Verändert der Computer unsere Wertordnung?

04.05.1984

Professor Hans Peter Bull, Universität Hamburg

Verändert der Computer unsere Lebensgewohnheiten und am Ende gar unsere Wertordnung? Es gibt viele ernst zu nehmende Beobachter, die eben dies vorhersagen, und in der Tat ist es schwer zu glauben, daß die ständige Konfrontation mit den übermenschlichen Leistungen und der unmenschlichen Exaktheit der Computer für die Gedanken- und Gefühlswelt der Menschen unbedeutend bleiben könnte. Gewiß - der Mensch kann vieles Fremde verkraften und trotz Anpassung an veränderte Umwelt seine Identität bewahren aber die Erfahrungen mit anderen Erscheinungen der Technik - Elektrizität, Auto, Flugzeug, Telefon und Fernsehen - sprechen dafür, doch erhebliche Veränderungen im sozialen und privaten Leben anzunehmen. Auch normative Vorstellungen haben sich bereits gewandelt: Man erwartet heute, sehr schnell von einem Ort zum anderen zu gelangen, man fordert bei interessanten Ereignissen gleichzeitige Berichterstattung in den elektronischen Medien, und man fordert von anderen, ebenso mobil und informiert zu sein, wie man selbst ist.

Veränderte Denkweise

Sozialpsychologen bemerken schon seit langem solche Prozesse der Umorientierung. So stellt Arnold Gehlen bereits vor einem Vierteljahrhundert fest, daß "an der Technik entwickelte Denkweisen" sich "in nichttechnischen Gebieten, wo sie unangemessen sind" fortsetzen. Er sprach von der "durchgreifenden Intellektualisierung", dem "Abbau von Anschaulichkeit, Unmittelbarkeit und unproblematischer Zugänglichkeit" und notierte die Verwendung mathematischer Methoden in Wissenschaftsdisziplinen, für die sie bis dahin nicht in Frage kamen, zum Beispiel in der Psychologie, Soziologie und Ethnologie¹).

Dieser Trend, der hier bereits unter dem Stichwort "Formalisierung" mit angesprochen wurde, hat sich gewiß inzwischen nicht umgekehrt. Das gilt auch für die "technischen Prinzipien", die sich nach Gehlen in den sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen vollständig durchgesetzt haben, das "Prinzip der vollen Beanspruchung", der "Ausschaltung des Leerlaufes, toter Gewichte und ungenutzter Energien", das "Prinzip der vorbereiteten Vollzüge, an den Schienen der Eisenbahn ablesbar", das zum Grundzug aller Planungen geworden sei, und das "Prinzip der Konzentration auf den Effekt", das "vielleicht die allerbreiteste Anwendung" habe: "Denn über den Menschen des technischen Zeitalters hat der Gedanke des optimalen Effekts eine ganz zwingende Gewalt."

Ganz nüchtern konstatiert Gehlen im Jahre 1957: "Daß nun die heute hochrationalisierte und durch und durch bürokratisierte Gesellschaft die Verwandlung der Person in einen "Funktionsträger" in bedeutendem Maße verlangt und eine Annäherung an diesen Typus nahelegt, darüber kann kein Zweifel bestehen. Diejenigen Eigenschaften, die eine solche Strukturierung erschweren, erscheinen dann zunächst einmal als unerwünscht, gleichgültig ob es sich um asoziale oder geniale handelt. Überall, wo in der wesentlich unstabilen Gesellschaft der Industriezeit die Herausarbeitung von Stabilisationskernen gelingt, ist dieser Typus am Werke, und so wie jede Sozialordnung einen repräsentativen, sozusagen sprichwörtlichen Typus herausstellt, so die unsere den "Fachmann". Ein Bibliotheksbenutzer hat dazu an den Rand geschrieben: "entsetzlich".

Modellierung des Triebhaushaltens

Durchaus ähnliche Beobachtungen, freilich mit tiefem Unbehagen, hat Bernd Lutterbeck zu der kühnen These komprimiert, die zivilisierte Gesellschaft habe "im Computer genau die Technik erfunden, die sie braucht, um die Verfestigung des Gefühlshaushalts weiter zu reproduzieren". Denn der Computer erzeuge aufgrund seiner unveränderbaren Eigenschaften "zwangsläufige Wirkungen in der Realität, die sich als Veränderung individueller psychischer Strukturen und der Art, wie Menschen Realität verarbeiten, manifestieren". Er wirke "in Richtung einer Modellierung unseres Triebhaushaltes"²). Spontanes, Widersprüchliches oder gar Willkürliches hat - so will der Autor wohl sagen - in den Beziehungen zwischen Organisation und Individuum keinen Platz, wird allenfalls als nicht störender bunter Fleck oder im Interesse der "human relations" geduldet wie das Poster am Arbeitsplatz des Operators. Für den "Gefühlshaushalt sind nach unserer unausgesprochenen sozialökonomischen Aufgabenverteilung die Produzenten und Darsteller bewegter und unbewegter farbiger Szenen und Bilder zuständig - und damit wären wir beim Thema Massenunterhaltung (nicht: "Kommunikation") aber das führt dann wohl doch von den sozialen Funktionen des Computers ab.

