Stimmen aus dem deutschen Telecom-Markt (III): Siemens VS "Corporate Networks sind fuer uns kein Zukunftsthema mehr"

06.10.1995

Zum magischen Datum 1. Januar 1998 wird viel gesagt und geschrieben - und dennoch scheint man ueber die alten und neuen Player im kuenftig liberalisierten deutschen Telecom-Markt nicht allzuviel zu wissen. Dies gilt auch und vor allem fuer die Ausruesterindustrie, die vielzitierten Haus- und Hoflieferanten aus alten Monopolzeiten. Mit Ludwig Hoffmann und Hans Tilo Krueger, Leiter beziehungsweise Technischer Direktor des neuen selbstaendigen Geschaeftsgebietes Vernetzungssysteme (VS) der Siemens AG, sprach zu diesem Zweck CW-Redakteur Gerhard Holzwart.

CW: Waehrend andere vermeintliche oder tatsaechliche "Big Player" im deutschen Telecom-Markt sich erst noch positionieren muessen, hat Siemens bereits vor eineinhalb Jahren eine grosse Restrukturierung (siehe Lexikothek, Anm. d. Red.) vorgenommen. Welche erste Bilanz ziehen Sie?

Hoffmann: Das neu entstandene Geschaeftsgebiet Vernetzungssysteme ist nichts anderes als die Konsequenz aus der Tatsache, dass man einen Zustand im Unternehmen aendern wollte, bei dem das Thema Vernetzung von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachtet wurde. Das gilt fuer die sogenannte Rechnerecke und damit fuer Siemens- Nixdorf ebenso wie fuer den Bereich Oeffentliche Netze oder das klassische Kabelgeschaeft. Wir hatten es mit einer Zersplitterung der eigenen Strukturen bis hinein in den Vertrieb zu tun, wo es in Einzelprojekten oft zu mehreren Angeboten aus dem Hause Siemens kam. So etwas ist toedlich, vor allem auch angesichts der zunehmenden Internationalisierung des Geschaefts. Was uns also fehlte, war das beruehmte "one face to the customer" beziehungsweise eine schlagkraeftige Einheit als Tueroeffner, auch fuer andere Kerngeschaefte.

CW: Wenn man verschiedene Welten zusammenfuehrt, funktioniert dies aber in der Regel nicht ohne entsprechende Reibungsverluste.

Hoffmann: Das ist richtig. Wir haben, wenn Sie so wollen, nicht nur unsere Produkte, Dienstleistungen und OEM-Partnerschaften harmonisiert, sondern auch ganz unterschiedliche Unternehmenskulturen miteinander verbunden. So etwas koennen Sie naturgemaess nur mit einem Teil der Menschen machen, was dazu gefuehrt hat, dass wir die Kompetenz unserer Fuehrungsmannschaft entsprechend verstaerken mussten.

Krueger: Wobei wir uns aber nicht nur draussen im Markt, sondern auch innerhalb des eigenen Hauses umgesehen haben. So setzt sich zum Beispiel ein nicht unerheblicher Teil unserer neuen Entwicklungsmannschaft aus Nachwuchskraeften zusammen - mit einem Altersdurchschnitt in einigen Bereichen von weniger als 32 Jahren.

CW: Sie sprachen von der zunehmenden Internationalisierung des Geschaefts. Spielt fuer den Weltkonzern Siemens der deutsche Markt nur noch eine untergeordnete Rolle?

Hoffmann: Ganz im Gegenteil, er ist und bleibt der wichtigste Markt in Europa. Was allerdings nichts daran aendert, dass wir nicht besonders gluecklich darueber waren, mit den Zugaengen von Siemens- Nixdorf, dem Corporate-Network-Geschaeft und unserem Kabelbereich zunaechst noch deutschlandlastiger geworden zu sein - noch dazu, wo wir mit gewissen Stammhausstrukturen noch Probleme haben. Andererseits sind wir dort, wo momentan das Geschaeft boomt, etwa in den USA und Grossbritannien, mit schlagkraeftigen Einheiten vertreten, wie ueberhaupt ein Grossteil unseres derzeitigen Umsatzwachstums in den Kernlaendern Europas generiert wird.

CW: Bleiben wir beim eigentlichen Thema, dem deutschen Telecom- Markt. Viele singen in diesem Zusammenhang das Klagelied von einer Zeitenwende fuer die bisherigen Haus- und Hoflieferanten der Deutschen Telekom.

