IT in der Prozessindustrie/Boehringer reduzierte Durchlaufzeiten und Administrationsaufwand

Vom Standard-Tool zum flexiblen Workflow

16.05.2003
Kaum eine Branche hat so viele Daten zu managen wie die Pharmaindustrie, bevor eines ihrer Produkte zum Kunden gelangt. Standardsoftware ist diesen Anforderungen nicht gewachsen. IDS Scheer schnitt daher das Workflow-Tool der SAP speziell für das Product-Lifecycle-Management (PLM) bei Boehringer Ingelheim zu. Von Gabi Visintin*

"Request to Start Preparing Production" (RSPP), so wird beim Pharmakonzern Boehringer Ingelheim der Prozess zur Vorbereitung einer Produkteinführung, einer Änderung oder auch einer Marktentnahme genannt. Bei der Herstellung eines Medikaments können bis zu fünf Tochtergesellschaften in unterschiedlichen Ländern beteiligt sein. Allein die Erstellung einer Faltschachtel erfordert hohes Koordinationsgeschick.

Bis Mitte 2001 wurde der Abstimmungsprozess bei dem weltweit agierenden Unternehmen zu einem großen Teil manuell gesteuert: Abläufe wurden auf Papier festgehalten, notwendige Informationen - etwa von Juristen, Controllern oder den Sachbearbeitern, die den Kontakt zu den Behörden halten - wurden von zentraler Stelle aus in Ingelheim gesammelt. "Hierbei kam es gelegentlich zu Verspätungen, weil Anfragen stecken blieben oder Behörden fehlende Unterlagen nachforderten. Es fehlte einfach ein Verfolgungssystem", erinnert sich Projektleiter Guido Sabelleck.

Transparenz über alle Abteilungen hinweg herstellen

Das sollte sich grundlegend ändern. Ein Team untersuchte sämtliche Abläufe, die für eine Produkteinführung und -änderung notwendig sind. Da sich der Konzern bereits dafür entschieden hatte, bei der Logistikplanung auf SAP-R/3-Module zu setzen, sollte auch die PLM-Lösung aus Walldorf kommen. "Mit der neuen Lösung wollten wir Transparenz über alle Abteilungen hinweg herstellen, den Gesamtdurchlauf verkürzen und effizient steuerbar machen. Und zwar mit einem System, das einfach zu bedienen ist und keiner permanenten Betreuung durch die IT-Abteilung bedarf", formuliert der Projektleiter die Erwartungen des Pharmateams an seinen Beratungspartner.

Die IT-technische Aufgabe hieß: Im RSPP-Prozess müssen sämtliche im Firmenverband vorhandenen logistisch und technisch relevanten, produktbeschreibenden Daten erhoben und zügig abgestimmt werden - und das für eine Vielzahl von unterschiedlichen Fällen und Abläufen. Dabei bestimmt die Qualität der bereitgestellten Daten sowie die Abwicklungsgeschwindigkeit, wie rasch Boehringer auf neue Marktanforderungen reagieren beziehungsweise wie schnell ein neues Präparat auf dem Markt sein kann.

Ein sehr dynamischer Prozess mit 400 Anwendern

"Was uns sofort ins Auge fiel, war die Fülle an Daten, die allein im Produktänderungsprozess des Pharmabetriebs anfällt und zu managen ist", erklärt Willi-Gerd Schmitz vom Beraterteam, das mit Hilfe des Prozesswerkzeugs Aris innerhalb von zwei Monaten das Lösungskonzept entwickelte: "Es handelt sich um einen sehr dynamischen Prozess, an dem mehr als 400 Anwender auf allen Kontinenten beteiligt sind." Die Idee: Ein ausgeklügeltes Regelwerk sollte das Handicap einer starren Workflow-Programmierung auffangen und eine anwendungsspezifische Datenbank die Produktdaten erheben und verarbeiten, die über die Stammdaten hinaus anfallen.

Bei Störungen tritt Eskalationsfunktion in Kraft

Sechs Monate später ging die neue Lösung weltweit und mit 400 Usern in Betrieb. Das Rückgrat der neuen Product-Lifecycle-Management-Lösung ist aus vier Modulen gebildet: ein intelligenter Workflow, das SAP-Projektsystem, die anwendungsspezifische RSPP-Datenbank sowie die Integration in das SAP-PLM-System mit Materialstamm, Stückliste, Änderungs- und Revisionsstämmen.

Der logische und zeitliche Ablauf wird durch einen Netzplan abgebildet, einem Fahrplan vergleichbar, der festlegt, welche Bearbeiter in welcher Reihenfolge befragt werden und bis zu welchen Terminen die Aktivitäten zu erledigen sind. Informiert über E-Mail, gibt der Mitarbeiter in seinem Workflow-Arbeitsauftrag seine entsprechenden Daten ein. Sobald er seine Aufgabe erledigt hat, stößt das System den nächsten Arbeitsschritt und damit die nächste Abteilung an. Sollte der Workflow ins Stocken geraten, tritt eine Eskalationsfunktion in Kraft, die den jeweiligen Projektverantwortlichen sofort über die Störursachen informiert.

"Das A und O für uns war die einfache Handhabung der Lösung - einfach für die Nutzer sowie transparent für die Administration", betont Sabelleck. Eine Intranet-Kommunikationslösung ermöglicht heute den Zugang zum zentralen PLM-System und erspart den Administratoren die Pflege von weltweit verteilten proprietären IT-Plattformen. "Außerdem wollten wir den Sachbearbeitern das mühsame Suchen in einem Menüfeld-Puzzle ersparen und ihnen nur das zeigen, das für ihren speziellen Fall notwendig ist", führt der Projektleiter aus. Die Antwort darauf ist eine Dialogmaske, die sich automatisch an die Anforderungen des spezifischen Prozesses und der Nutzer anpasst.