Das manche Computer-Konstrukteure und Programmierer eine äußerst spannungsreiche emotionale Beziehung zu den Gegenständen ihrer Anstrengung gewinnen, kann man hier vernachlässigen; bemerkenswert ist schon, daß seit einiger Zeit viele junge Leute - zuerst in Amerika, jetzt auch bei uns - sich tage- und nächtelang mit dem Ausprobieren und Programmieren von Kleincomputern beschäftigen und geradezu besessen sind von dem Gedanken, sich das Gerät gefügig zu machen und dabei zugleich das eigene Gehirn zu disziplinieren, wie der Computer es fordert. Ich mag nicht glauben, daß sie durchweg unmenschlich nüchtern und zu Gefühlsregungen gegen Menschen unfähig seien oder werden könnten - vielleicht sind sie es sogar, die uns aus der Erstarrung vor dem Computer herausführen, wenn sie durchschaut haben, was sie so fesselt.

Partielle Überwältigung

Es wird viel darauf ankommen, wie sich gegen wirkliche und vermeintliche Zwangsläufigkeiten ein selbständiges normatives Denken zur Wehr setzt. In der Staats- oder Rechtswissenschaft ist freilich die Meinung verbreitet, das technische Denken habe das juristische Denken schon überwältigt. Ernst Forsthoff sprach der Technik eine "antiliberale Wirkung" zu, ja er meinte: "Der Geist der Technik, auf nichts anderes bezogen als auf deren Perfektion, schließt individuelle Freiheit grundsätzlich aus."³) Der Schweizer Rechtsprofessor Karl Oftinger schrieb: "Wir stehen vor einer partiellen Überwältigung des Rechts durch die Technik. Die vom Recht geschützten Werte werden technischen Zwecken und Idealen geopfert. Maßstäbe des Technikers ersetzen die Maßstäbe des Juristen." Und er qualifizierte dieses technische Denken als "einseitig und vordergründig", "autoritär, ja despotisch" und "utilitaristisch": "Alles ist machbar, alles ist manipulierbar, selbst der Mensch; Können und Dürfen sind eins . . .". Das harte Urteil wird mit einer Fülle von Beispielen begründet, vornehmlich aus dem Straßenverkehrs- und Luftrecht, wo um technischer Möglichkeiten willen enorme Risiken für Leben und Gesundheit von Menschen in Kauf genommen werden. Heute ist auch deutlich, wie wir unter Mißachtung menschlicher Werte unsere Umwelt zugrunde gehen lassen.

Resignation aber wollen auch solche Kritiker nicht predigen. Wenn Oftinger feststellt, "auf Schritt und Tritt" begegne uns "eine Verwirrung der Maßstäbe", will er das nicht etwa hinnehmen, sondern fordert implizit die Verantwortlichen - Juristen und andere, die zu entscheiden haben - zu strengerem Respekt vor den Grund- und Menschenrechten auf. Und Forsthoff erkennt, daß nur der Staat letztlich in der Lage ist, die Entwicklung zu beeinflussen: "In dem Maße, in dem die Technik die Daseinsverhältnisse bestimmt, wächst dem Staat die Aufgabe zu, zu verhindern, daß die mit den Mitteln der (privaten) Wirtschaft organisierte Technik zu einem sozial und freiheitsschädlichen Machtmittel dieser Wirtschaft wird und die durch die Technik geschaffene Wirtschaftsmacht sich in Rechtsmacht über andere verwandelt." Forsthoff erwähnt dort nicht die Überwältigung durch den Staat selbst. Daß auch gegen die Großorganisation Staat dem einzelnen Freiheitsräume gewahrt oder geschaffen werden müssen, ist jedoch ebenso bedeutsam wie die Freiheitshilfe durch den Staat. In jedem Falle geht es um Recht als gesellschaftliches Gestaltungsmittel und Schutz für den Schwächeren.

Fernöstliche Gelassenheit

Das normative Denken seinerseits erwächst natürlich nicht nur aus eigenen, von den Geistesströmungen der Gesellschaft unabhängigen Quellen und gar ohne Bezug zu den Gegenständen, die es betrifft. Daran erinnert der japanische Jurist Zentaro Kitagawa, wenn er schreibt, der Mensch müsse "über viele Jahre hinaus, wie er die Haustiere gezähmt hat oder wie er mit Materialien umzugehen lernte, aus dem Umgang mit Computersystemen Intuition und Gefühl entwickeln und ein gewisses Know-how ansammeln. "Erst wenn eine solche Geistes- und Gemütsverfassung erreicht ist, wird bei gesetzlichen Regelungen der normativen Seiten der Computergesellschaft von innen heraus aufbauende Kritik und eine erfolgreiche Gesetzgebung möglich werden." Ist unsere zeitliche Perspektive zu kurz? Sind wir Europäer zu ungeduldig? Wir haben offenbar zu Technik und Recht ein anderes Verhältnis, aber vielleicht können wir doch in mancher Beziehung von der fernöstlichen Gelassenheit lernen.

Mit freundlicher Genehmigung nachgedruckt aus dem Titel: Hans Peter Bull "Datenschutz oder Die Angst vor dem Computer". München, Zürich 1984, Piper Verlag, Seite 63 bis 67.

Quellenangaben:

¹) Die Seele im technischen Zeitalter, Hamburg 1957, Seite 33 ff.

²) Persönlichkeitsentfaltung in der industriellen Demokratie. In: Barthel (Hrsg.1), Gefährdet die Informationstechnologie unsere Freiheit? Jahrestagung 1979 der Deutschen Vereinigung für Datenschutz. München/Wien 1980,S. 111 ff. 132

³) In: Freyer, Papalekas, Weippert (Hrsg.) Technik im technischen Zeitalter, Seite 211