Internet löst weitere Wagniskapital-Welle aus

Venture Capital: Immer mehr Geld sucht seine Abnehmer

11.02.2000
Wer eine gute Geschäftsidee hat, muss nicht mehr um Kredite betteln. Der Boom beim Venture Capital (VC) hat längst auch in Europa eingesetzt; Finanziers umwerben Entrepreneure geradezu mit Geld und guten Ratschlägen - vor allem im Wachstumsmarkt schlechthin: dem Internet. Immer mehr Branchenkenner warnen inzwischen sogar vor einer Überhitzung.

Der Begriff Venture Capital (VC) hat in den vergangenen Jahren eine steile Karriere im Vokabular (auch) der Internet-Unternehmensgründer gemacht. England war 1998 der Schauplatz der ersten Hochphase, so Werner Dreesbach. "In Deutschland kann man eigentlich erst seit Anfang 1999 von einer Internet-Gründerszene sprechen", urteilt der IT-Fachmann im Münchner Büro der Amsterdamer VC-Firma Atlas Venture.

Venture- oder Risikokapital, aus Quellen von Privatpersonen, Banken oder auch staatlichen Fonds, wird in private Fonds investiert, deren Verwalter die Venture Capitalists (VCs) sind. Sie stecken das Fondskapital in die Gründung, den Ausbau oder die Übernahme von Unternehmen. Genauer genommen dürften sich jedoch nur solche Fonds-Gesellschaften als VCs bezeichnen, die schon sehr früh bei einer Firma eingestiegen sind - "Venture" bedeutet schließlich "Wagnis". Zudem beschränken sich heutige VCs nicht darauf, Investitionskapital zu beschaffen. Sie beteiligen sich an den Unternehmen, übernehmen meist einen Sitz im Aufsichtsrat und unterstützen die häufig unerfahrenen Entrepreneure beim Startup-Management.

Denen reichen fürs Erste Ideen und Unternehmergeist - auch und gerade im Internet. Wer in der Lage ist, gedankliche Verbindungslinien zu ziehen vom richtigen zum virtuellen Leben, stößt immer wieder auf unerschlossenes Online-Terrain. Mit der Suche in Millionen Web-Seiten statt endlosen Wühlens in weit verstreuten Archiven, mit Online-Auktionen und Einkäufen am Bildschirm ist das Potenzial längst nicht ausgereizt. Online-Geschäftsideen ohne Zahl drängen sich auf. Klar ist aber auch, dass die Zeit der ganz großen "Investitionswürfe" vom Kaliber Netscape, Yahoo, Ebay oder Amazon.com vorbei ist; Aktien, die wenige Wochen nach dem IPO einige hundert Mal so viel wert sind wie bei der Emission, wird es mutmaßlich weder in den USA noch in Europa mehr geben. "Amazon, Yahoo und AOL haben die Revolution ausgelöst und die Regeln verändert", stellt Yves Sisteron fest.

Er ist Gründungspartner der VC-Firma Global Retail Partners aus Los Angeles, die seit einiger Zeit mit einem Londoner Büro in Europa vertreten ist und im Februar auch den Schritt nach Deutschland macht.

Die Business- und Technikmodelle für viele Startups existieren bereits; sie warten oft nur darauf, von den richtigen Leuten in die richtigen Märkte gebracht zu werden. "Das Internet fördert die Entstehung von Unternehmen mit geringen Anforderungen an das Expertentum", meint Sisteron. Der gebürtige Franzose findet das zwar "ein ganz klein bisschen zynisch", resümiert jedoch: "Jeder 25-Jährige mit einem Wirtschaftsabschluss kann eine Internet-Firma gründen. Die Einstiegsbarrieren sind sehr niedrig.

Unabhängig davon steckt jeder Jungunternehmer zu Beginn in einem Dilemma: Um Ideen und Konzepte kommerziell umsetzen zu können, muss Kapital beschafft werden. Das indes ist geradezu unfassbar einfach geworden, wie Insider wissen. Niemand muss mehr Klinken putzen, um letztlich zu rigiden Konditionen ein knappes Finanzpolster zu erhalten und danach mit seinem Unternehmen allein gelassen zu werden. Im Gegenteil: Die VCs sind angestrengt auf der Suche nach Beteiligungsmöglichkeiten; bei den Verhandlungen treten sie entsprechend konziliant auf, berichten die Internet-Entrepreneure unisono. Auch die VCs selbst geben sich keine Mühe, zu verheimlichen, dass sie nicht mehr automatisch am längeren Hebel sitzen.