Hoffmann: Das kommt auf die jeweilige Betrachtungsweise an. Man kann auch heute noch mit Netzequipment und Endgeraeten Geld verdienen, muss aber genau wissen, wie. Andererseits ist es einfach eine Tatsache, dass die Telekom ihr Budget fuer Investitionen in Netzbasisinfrastrukturen, seien es paketvermittelnde Datennetze oder das integrierte Datenetz (iDN), halbiert hat.

CW: Die Telekom verordnet sich also eine Schlankheits- und Fitnesskur, um im kuenftigen Wettbewerb bestehen zu koennen, waehrend Firmen wie Alcatel und Siemens dies ausbaden muessen.

Hoffmann: So dramatisch wuerde ich es nicht formulieren. Man kann nicht fuer alle Schwierigkeiten den Sparkurs der Telekom verantwortlich machen. Dass man in Bonn den Rotstift angesetzt hat und nicht mehr wie frueher einfach nur Netzkapazitaeten aufbaut, ist uebrigens nur eine Seite der Medaille. Eine Reihe zum Teil sehr wichtiger Investitionsentscheidungen und damit schon bewilligte Gelder werden zurueckgehalten, solange die Zusammenarbeit mit France Telecom und Sprint nicht unter Dach und Fach ist. Andererseits hat die Telekom durchaus schon in eine Reihe neuer Hochgeschwindigkeitsnetze, denken Sie nur an Datex-M, investiert.

CW: Wenn im deutschen Equipment- und Endgeraetemarkt noch, wie von Ihnen behauptet wird, Geld zu verdienen ist, sagen Sie uns doch wie.

Hoffmann: Damit es unsere Wettbewerber in der COMPUTERWOCHE nachlesen koennen. Spass beiseite: Erstens kann man dies nicht spezifisch am deutschen Markt festmachen. Zweitens gilt, dass der Wettbewerb heutzutage ein hohes Mass an Kundenorientierung abverlangt. Weg von der Monopol-Versorgungsdenke mit Basisdiensten, und hin zu einer Befriedigung der Kundenbeduerfnisse, heisst also die Devise. Das haben weltweit alle grossen Carrier zu spueren bekommen und natuerlich auch die Ausruesterfirmen. Drittens schliesslich duerfen wir aber bescheiden hinzufuegen, dass Siemens, etwa im Vergleich zur Telekom, schon ein bisschen laenger weiss, wie man sich im internationalen Wettbewerb positionieren und behaupten muss.

So gesehen hat uns der durch die Aufhebung der meisten Monopole bedingte Preisverfall nur noch schneller auf den richtigen Weg gebracht. Wir mussten sowohl die Entwicklungs- als auch die Produktionskosten drastisch herunterfahren und koennen heute bereits die ersten Fruechte unserer Bemuehungen ernten. Zudem war es immer unser Ziel, als Trendsetter in neuen Maerkten schneller als andere Fuss zu fassen, auch wenn dort zunaechst das Umsatzvolumen vielleicht etwas geringer ist. Entscheidend ist, welcher Bedarf sich mittel- und langfristig abzeichnet, was man jetzt sehr schoen am Beispiel von Hochgeschwindigkeitsnetzen auf der Basis von ATM und SMDS sehen kann.

CW: Bedarf entsteht derzeit aber nicht nur im Zuge neuer Techniken, sondern auch durch zusaetzliche Netzbetreiber. Wie laeuft denn Ihr Geschaeft mit den kuenftigen Konkurrenten der Telekom?

Krueger: Da muessen wir mit unserer Einschaetzung noch etwas zurueckhaltend sein. Prinzipiell wuerde ich sagen: sehr interessant. Wobei der Name Siemens nicht immer automatisch als Tueroeffner funktioniert. Das Management der neuen Carrier legt in der Regel ein sehr selbstbewusstes Verhalten an den Tag, so dass ein guter Draht zur einen oder anderen Muttergesellschaft in manchen Faellen nicht immer nur von Vorteil ist. Man will dort schlicht und ergreifend den effizientesten Lieferanten, und gemessen an dieser Praemisse koennen wir mit unserem Marktanteil bei RWE, CNI, Thyssen & Co. sehr stolz und zufrieden sein.

CW: Noch einmal zur globalen Perspektive: Wie saehe denn ein vom "Global Player" Siemens angestellter Vergleich zwischen den Information-Highways in Europa und Nordamerika aus?

