Sachsens Glanz rührt heute von Siliziumscheiben

07.02.2001
Von Kathi Seefeld
Dresden - die ehemalige Vorzeigestadt der sächsischen Mikroelektronik, ist im Gründungsfieber. Vor allem Hightech-Unternehmen siedeln sich an der Elbe an. Inzwischen hat die Region die niedrigste Arbeitslosenquote Sachsens.

Sieben Zentimeter hoch, 260 Gramm schwer - unter der Inventarnummer 1994-334 000 ruht er nunmehr im Museum für Deutsche Geschichte zu Bonn: der Megabit-Chip vom Typ U 61000, Baujahr 1988, made in GDR. Einst hatte Erich Honecker mit stolzgeschwellter Brust dem damaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Michail Gorbatschow einen solchen überreicht. Elf Milliarden Ost-Mark investierte die DDR-Führung zwischen 1986 und 1988, um "bei der Entwicklung mikroelektronischer Bauelemente an der Weltspitze mitzuhalten" und sich von Importen aus dem Westen unabhängig zu machen.

"Unsere Mikroelektronik ist die Größte" spottete dabei so mancher DDR-Bürger. Zudem sah er, dass die einseitige Förderung der "Schlüsseltechnologien" zu weiteren Disproportionen in der Wirtschaft führte und dass es trotz allem eines immer noch nicht zu kaufen gab: mehr oder weniger erschwingliche "Heimcomputer".

Tatsächlich war die DDR unter den Ländern des Ostblocks das einzige, das bei einigem Abstand noch mit den Entwicklungen im Westen mithalten konnte. Siemens hatte seinen Megabit-Sprung gerade zwei Jahre zuvor absolviert. Die bereits 1961 gegründete "Arbeitsstelle für Molekular-Elektronik Dresden", deren Mitarbeiter über Beschaffungsprobleme und Informationsbarrieren hinweg mit dem Megabit-Chip ihre Kompetenz in Sachen Halbleitertechnologie unter Beweis stellten, gehörte zu den ersten deutschen Mikroelektronik-Instituten überhaupt. Ob die Softwareentwicklung für den Schaltkreisentwurf, das Bereitstellen vielfältiger Materialien oder das Beherrschen einer "extremen Reinstraumtechnik", wie es im Begleittext des musealen DDR-Megabit-Chips heißt - die Entwicklung und Herstellung des U 61000 war eine echte Herausforderung für Verfahrensentwickler und Konstrukteure mikrolithografischer Geräte wie Elektronenstrahlschreiber oder Wafer-Stepper.

Das heutige Sachsen und insbesondere die Stadt Dresden profitieren von den wissenschaftlichen und ingenieurtechnischen Leistungen, vom Selbstverständnis, auch unter schwierigen Bedingungen nach kreativen Lösungen zu suchen, inzwischen mehr denn je. Die Hochtechnologen der Welt haben den ehemaligen "Leuchtturm der DDR-Mikroelektronik" für sich neu entdeckt. Wer heute in Sachsen von AMD redet, meint keineswegs mehr die "Arbeitsstelle für Molekular-Elektronik Dresden", sondern die amerikanische Prozessorenschmiede AMD (Advanced Micro Devices).

Seit sich das Unternehmen an der Elbe niederließ - auch im Wissen um das große Fachkräftepotenzial, wie Jens Drews, Unternehmenssprecher der AMD Saxony Manufacturing GmbH, konstatierte-, sieht so mancher sächsische Politiker eine neue Ära für Dresden voraus. Vom "Mikroelektronik-Standort Nummer eins in Europa" schwärmt gar der sächsische Staatsminister für Wirtschaft und Arbeit Kajo Schommer. Die Region sei auf dem Weg, zum "Mekka der Chip-Produktion" zu werden, heißt es.