"Immer mehr Gründer gehen zu einem Venture Capitalist und sagen: Vor zwei Stunden war meine Company 35 Millionen Mark wert. Seitdem war ich auf einem anderen Meeting, und jetzt ist der Wert auf 40 Millionen Mark gestiegen", schildert Julie Meyer, Gründerin der Jungunternehmer-Community First Tuesday, plakativ und zugleich zutreffend die Verhältnisse. First Tuesday ist selbst ein Beleg dafür: Aus dem ursprünglichen Insider-Beisammensein am ersten Dienstag jedes Monats in einer Londoner Kneipe ist ein Event in 30 europäischen und überseeischen Städten geworden.

Kehrseite der Medaille: "Wer heutzutage kein Kapital auftreiben kann, sollte besser dankbar sein für diesen Schuss vor den Bug. Denn er ist mutmaßlich nicht gut genug, um sich als Unternehmer durchzusetzen", beschreibt Max Burger-Calderon, Fonds-Manager für Internet- und IT-Investments bei der europaweit tätigen VC-Gesellschaft Apax Partners, die Jagdgründe, in denen eine zunehmende Anzahl von Kapitalgebern hinter dem immer knapper werdenden Gut vielversprechender Produkt- und Serviceideen her ist. Der Apax-Mann gilt als Urgestein in der deutschsprachigen Venture-Capital-Szene und hat schon andere Zeiten erlebt: In den achtziger Jahren gab es bereits einmal eine VC-Welle. Ein Investitionsschwerpunkt war seinerzeit die Gentechnik - ein Markt, der aber recht rasch wieder in sich zusammenfiel und eine Menge von Fonds mit in den (finanziellen) Abgrund riss.

Dass der Regen an Risikokapital in den 80er Jahren weitgehend fruchtlos versiegte, lag auch am Mangel von "Exit"-Möglichkeiten. Im Klartext: Es gab wenig kalkulierbare Möglichkeiten, das investierte Kapital wieder zurückzuholen. Börsengänge an der Frankfurter Aktienbörse, an regionalen oder internationalen Börsen waren für Startups kaum zu bewerkstelligen - auch, weil Privatanleger sich damals seltener auf das Risiko von Aktienkäufen einließen als heute.

Seit März 1997 gibt es mit dem Neuen Markt der Frankfurter Wertpapierbörse auch in Europa einen wichtigen Handelsplatz für technologieorientierte Wachstumsunternehmen. Dies war bis dahin den US-Anlegern in Form der New Yorker Technologiebörse Nasdaq vorbehalten gewesen, wo schon zahlreichen Investoren in Startups aus dem Silicon Valley der "Exit" massiv vergoldet worden ist. Beim Erscheinen der vorliegenden CW-Ausgabe werden vermutlich 213 Unternehmen am Neuen Markt gelistet sein. Davon legten 139 Firmen (von insgesamt 160 an der Frankfurter Börse) allein im vergangenen Jahr ihren Börsenstart hin. Damit darf sich der Neue Markt das Etikett der größten IPO-Plattform in Europa anheften. Das Gesamtvolumen aller Emissionen seit dem Start hat mittlerweile zehn Milliarden Euro überschritten. Der Aktienwert aller Unternehmen liegt bei 100 Milliarden Euro (Stand: 25. Januar 2000).

Der Neue Markt wirkt wie ein Turbolader, sowohl für die Gründer- als auch die VC-Szene; fast zwei Drittel aller Unternehmen am Neuen Markt sind VC-finanziert. Den Ladedruck nochmals erhöht hat die fast gleichzeitig von den USA nach Europa herüberschwappende E-Commerce-Euphorie, stellt Burger-Calderon fest. Und noch einen dritten Faktor für die Welle von Firmengründungen führt der Apax-Mann an: die Investitions-Förderprogramme der Technologie-Beteiligungsgesellschaft (TBG), einer Tochter der Deutschen Ausgleichsbank, und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Töpfe, aus denen es bis zu 1,5 Millionen Euro für Startups gibt.

