Videotex (Teletel) auf bevorzugtem Platz im Telematikprogramm:Frankreichs Btx-Systeme laufen anders

26.11.1982

Dem aufmerksamen Leser der Wirtschafts- und Fachpresse ist das Wort Telematik als ein Begriff vertraut, hinter dem sich große gemeinsame Anstrengungen der französischen Regierung und Industrie verbergen, um neue Märkte im In- und Ausland mit neuen Produkten der Informationstechnologie zu erschließen. Wenngleich dieses ehrgeizige Programm nach dem letzten Regierungswechsel in Paris modifiziert und teilweise in Frage gestellt wurde, zeigen sich erste Erfolge der Franzosen in ausländischen Märkten, so zum Beispiel in den USA. Es ist auch bekannt, daß französisches Know-how und Bildschirmtext- (Videotex-)Produkte aus diesem Programm in Deutschland auf den Markt drängen.

Hinter diesen internationalen Aktivitäten stehen bekannte Firmen wie zum Beispiel Cap Gemini, GFI und Steria. Das GFI Videotex-Produkt soll als typisches Ergebnis des Telematik-Programms beispielhaft kurz vorgestellt werden. Zunächst soll jedoch noch näher erläutert werden, was sich hinter dem Namen Telematik verbirgt. Zusammengefaßt handelt es sich um ein Programm mit den folgenden Zielsetzungen:

- die Förderung einer kohärenten Forschungs- und Entwicklungsstrategie zur Sicherstellung kompatibler Erzeugnisse,

- die Verwendung von High Technology Produkten, die in großen Mengen kostengünstig für Massenmarkte produziert und vermarktet werden können,

- die Förderung modularer Entwicklung von Geraten und Software zur Erreichung größtmöglicher Flexibilität und Anpassungsmöglichkeiten,

- die Unterstützung auf höchster politischer Ebene zur Förderung nationaler und internationaler Zusammenarbeit und Standards.

Das Telematikprogramm konzentriert sich im wesentlichen auf vier verschiedene Erzeugnisgruppen:

- Videotex (in Frankreich Teletel genannt),

- Elektronisches Adreßbuch,

- Mass-Fax,

- Fernschreiber.

Seit 1981 laufen großangelegte Versuche in Velizy, Versailles und Vale du Bievre (bekannt auch unter der Abkürzung 3 V) zur Einführung des Videotex-Systems, um die Akzeptanz und das Benutzerverhalten zu untersuchen. Ähnlich ist mit der Vergabe von zunächst 300 000 geplanten Billigterminals (etwa 350 Dollar pro Terminal) begonnen worden, mit dem Ziel, im Laufe der Jahre das konventionelle Telefonbuch abzulösen. Die Vorteile liegen auf der Hand. Das elektronische Telefonbuch erlaubt sofortige und kontinuierliche Veränderung der Eintragungen und ist damit immer auf dem neuesten Stand, während heute etwa ein Drittel der Informationen des Telefonbuches bereits nicht mehr stimmen, wenn die 25 Millionen Auflage gedruckt und verteilt ist. Hinzu kommen erweiterte Serviceleistungen für die Benutzer, die das Auffinden gewünschter Informationen wesentlich erleichtern.

Mit dem Telematik-Programm glaubt Frankreich sich eine führende Stellung auf dem Videotex-Gebiet erobert zu haben. Die Entwicklungsstrategie der französischen Post hat mehr als bisher in Deutschland zu Produkten der Industrie geführt, die heute international angeboten werden. Das soll anhand des Telematik-Produktes "Telesource" der französischen Firma GFI (Groupe Francais d'Informatique) näher erläutert werden.

Die GFI (Frankreich) gehört wie SCS (Deutschland), Scicom (England) und die SCI (USA) zur Scicom International Group. GFI bietet Management-Beratung. Systemsengineering, Entwicklung und Vertrieb von schlüsselfertigen Informatik-Produkten sowie Rechenzentrums-Dienstleistungen an. Die Einbindung von Telesource in die GFI-Dienstleistungen geht aus Abbildung 1 hervor. Daraus ist ersichtlich, daß Telesource einem externen Rechneranschluß im deutschen Bildschirmtextsystem entspricht. Auffällig ist ein wesentlicher Unterschied von Teletel zum deutschen Btx-System: Es fehlen die Btx-Zentralen. Es gibt ein Dienstleistungszentrum der französischen Post in Velizez, CITV (Centre Informatique Télétel de Vélizy), das nur zur Unterstützung der Testphase vorgesehen ist. Die französische Post beschränkt ihre Rolle bewußt auf die Bereitstellung der Kommunikationsnetze und auf die Koordination des Videotex-Programms. Im übrigen baut die Post auf private Informationsanbieter, die durch firmeneigene Rechenzentren oder über private Dienstleistungsrechenzentren ihre Videotex-Dienste anbieten. Der Teletel-Teilnehmer hat Zugang zu diesen Rechenzentren (zum Beispiel Telesource) durch das Fernsprechwählnetz oder über das X.25-Paketvermittlungsnetz Transpac. Daraus ist ersichtlich, daß Telesource die Funktionen des externen Rechners und der Btx-Vermittlungsstellen auf sich vereinigt. Diese sollen im folgenden kurz erläutert werden.

Modulare Software

Telesource ist ein Softwareprodukt mit modularem Aufbau. Der Softwarekern unterstützt die folgenden Funktionen (siehe Abbildung 2).