Dabei wäre es mit dem "Saxony Valley" beinahe nichts geworden. Bei der Umgestaltung der ostdeutschen Wirtschaft hatten die Manager der bundeseigenen Treuhandanstalt nämlich keineswegs vor, Dresden als Standort der Mikroelektronik aufrechtzuerhalten. Doch die sächsische Landesregierung intervenierte. Zu guter Letzt mit Erfolg: In nur fünf Jahren siedelten sich im Dreieck Dresden, Leipzig und Chemnitz führende Unternehmen der Hochtechnologie an.

Szenetreff Markt 9 in Leipzig
Szenetreff Markt 9 in Leipzig

AMD entschied sich 1995, an der Elbe das erste Werk Europas zu errichten, das bei der Produktion von Prozessoren die noch junge Kupfertechnologie verwendet. Nach nur dreijähriger Bauzeit nahm die Fab30 ihren Betrieb auf. 1400 Arbeitsplätze sind bislang entstanden. Zwei Drittel der Mitarbeiter kommen dabei unmittelbar aus der Region, weitere 13 Prozent aus anderen neuen Bundesländern. 27 Prozent von ihnen waren vorher arbeitslos. Knapp 2000 Beschäftigte sollen hier Athlon-Prozessoren fertigen. In das Dresdner Halbleiterwerk von AMD werden insgesamt 3,2 Milliarden Mark investiert. Das ist eine der größten ausländischen Investitionen in den neuen Bundesländern überhaupt.

Wenn die Endausbaustufe erreicht ist, sollen wöchentlich 5000 Siliziumscheiben, die so genannten Wafer, mit jeweils 150 bis 300 Prozessoren die Dresdener Chip-Fabrik verlassen. Ein Gigahertz Taktfrequenz ist gegenwärtig angesagt. Doch AMD will in Sachsen noch höher hinaus. "2001 soll für uns das Jahr der Volumenproduktion, der Geschwindigkeit und der Innovation werden", erklärte AMD Saxony Geschäftsführer Hans Deppe. Im Mittelpunkt des Dresdener Fertigungsgeschehens steht 2001 eine neue Version des Athlon-Prozessors, der noch unter dem Codenamen "Palomino" geführt wird. Er soll mit geplanten Geschwindigkeiten von 1,5 GHz ab dem zweiten Quartal zum Einsatz kommen.

Doch nicht nur AMD greift, wenn es um Sachsen geht, zu Erklärungen mit Superlativen. Der aus dem Siemens-Konzern hervorgegangene Halbleiterhersteller Infineon errichtet auf einem einstigen Armeegelände die wohl leistungsfähigste Chip-Fabrik Europas. In den Dresdner Produktionsstätten werden derzeit etwa zehntausend 200 Millimeter große Siliziumscheiben hergestellt. Wenn in diesem Jahr das neue Werk fertiggestellt ist, will Infineon auch mit der 300-Millimeter-Wafer-Fertigungstechnologie zur Massenproduktion übergehen. Mehr als 170 Stellen hat Infineon derzeit ausgeschrieben. Die Angebote reichen vom Produktingenieur über den Experten für Oxid-Ätzprozesse bis zum Fachberater für Quality-Management.

Selbst von der "Wiege der sächsischen Hochtechnologie" sind inzwischen wieder kraftvollere Töne zu vernehmen. Die einstige "Arbeitsstelle für Molekular-Elektronik Dresden" wurde zum Zentrum für Mikroelektronik Dresden GmbH (ZMD), heute eine hundertprozentige Tochter der Sachsenring Automobiltechnik AG. Sachsenring hatte zum 1. Januar 1999 das ZMD übernommen. Bereits im ersten Jahr schrieb das Unternehmen, das auf Logistikschaltkreise spezialisiert ist, wieder schwarze Zahlen. Im Jahr 2000 konnte das ZMD auf ein Umsatzwachstum von 60 Prozent zurückblicken. Um ein weiteres Wachstum von etwa 40 Prozent pro Jahr abzusichern, wird die Sachsenring AG bis Mitte 2001 rund 49 Millionen Euro in neue Technologien und Hightech-Arbeitsplätze beim ZMD investieren.

