer Unternehmensfunktionen in Billiglohnländer forcieren. Darüber hinaus wirkt ihr intensivierter Einsatz darauf hin, dass sich Beschäftigte auf allen Geschäftsebenen noch stärker als bisher mit dem Thema "Wandel" beschäftigen müssen: Wo Prozesse und Kooperationsbeziehungen täglich modifiziert werden können, verändern sich auch die Mitarbeiteraufgaben rasant. Vor allem aber ist die Kompetenz, durch Web-Services effektiv Rationalisierungspotenziale zu heben, an bisher häufig unterschätzte Management-Qualitäten gebunden. Denn je mehr andere Firmen ein Unternehmen in seine Prozesse einbindet, desto elementarer wird die Aufgabe, diese Partnerschaften auf ihre Seriosität hin zu überprüfen, laufend zu überwachen und zu managen. Technologie ist auch hier nur der Anfang.

"Wir stehen noch vor der mühsamen Aufgabe, eine Kommunikations-, Geschäfts- und Vertrauenskultur zu erarbeiten, auf deren Grundlage die Technologie der Web-Services ihr volles Potenzial entfalten kann. Bis wir zwischenbetrieblich so effizient und effektiv operieren wie innerbetrieblich mit ERP-Systemen, vergehen noch 30 bis 40 Jahre", prognostiziert Österle. Das aber sollte nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass bereits jetzt wichtige Weichenstellungen erfolgen. Unternehmensleitungen sind heute gefordert, sich intensiv mit ihren individuellen Anwendungsoptionen für Web-Services zu beschäftigen und diese Schritt für Schritt auszuschöpfen. Denn wer heute deren Macht verkennt, dürfte schon bald zu den Verlierern gehören. (ue)

*Holger Silberberger ist Director Business Strategy System Integration bei der SAP Systems Integration AG (SAP SI).