- Kommunikations-Management

- Zugangsprotokolle

Direktanschluß der TV-Terminals über 1200/75 Bit/s Telefonwählverbindungen

X.25-Transpac Paketvermittlungsprotokoll

- Management der Teletec Videotex Terminal Protokolle (früher Antiope-Standard, zukünftig CEPT-Standard wie in der Bundesrepublik auch)

- Abwicklung der Zugangsprozedur Anrufkennung Präsentation der Einstiegsseite Paßwort und Berechtigungsprüfung

- Videotex Datenbank System

- Generierungs-, Verwaltungs- und Update-Software für die baumstrukturierte Datenbank

- Unterstützung der Online-Funktionen

- Editierungsprogramme

- Sammlung aller für die Rechnungsstellung erforderlichen Statistiken

- Rechnungsstellung

Diese Grundfunktionen werden durch zusätzliche Funktionen ergänzt, welche die Informationsrecherchen von ungeübten sowie professionellen Videotex-Benutzern unterstützen. Es werden mehrere Zugriffsmethoden ermöglicht durch baumstrukturierte Menütechnik, logisch verknüpfte Suchkriterien (bis zu fünf Kriterien verknüpft durch und/oder/nicht) und direkten Zugriff.

Eine weitere Ergänzung bildet die Electronic-mail-Software "Comutex" . Sie unterstützt das Editieren, Versenden (an einen oder mehrere Empfänger), Empfang (Zugriffskontrolle), Archivierung (Soft- und Hardcopies) von Nachrichten, Auftragsformularen, Banktransaktionen und so weiter.

GFI hat Telesource als Standalone oder Front-End-System für einen weiten Anwenderkreis konzipiert und entwickelt. Wie aus Abbildung 2 hervorgeht ist die Software ursprünglich auf Cii-Honeywell Bull Level 6 Rechner installiert worden und läuft unter dem Betriebssystem GCOS. Die Software ist in Cobol geschrieben, was die Umstellung auf andere Rechner erleichtert. Die Installation auf andere Rechner ist beabsichtigt und zum Teil schon in Arbeit. Der Anschluß an Hostrechner (Abbildung 1 und 2) ermöglicht den Durchgriff auf bestehende Anwendungen, wo dies erforderlich oder gewünscht ist, ohne den Host mit der Videotex- Abwicklung zu belasten.

Telesource wurde vor allem für kommerzielle Anwendungen entwickelt, wie sie auch im Btx-Rechnerver- und angesiedelt sind. Etwa 20 GFI-Systeme sind bisher installiert worden. Die Modularität und Portabilität der Telesource-Software erlaubt es GFI, eine attraktive Marketing-Strategie zu verfolgen, nämlich dem Kunden zunächst eine auf seine Belange zugeschnittene Videotex-Einstiegslösung im GFI-eigenen Rechenzentrum anzubieten. Diese läßt sich zu einem späteren Zeitpunkt nach Bereitstellung der entsprechenden Hardware zum Kunden transferieren und weiter ausbauen.

Es steht außer Zweifel, daß das französische Telematik-Programm Früchte trägt. Auf dem umkämpften, bedeutenden US-Markt gehören Teletel-Systeme neben dem kanadischen Telidon und englischen Prestel-Systemen zu den Testinstallationen.

Das französische Selbstvertrauen auf diesem Gebiet ist so groß, daß man erhebliche Anstrengungen gemacht hat, um zu einer Harmonisierung der unverträglichen nationalen Videotex-Standards zu kommen. So haben sich die europäischen Postverwaltungen (CEPT) im Mai 1981 auf einen Videotex-Standard (Videotex Presentation Layer Protocol) geeinigt, bei dem Antiope und Prestel

Pate gestanden haben. Um sich den amerikanischen Markt offenzuhalten, kommt es jetzt darauf an, die Unverträglichkeiten zwischen dem auch im Mai 1981 verkündeten AT&T-Standard (hervorgegangen aus dem kanadischen alpha-geometrischen Telidon und den europäischen Alpha-Mosaik-Systemen) zu überbrücken. Die verschiedenen Standards erfordern unterschiedliche Fernsehgeräte beziehungsweise Decoder, wodurch die Einsetzbarkeit der Endgeräte und Videotex-Systeme geschmälert wird. Dadurch werden die Marktchancen der sich um diesen Markt bemühenden Unternehmen entsprechend beeinflußt, sofern die Differenzen nicht durch Verhandlungen zu bereinigen sind.

Die Einführung und Adaption des neuen europäischen Standards öffnet den französischen Videotex-Produkten, die zunächst einmal für einen nationalen Markt entwickelt wurden, schlagartig auch den übrigen europäischen Markt. Die Vorteile für international vertretene Firmen beziehungsweise Firmen mit multinationalem Verbund, wie GFI und SCS, liegen dabei auf der Hand. So kann SCS beispielsweise die GFI-Produkte in Deutschland vermarkten und gleichzeitig die nationalen (zum Beispiel EHKP) und kundenspezifischen Belange (zum Beispiel organisatorische Einbettung, Anbindung an bestehende Datenbanken, Anwendungen, Hardware) abdecken.

Fest steht, daß französische Unternehmen durch ihre aktive Teilnahme an der Videotex-Entwicklung und -Standardisierung erhebliches Know-how und international erfolgreiche Produkte entwickelt haben. Diese Entwicklung ist noch keineswegs am Ende, wie die Versuche mit der Chipkarte für Banking und POS-Anwendungen zeigen. Das Telematikprogramm und der Vorsprung, den Frankreich sich mit neuen Technologien erworben hat, so sehen es jedenfalls die Franzosen, sollte in Deutschland mit Aufmerksamkeit verfolgt werden. Wo in der Welt werden vergleichbare deutsche Produkte vermarktet? Gerade in Deutschland glaubt man aber, auf dem Gebiet Bildschirmtext eine führende Rolle in der Welt einzunehmen.

*Dr. Ulrich Adams, SCS Scientific Control System GmbH, Frankfurt