Die Erben von Wiktor Gluschkow (Teil 2)

Ukraine sucht den Anschluß an die westliche IT-Industrie

28.03.1997

Im ersten Teil dieses Beitrags war neben den schwierigen Strukturproblemen der Ukraine vor allem von den vielen, insbesondere jüngeren Wissenschaftlern aus dem Gluschkow-Institut in Kiew die Rede, das den Namen des auch im Westen bekannten früheren Mathematikers und Kybernetikers Wiktor Gluschkow trägt. Nicht wenige der aus dieser Elite stammenden Experten versuchen derzeit ihr Glück mit eigenen IT-Firmen - nicht selten mit beachtlichem Erfolg, etwa im Bankwesen oder anderen Branchen. Aufgrund der praktisch auf Null reduzierten staatlichen Förderung wissenschaftlicher Einrichtungen haben überdies zahlreiche Projektteams auf der Basis praxisrelevanter Arbeiten Unternehmen gegründet und befinden sich damit de facto in einer Doppelanstellung. Viele dieser "Zwitterfirmen" verbinden hohes technisches Niveau mit entsprechend erfolgreicher Arbeit - nicht selten übrigens für westliche Auftraggeber. Und genau diese Unternehmen sind es auch, die in erster Linie für Kooperationen mit ausländischen Partnern in Frage kommen.

Doch wie können die in der Ukraine dringend erforderlichen Kooperationen und Joint-ventures angebahnt werden? Die in Teil 1 beschriebene, direkt beim Präsidenten angesiedelte Nationalagentur für Informatik (NAI) ist als oberste Planungsbehörde ohne Zweifel die erste Adresse für alle, die mit ukrainischen Unternehmen ins Geschäft kommen wollen. Eine weitere Anlaufstation verkörpert der sogenannte Gluschkow-Fonds, der sich zusammen mit der Eschborner Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit um die Kontaktvermittlung zwischen der ukrainischen IT-Industrie sowie ausländischen kommerziellen und wissenschaftlichen Organisationen bemüht. Informations- und Service-Angebote für Investoren bieten auch der Staatliche Investi- tionsfonds der Ukraine (SIF) mit seinem zentralen Informationsdienst "Sprint-Inform". Dieses in der Ukraine einzige staatliche Netzwerk bildet zugleich die Informationsbasis für die gesamte Investitionstätigkeit im Lande.

Last, but not least kann aber jeder, der in der Ukraine nach möglichen Kooperationspartnern Ausschau halten will, auch die jährlich in Kiew stattfindenden IT-Messen besuchen. Der renommierteste Veranstalter solcher Events ist die Firma Euroindex, die aufgrund ihrer Servicepalette (Marktforschung, Firmenkataloge, Marketing und Zeitschriften) wohl mit den besten Überblick über den ukrainischen IT-Markt haben dürfte. Nach Einschätzung des Euroindex-Managers Walerij Pekar haben rund 50 bis 60 ukrainische Unternehmen das Zeug, um auf den internationalen IT-Märkten bestehen zu können. Nachfolgende "Kurzportraits" einiger dieser Firmen sollen dazu dienen, einen ersten Eindruck sowie Ansatzpunkte für mögliche Kooperationen zu vermitteln.

Kurzportraits einiger Firmen

Arcada nennt sich beispielsweise ein CAD-Systemhaus, das sich vorrangig mit der Entwicklung und dem Vertrieb von Autodesk-basierten Lösungen befaßt und in allen größeren ukrainischen Wirtschaftszentren und Regionen präsent ist. Das Kernteam der Mitarbeiter stammt aus dem früheren Konstruktionsbüro "Jushnoe" für Raketenentwicklung. Die Softwareschmiede verfügt mittlerweile über Kontakte zu einer Reihe von Partnerfirmen in Deutschland und kam unter anderem mit der in Dresden ansässigen Siemens-Nixdorf Osteuropa GmbH und mit Telko aus Chemnitz ins Geschäft. Neben dem klassischen Systemhausgeschäft als Autodesk-Partner tanzt die ukrainische Company auch noch auf anderen Hochzeiten, zum Beispiel in Sachen Virtual Reality bei der robotergestützten Steuerung der Demontage des Havariesektors in Tschernobyl oder der 3D-Modellierung und Visualisierung von Bauwerken.

Inkosoft, ein Systemhaus für IT-Lösungen im Bankenbereich, ist eine Neugründung mit ursprünglich vier Mitarbeitern der später in große Schwierigkeiten geratenen Bank Inko. Nach dem zwischenzeitlichen Rückzug der Bank befindet sich Inkosoft heute im Besitz von fünf privaten Anteilseignern; die Mitarbeiterzahl ist mittlerweile auf rund 60 Personen angestiegen. Für das Wachstum mit ausschlaggebend war die Vermarktung der noch mit massiver finanzieller Hilfe des früheren Gesellschafters entwickelten Bankensoftware "Total Bank"; gleichzeitig verfügt Inkosoft heute über besonderes Know-how bei der Entwicklung großer Informationssysteme unter Unix beziehungsweise auf der Basis von Client-Server-Strukturen.

Inkosoft ist darüber hinaus Internet-Provider, Betreiber eines Banken-Rechenzentrums und engagiert sich beim Thema Zahlungsverkehr im Internet. Das Unternehmen hat sich im Laufe der Zeit zu einer Firmengruppe mit einer Leasing-, einer Software-Entwicklungs-, einer Consulting- und einer Außenhandels-Division entwickelt.