Heute wäre eine Markteinführung aus eigenen Mitteln keine Alternative mehr. Die Geschwindigkeit, mit der jeder Markt, ob Portal, Auktion oder E-Shopping, von Wettbewerbern arrondiert wird, sobald eine Geschäftsidee publik geworden ist, läßt keinen vorsichtigen, tastenden Start zu. Dennoch sind europäische, speziell deutsche Entrepreneure immer noch deutlich konservativer als die Amerikaner, meinen Branchenkenner. "Beim Abschätzen von Markt- und Umsatzvolumina greifen die Amerikaner im Zweifelsfall immer eher hoch als niedrig", hat Gert Köhler beobachtet. "Wenn es in einem Business-Plan Umsatzschätzungen zwischen 30 und 500 Millionen für die nächsten drei Jahre gibt, dann gehen die von 500 Millionen aus und fangen ungerührt an, für dieses Volumen die entsprechenden PR- und Marketing-Mittel zu verbrennen", so der Geschäftsführer der Münchner Technologieholding.

Einem geflügelten Wort zufolge muss ein Unternehmer seinen Kapitalgeber auch nachts um drei anrufen können, wenn es Probleme gibt. "Ganz so ist es nicht", wiegelt Köhler ab, aber in der VC-Branche werde schon mehr als 50 bis 60 Stunden pro Woche gearbeitet. Einen Tag pro Woche muss sich ein VC-Spezialist, so die gängige Faustregel, mit jedem seiner Portfolio-Unternehmen befassen, um wirklich helfen zu können. Dass es in der Beziehung zwischen Risikokapitalisten und Jungunternehmern längst nicht mehr ums Geld allein geht, ist kennzeichnend - auch für die "neuen VCs" wie Earlybird oder Wellington Partners aus München, meint Niko Waesche. An der London School of Economics legt er gerade letzte Hand an seine Doktorarbeit über die Finanzierung von Startup-Unternehmen in Deutschland und baut parallel dazu in München ein Deutschland-Büro für die amerikanische VC-Firma Global Retail Partners auf, eine Tochtergesellschaft der New Yorker Investmentbank Donaldson, Lufkin & Jenrette.

Die neuen VCs haben "absolute Spitzenfirmen" im Portfolio, urteilt Waesche. Bei Wellington ist etwa die Auktions-Site Alando vertreten, die Mitte 1999 nach drei operativen Monaten vom US-Vorbild Ebay übernommen wurde, dazu der Chip-Broker ACG, seit Juli 1999 am Neuen Markt notiert, oder auch Immobilienscout 24. Solche Finanzierungen verlangen allerdings hohe Risikobereitschaft, spezielle Kenntnisse von Teilmärkten sowie die Fähigkeit zu sehr schnellen Entscheidungen. Damit haben die VC-Youngster ihren etablierten Wettbewerbern wie der Technologieholding, TVM, Atlas oder Apax einiges voraus, provoziert Waesche die Platzhirsche. Letztere seien bereits seit zehn, teilweise seit über 15 Jahren tätig, trauten sich aber erst seit einem oder zwei Jahren an Internet-Investments heran. Um so mehr Gas geben sie dort allerdings jetzt.

Von der Spezialisierung der VCs auf eine bis maximal drei Branchen können die finanzierten Unternehmen nur profitieren - vorausgesetzt, die Finanzierungsgesellschaften verfügen über genügend Experten, um ihre nicht selten direkt von der Uni kommenden Schützlinge durch die Fährnisse des Unternehmertums zu geleiten. Bei Wellington nimmt man diese Kompetenz für sich in Anspruch; das Motto lautet: "Wir geben auch noch Geld" - aber eben noch viel mehr. Speziell die Personalbeschaffung, wegen der Knappheit an IT-Experten eine der ganz hohen Hürden für Startups, sehen die Münchner als ihre Stärke an. "Wir bauen den Unternehmern die Teams zusammen", verspricht Wellington-Partner Frank Böhnke.