Ablaufpläne und Dialogmasken automatisch generiert

Diese Flexibilität geht auf das Herzstück der Lösung zurück: ein umfangreiches Regelwerk mit rund 2000 Regeln, basierend auf 550 Bedingungen und 830 Aktivitäten, macht es heute möglich, dass sich Ablaufpläne und Dialogmasken aufgrund bestimmter Eingangsgrößen automatisch generieren - ganz ohne Programmieraufwand.

Sieben Standardnetzpläne stehen bereit, die alle Aktivitäten enthalten, die zum Beispiel für eine Produktänderung nötig sind. Aufgrund der Informationen aus der Starttransaktion wird die entsprechende Netzplanversion ausgewählt, die sich dann selbständig und sukzessive konfiguriert - je nachdem, welche Informationen während des Prozesses eingetragen werden. Rund 200 bis 300 dieser Prozesse werden monatlich gestartet.

Der Effekt ist enorm: Eine Prozessänderung, die zum Beispiel aufgrund zusätzlich geforderter Arbeitsschritte notwendig wird, dauert heute gerade einmal ein bis zwei Tage, bis sie wirksam wird - gegenüber fünf- bis sechswöchigen Änderungsphasen in der alten Systemlandschaft. Besonderen Wert legt das Unternehmen darauf, dass sich solche Änderungen von geschulten Mitarbeitern der Fachabteilung so einfach in das System einpflegen lassen, dass keine Unterstützung aus der IT-Abteilung notwendig ist.

Veränderungen werden frühzeitig erkennbar

Für den inhaltlichen Erfolg des Systems sorgt die Transparenz des Abstimmungsprozesses für alle Beteiligten. Sabelleck: "Der Blick über den Tellerrand hilft, den Prozess zu beschleunigen und zu verbessern, aber auch Ressourcen zu sparen." Heute erfahren Produktionsverantwortliche so frühzeitig von den bevorstehenden Veränderungen - wenn etwa ein verändertes Medikament auf den Markt kommt -, dass Lagerbestände rechtzeitig abgebaut und damit Ressourcen gespart werden können.

Nur wenige Regeln wurden nachträglich eingeführt

Auch wenn es keine anrechenbare Verkürzung der Gesamtdurchlaufzeit gibt - "dazu sind die äußeren Abhängigkeiten von Behörden und Verordnungen zu wenig planbar" -, lässt sich heute feststellen, dass die Prozesse kaum noch ins Stocken geraten und "fehlende Unterlagen" praktisch kein Grund mehr für Verzögerungen sind. Als "wesentliche Errungenschaft" bezeichnet Beraterteam-Mitglied Schmitz darüber hinaus die Integration in die R/3-Logistik-Stammdaten, mit der zum Beispiel auch Parameter für das Supply Network Planning aktualisiert werden können.

Seit das System in Betrieb genommen wurde, läuft es erfolgreich und stabil. Nur wenige Regeln mussten zusätzlich eingeführt werden. Für das System spricht darüber hinaus, dass es praktisch alle Standorte als gelungene Koordinationsalternative angenommen haben. "Das jetzige RSPP-System ist ein Beispiel, wie durch Prozessumgestaltung, Innovation und Transparenz die Komplexität, die mit der Internationalisierung stetig wächst, beherrschbar wird", war seitens Boehringer Ingelheim zu hören. (bi)

*Gabi Visintin ist freie Journalistin in Filderstadt.

Angeklickt

Nutzen der PLM-Lösung

- Produktstart von Medikamenten und begleitende Prozeduren beschleunigt.

- Weniger Verzögerungen durch fehlende Unterlagen oder falsch adressierte Bearbeiter.

- Rasche Reaktion auf Marktanforderungen.

- Weltweit einheitliches System.

- Browser-Interface mit niedrigen Wartungskosten.

- Hohe Prozesstransparenz.

- Leicht erweiterbarer Prozess.

- Frühwarnsystem für Projektverantwortliche.

- Entlastung der Verantwortlichen von Koordinationsaufgaben.

Spezifika der PLM-Lösung

- Workflow-basierende R/3-Anwendung, die den Prozess sämtlicher Produktneuentwicklungen und Änderungen für Fertig- und Zwischenprodukte unterstützt. Verwaltet werden Stamm- und logistische Daten.

- Flexible Lösung auf Basis eines ausgeklügelten Regelwerks, das eine dynamische Generierung von Dialogmasken und Workflows (Standardnetzplänen) zulässt.

- Kontinuierliche Terminüberwachung.

- Workflow-basierendes Eskalations-Management.

- Einbindung der Standorte über Intranet und Citrix-Web-Zugang.

Das Unternehmen

Die Boehringer Ingelheim Pharma KG ist eines der 20 größten Pharmaunternehmen der Welt. Im Geschäftsjahr 2002 erarbeiteten fast 32 000 Mitarbeiter in 156 Tochtergesellschaften einen Umsatz von 7,6 Milliarden Euro. Das Pharmaunternehmen mit Sitz in Ingelheim erforscht, entwickelt, produziert und vertreibt Arzneimittel für die Bereiche Humanpharma und Tiergesundheit. In Deutschland sind insgesamt 8900 Mitarbeiter beschäftigt, die 2002 einen Umsatz von 797,4 Millionen Euro verwirklichten. 2002 wendete der Konzern für Forschung und Entwicklung 1,3 Milliarden Euro auf. Mit Erfolg: Bei den verschreibungspflichtigen, innovativen Produkten, die in den vergangenen zehn Jahren auf den Markt kamen, erreichte das Unternehmen im Jahr 2002 einen Anteil von 51 Prozent.