Viel Geschick bei der Umstellung in Richtung Marktwirtschaft bewies das Institut für angewandte Informatik (Iprin) unter seinem Leiter Professor Stognij. Dessen jahrelange Erfahrungen als Wissenschaftler und Manager ermöglichten es ihm, sein Institut durch die Krisenjahre 1993 bis 1995 zu führen. Gegenwärtig läuft die Privatisierung des Instituts, das in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wird. Das Profil des Iprin prägen fünf Arbeitsrichtungen, die durch eine ganze Palette von Firmen unter dem Dach des Iprin "repräsentiert" werden. Sie alle suchen auch und gerade in der Bundesrepublik Lieferanten, Kooperations- und Vertriebspartner.

Hytec Hypertext Technology, um nur einige dieser Firmen zu nennen, hat sich auf Hypertextanwendungen für die Dokumenta- tion komplexer technischer Systeme spezialisiert und ist darüber hinaus im Bereich Internet und Intranet tätig. Antec befaßt sich intensiv mit der Verbindung von Client-Server-, Internet- sowie Datenbanktechnologien und kann bereits renommierte Kunden wie Bull oder die Effektenbörse in Paris vorweisen. Das Acropolis Team entwickelt seit geraumer Zeit mit großem Erfolg Multimedia-Produkte in der Sparte "Edutainment" samt entsprechenden Präsentationen auf CD für US-amerikanische und deutsche Auftraggeber.

Vorteile gegenüber Indien

Neben den genannten Beispielen (weitere mögliche und interessierte Kooperationspartner entnehmen Sie bitte der Tabelle) werden von vielen ukrainischen IT-Firmen allgemeine, technologieorientierte Services - in aller Regel Entwicklungsarbeiten - angeboten. Dies ist vor allem für Auftraggeber interessant, für die der Entwicklungsstandort Ukraine Vorzüge gegenüber anderen Wettbewerbsländern wie etwa Indien hat. Was nicht selten dann der Fall ist, wenn spezielle Kenntnisse in Sachen oder Anwendung gefordert sind - zum Beispiel deutsche Sprachkenntnisse, geografische Nähe oder eine bestimmte Größe und Erfahrung des Kooperationspartners.

Weitgehend erfüllt dieses Anforderungsprofil unter anderem die MEC GmbH Lviv in Lemberg, eine Tochter der MEC GmbH in Wien. Schwerpunkt des 1994 von früheren Mitarbeitern am Forschungsinstitut für Radiotechnik gegründeten Unternehmens ist ebenfalls die Software-Entwicklung. Mit rund zwei Dutzend festen und einem Stamm freier Mitarbeiter ist MEC Lviv vorrangig für Banken, Versicherungen sowie wissenschaftliche Einrichtungen in Deutschland und Österreich tätig.

Eine weitere, zahlenmäßig nicht zu unterschätzende Gruppe ukrainischer Unternehmen kann fertige F&E-Resultate und damit weitgehend marktreife Produkte für, vorsichtig formuliert, wissenschaftsintensive Nischen anbieten. Gewünscht als Kooperationspartner sind dort vor allem IT-Anwendungsfirmen, die bereit sind, in eine gemeinsame Produktion - vorzugsweise in der Ukraine - zu investieren. Eine dieser Firmen ist Timer. Geschäftsführer Witalij Bardatschenko, einer der schärfsten Kritiker der ukrainischen Wirtschafts- und Industriepolitik (siehe Teil 1), hat zusammen mit seinen Kollegen ein neuartiges Schloß mit elektronischer Personenidentifikation erfunden sowie patentieren und in einer kleinen Serie produzieren lassen.

Deutsche Partner gesucht

Das Patent trägt die Nummer 4 201 488 des Deutschen Patentamtes und die zunächst nichtssagende Bezeichnung "Informationseingabe-Vorrichtung". Gleichzeitig ist die Entwicklung auch in der Ukraine selbst, in Rußland, den USA, Korea und Japan geschützt. Der Erfinder sucht für die Massenproduktion seiner elektronischen Schlösser, die in ihrer neuesten Version auf der Basis eines definierten Codes 400 Milliarden unterschiedliche Kombinationen für den Schließmechanismus ermöglichen, händeringend nach Partnern in Deutschland - insbesondere ASIC-Produzenten und Hersteller von mechanischen Schloßkomponenten.

Kontakte zu Risikokapitalgesellschaften interessieren Bardatschenko ebenso wie zu Banken, Automobilherstellern oder anderen möglichen Anwendern seiner Technologie. Auch die gerade zu Ende gegangene CeBIT wollte das Timer-Management zur entsprechenden Kontaktpflege nutzen. "Die Patente in den wichtigsten Märkten der Welt versprechen gute Geschäfte beim Verkauf von Lizenzen, Know-how und eigenen Lösungen", gibt sich der Timer-Chef optimistisch. "Der Absatz unsere Produkte garantiert nicht nur hohe Dividenden, sondern auch Arbeitsplätze und Anerkennung für unser Land als moderne High-Tech-Nation." Das alles kann die Ukraine wahrlich brauchen.

Angeklickt

Alle Blicke westwärts gerichtet hat die vielfach unterschätzte ukrainische IT-Industrie. Die auch aus anderen Zusammenhängen bekannten Startschwierigkeiten in die postkommunistische Ära sorgen für die händeringende Suche nach westlichen Kooperationspartnern. Der in CW Nr. 11 vom 14. März 1997, Seite 69, erschienene erste Teil des Streifzuges durch den Südwesten der ehemaligen Sowjetunion beschäftigte sich mit den strukturpolitischen Hemmnissen einer Öffnung des dortigen IT-Marktes. Der zweite und letzte Teil beschreibt einige der für ausländische Investoren interessantesten Firmen.

*Mathias Weber ist Geschäftsführer des Unternehmensverbandes Informationssysteme e.V. in Berlin.