Krueger: Rein technisch gesehen ist hier wirklich kein qualitativer Unterschied auszumachen - trotz aller politischen Begleitmusik. Die im uebrigen notwendig ist, weil vor allem die Deutschen es noch lernen muessen, neue Anwendungen schneller zu erkennen und mit entsprechendem Marketing-, Vertriebs- und Support-Know-how beim Kunden zu etablieren. Dies gehoerte bis dato, um es vorsichtig zu formulieren, nicht unbedingt zu den Staerken der Telekom, und natuerlich muessen auch wir als Unternehmen uns da und dort diesen Schuh noch anziehen.

CW: Welche neuen Anwendungen koennten dies Ihrer Meinung nach sein?

Hoffmann: Zunaechst einmal gehen wir davon aus, dass der Telecom- und Networking-Markt nach wie vor, oder besser gesagt, mehr denn je von einer Kosten-Nutzen-Rechnung bei den Anwendern bestimmt wird. Die Zeit der grossen Information-Highway-Visionen, die noch vor zwei Jahren in den USA zu einem regelrechten Multimedia-Fieber gefuehrt hatten, ist passe. Wir haben uns an dem lauten Geschrei so gut wie gar nicht beteiligt und sehen daher in der jetzt einsetzenden Konzentration auf das Wesentliche und Machbare weniger Probleme als andere.

Wenn Sie mich nach neuen Anwendungen fragen, ist meine Antwort eindeutig: Wir beschaeftigen uns derzeit vor allem mit Business- Applikationen im Bereich neuer Hochgeschwindigkeitsnetze. Da reicht die Palette vom Video-Conferencing ueber die Vernetzung von Krankenhaeusern bis hin zum sogenannten Financial Clearing im Bank- und Versicherungswesen. Und wir sollten in diesem Zusammenhang auch nicht den Ausbildungs- und Erziehungsbereich vergessen - wo die Amerikaner zwar um einiges weiter als wir sind, sich aber dennoch auch hierzulande allmaehlich etwas tut. In den USA haben wir jedenfalls erst kuerzlich einen millionenschweren Auftrag zur Vernetzung einer kalifornischen Schule an Land gezogen. Telelearning, Teleteaching und Teleworking sind im Gegensatz zu Video on demand mehr als nur Schlagworte.

CW: Kommen wir zu dem, was heute schon in Deutschland technisch und politisch machbar ist, zum Beispiel Corporate Networks.

Hoffmann: Corporate Networks sind fuer uns fast schon kein Zukunftsthema mehr, weil sie mit Standardtechnik realisiert werden koennen. Man muss einfach beruecksichtigen, dass das Ganze in Deutschland einzig und allein aufgrund der hohen Tarife der Telekom ein so grosses publizistisches Echo gefunden hat und wir hier im Prinzip ueber Dinge sprechen, die in den USA seit Jahren selbstverstaendlich sind.

Krueger: Wir reden hier im uebrigen auch nicht von Hochgeschwindigkeitsnetzen, jedenfalls nicht im PABX-Umfeld. Was nichts daran aendert, dass man ueber diese Netze durchaus auch die Datenkommunikation wirtschaftlich abwickeln kann. Die Technik ist da, man muss sie nur einsetzen. Eine andere Frage ist, wie man die aus unserer Sicht notwendige Migration zur naechsten Technikgeneration, naemlich zu ATM, bewerkstelligt. Denn in Zukunft wird es mehr denn je erforderlich sein, neue Anwendungen und Dienste nicht nur bis zur Nebenstellenanlage, sondern bis zum Teilnehmer zu transportieren.

CW: Wie steht es denn nach Ihren Erkenntnissen um die Marktreife des ewig jungen Hoffnungstraegers Breitbandkommunikation?

Hoffmann: Stand-alone-Knoten auf der Basis von ATM laufen bereits sehr gut; hier haben wir auch schon einiges an Equipment bei unseren Kunden installiert. Bei den grossen, wenn man so will, oeffentlichen WANs und Backbones der Carrier wird es aufgrund von Software- und Performance-Problemen noch ein bis zwei Jahre dauern. Bei der Frage ATM bis zum Desktop wartet man momentan noch auf Anwendungen, die 155 Mbit/s benoetigen. Ein 155-Mbit/s- und auch ein 25-Mbit/s-Port kostet eben ein bisschen mehr als ein 64- Kbit/s- oder 2-Mbit/s-Anschluss, und da rechnet so manches Unternehmen zwei oder dreimal nach, bevor es sich fuer ATM im LAN entscheidet. Andererseits muss hier natuerlich auch die Telekom ihr Tariftableau ueberdenken, denn die Konkurrenz schlaeft nicht. Bei aller berechtigten Euphorie sollten wir aber in diesem Zusammenhang auch Techniken wie FDDI oder Fast Ethernet nicht ausser acht lassen. Trotzdem gilt fuer ATM: Das Geschaeft beziehungsweise die Claims werden jetzt und nicht etwa in zwei Jahren abgesteckt.