Hier kommt nochmals die Zeit ins Spiel, die eine VC-Firma ihren Schützlingen widmen kann. Ein Tag pro Woche, besagter "Common Sense" also - selbst das ist auf die Dauer kein billiges Unterfangen, denn gute VCs arbeiten nicht für ein Sachbearbeitergehalt. Deshalb gehen Insider wie Technologieholding-Frontmann Köhler auf Dauer von einer Marktbereinigung aus: "Es wird einen Shakeout unter den VCs geben."

Business Angels stoßen schnell an ihre GrenzenDas personalintensive und persönliche An-die-Hand-nehmen ist das Kennzeichen der "Business Angels". Meist sind das Privatinvestoren, die neben Kapital ihre persönlichen Management-Erfahrungen in engem Kontakt mit den Entrepreneuren vermitteln. Obwohl sie durchaus begütert sind, reichen die Mittel der Angels - wenn sie als alleinige Investoren auftreten - normalerweise nur für die reine Anschubfinanzierung eines Unternehmens. "Die ersten drei oder vier Monate kann man mit einem Angel zusammenarbeiten", schildert Waesche das übliche Verfahren. "Das Kapital sollte reichen, um die ersten fünf oder zehn Leute einzustellen." Die nächste Finanzierungsrunde, bereits mit höherem Volumen, ist dann ein VC-Fall.

Unternehmer und Finanziers neigen zu Optimismus. Sie sind sich einig, dass der Boom VC-finanzierter Unternehmensgründungen in Europa noch längst nicht am Ende ist. Ohne auf einen Rausch wie im Gründerparadies Silicon Valley zu setzen, glauben Insider wie Köhler, "dass die VC-Branche noch 15 Jahre weiter wächst". Und Atlas-Mann Dreesbach verheißt "auch in den nächsten zwei Jahren noch einige Milliarden-IPOs". Wann allerdings den privaten und institutionellen Anlegern das Potenzial der Internet-Aktien nicht mehr reichen wird, um Kursphantasien zu entwickeln; wann sie ihr Geld statt in Kursphantasien doch lieber in konkrete Profiterwartungen stecken werden, darauf wagt noch niemand eine Antwort. Apax-VC-Spezialist Burger-Calderon: "Die Frage stellen wir uns alle."

DIE SECHS PHASEN DES VENTURE-CAPITAL-ZYKLUSUnter dem Begriff "Early-Stage-Finanzierung" versteht man die ersten drei Phasen:

-Seed-Finanzierung: Sie beinhaltet die finanzielle Unterstützung von der ersten Idee bis zur Entwicklung von Prototypen und des Unternehmenskonzeptes. In dieser Zeitspanne stehen hohen Investitionen und Aufwendungen keinerlei Erträge gegenüber.

-Startup-Finanzierung: Diese Phase umfaßt die Unternehmungsgründung. Es erfolgt eine Erstausstattung mit Ressourcen, um Produktions- und Marktreife weiterzuentwickeln. Dabei steht die Erarbeitung eines detaillierten Marketing- und Vertriebskonzeptes im Vordergrund.

-First-Stage-Finanzierung: Hier wird Kapital für die Produktionsaufnahme und den Aufbau des Vertriebsnetzes benötigt. Das betreffende Unternehmen sollte erste Einnahmen erwirtschaften.

Die beiden nächsten Phasen fasst man unter dem Begriff "Expansion" zusammen:

-Second-Stage-Finanzierung: Sie betrifft die erste Phase der Expansion. Die Vertriebskanäle im In- und Ausland werden ausgebaut; der Breakeven sollte erreicht und somit das unternehmerische Risiko gesenkt werden, was auch die Aufnahme von Fremdkapital ermöglicht.

-Later-Stage-Finanzierung: Durch die Erweiterung der Produktions- und Vertriebskapazität werden das Marktpotential ausgeschöpft sowie neue Märkte erschlossen, gegebenenfalls neue Produkte eingeführt.

Die letzte Phase ist dem sogenannten De-Investing vorbehalten:

Möglichkeiten: Management-Buyout, ein Verkauf an Dritte oder der Börsengang.

Abb.: Geldfluss: Wachstumsfinanzierung ist nach wie vor der wichtigste Zweck von Venture Capital. Quelle: Technologieholding