CW: Sie sprachen eingangs von einer Harmonisierung Ihrer zahlreichen OEM-Partnerschaften. Koennen Sie dies etwas genauer erlaeutern?

Hoffmann: Ich kann mir vorstellen, worauf Sie hinaus wollen. Wir haben immer dann Partner mit ins Boot genommen, wenn um unsere eigenen Produkte herum Zugangstechnik notwendig war - inklusive einer entsprechenden Dienstleistung. Dass dann die eine oder andere, mit Verlaub gesagt, kleine Company versucht, ihre Zusammenarbeit mit Siemens als strategische Kooperation zu verkaufen, koennen wir nicht verhindern.

Krueger: Wenn Sie uns nach unseren gegenwaertigen OEM-Partnern fragen, so waeren unter anderem Newbridge im TDM-Bereich (= Time Division Multiplexer, Anm. d. Red.) zu nennen und natuerlich Cisco Systems und Bay Networks, wenn es um die Installation unternehmensweiter LANs geht - ein fuer uns nicht unwichtiger Markt. Dass jetzt durch die Entstehung von Bay Networks mit Wellfleet quasi noch ein Partner im Spiel ist, stoert uns nicht weiter. Allerdings werden wir dort schon im Interesse unserer Kunden auf eine gewisse Kontinuitaet bei der weiteren Produktentwicklung und damit auch auf Migrationsmoeglichkeiten achten muessen.

CW: Kann dies auch die Trennung von dem einen oder anderen Partner bedeuten?

Krueger: So etwas macht heutzutage noch wenig Sinn. Router ist, jedenfalls bei genauerem Hinsehen, nicht gleich Router, und - ich wiederhole es - wir haben eine Verantwortung gegenueber unseren Kunden und deren installierter Basis. Trotzdem muessen wir mit unseren eigenen Ressourcen haushalten. Den beruehmten Bauchladen werden wir daher auch in Zukunft nicht vor uns hertragen.

CW: Was ist mit UB Networks?

Krueger: Wir haben uns zu einem Zeitpunkt, als UB Networks gewisse Performance-Probleme hatte, fuer die anderen genannten Firmen entschieden. Dies heisst jedoch nicht, dass ein Kunde von uns, sofern er es moechte, keine UB-Networks-Produkte mehr bekommt. Das gleiche gilt im uebrigen fuer Chipcom und fuer 3Com.

CW: Gestatten Sie mir zum Schluss noch den obligatorischen Blick in die Zukunft. Wann wird es den Service-Provider Siemens geben?

Hoffmann: Ich hatte vorhin zum Ausdruck gebracht, dass wir durchaus Perspektiven bei den Endgeraeten und beim Equipment sehen. Gleichwohl wird natuerlich die Systemintegration auf der Transportebene zu einem immer wichtigeren Thema. Da, behaupte ich mal, liegt heute schon unser Standardgeschaeft. Die zweite Stufe waere dann sicherlich, darauf eine branchenspezifische Loesung aufzusetzen - auch das tun wir bereits. Dann kaeme das eigentliche Outsourcing von Netzen, also das Operating fuer Dritte. Klare Antwort hierzu: Das machen wir auch, obwohl wir es nicht an die grosse Glocke haengen. Dies gilt vor allem fuer Deutschland, wo wir aus einer gewissen Vascom-Historie heraus bisher nicht sonderlich aktiv waren.

CW: Jetzt sind Sie mir aber die letztmoegliche Steigerungsform, naemlich den Netzbetreiber Siemens, schuldig geblieben.

Hoffmann: Auch das wuerde ich nicht ausschliessen, wenn Sie die Option meinen, in unser eigenes Netz dritte Teilnehmer zu integrieren. Hier laufen jedenfalls Gespraeche mit potentiellen Kunden.

Krueger: Ich denke, wir koennen uns guten Gewissens an dem orientieren, was unser Vorstand Volker Jung dazu schon auf der diesjaehrigen CeBIT gesagt hat: "Man soll nie nie sagen."

CW: Gilt dies auch fuer das etwaige Angebot eines oeffentlichen Telefondienstes oder gar fuer eine, in Geruechten immer wieder gehandelte, Beteiligung an der Telekom?

Hoffmann: Ich persoenlich weiss nichts von solchen Plaenen. Ansonsten halte ich es ebenfalls mit unserem Vorstand.