Zur Zeit arbeiten mehr als 400 Mitarbeiter beim ZMD. Seit 1995 bildet das Unternehmen wieder selbst Facharbeiter aus. Etwa die Hälfte der Beschäftigten verfügt über ein Hochschulstudium, die andere Hälfte besitzt eine abgeschlossene Berufsausbildung. Mehr als 50 Prozent der Mitarbeiter sind jünger als 40 Jahre. Die Liste der Stellenangebote ist lang. Gesucht werden vor allem Ingenieure für Technologieentwicklung, Marketing, Produkttechnik, elektrische Analytik, für Automobilelektronik und Applikationsingenieure.

Dass sich rund um die Dresdner Halbleiterindustrie ein immer breiter werdender Gürtel von computerorientierten Dienstleistungs- und Internet-Firmen ansiedelt, liegt nahe. Von etwa 400 Unternehmen geht die Sächsische Wirtschaftsförderung derzeit aus. Viel ist von infrastrukturellen Vorzügen auf halber Strecke zwischen Berlin und Prag die Rede. Unterstützt wird von der sächsischen Landesregierung alles, was den Eindruck macht, es könnte moderne Arbeitsplätze schaffen.

Ende vergangenen Jahres zeichnete Staatsminister Schommer als Schirmherr des IT-Gründerwettbewerbs Futuresax 2000 drei Startups aus, die unter Beweis gestellt hätten, "wie innovationsfreudig und kreativ die Menschen im Freistaat sind". So will die im Juni 2000 gegründete Peppercon AG aus Zwickau "kranke Rechner" mit einem neuen Tool künftig "aus der Ferne warten". Gemessen am Gründerboom in Städten wie Berlin, München oder Hamburg geht es in Sachsen ein wenig bescheidener zu, doch von der Aufbruchsstimmung mehr als zehn Jahre nach der Wende lassen sich nicht nur jene anstecken, die frisch von der Uni kommen. So gründeten Leipziger Schüler die Firma "Piksl", eine Weiterentwicklung des Projektes "Senioren @ns Netz", bei dem talentierte Schüler der Generation ab 50 Computerwissen vermitteln. Die Senioren wiederum hoffen auf den speziell für ihre Altersgruppe entwickelten Rechner der sächsischen Lintec AG, der noch in diesem Jahr auf den Markt kommen soll.

Besonders Unternehmen, die technologischen Schrittmachern mit seltenen Materialien oder Equipment zuarbeiten, so Gerald Brendler von der Wirtschaftsförderung Sachsen, bewirken internationales Interesse und einen wachsenden Bedarf an Arbeitskräften. In Freiberg befindet sich Europas einziger Hersteller von Verbindungshalbleiterscheiben auf der Basis von Gallium-Arsenid. Multikristalline Siliziumscheiben für die Photovoltaik kommen ebenfalls aus Freiberg. Der heute etwa 47 000 Einwohner zählende Ort am Rande des Erzgebirges lockt Gäste und Studenten noch immer mit der Formel "Silberstadt" in seine Mauern. Dabei wäre "Chip-Town" nicht weniger treffend. Allein 1998 wurden160 000 Gallium-Arsenid-Scheiben - die, wie es heißt, schnellsten Chips der Welt - in Freiberg hergestellt. Dem vorausgegangen war die Übernahme des einstigen VEB (volkseigenen Betriebes) Spurenelemente im Jahr 1995 durch die israelische Federmann Enterprises Ltd., dem einzigen Hersteller von Gallium-Arsenid-Scheiben in Europa.

80 Millionen Mark wurden in das Freiberger Unternehmen, das nunmehr unter dem Namen FCM (Freiberger Compound Materials) firmiert, investiert, 280 Millionen Mark sollen in den kommenden Jahren für eine zweite Fabrik zur Verfügung gestellt werden. Sind die Investitionen erst einmal abgeschlossen, könnten wieder ebenso viele Menschen Arbeit haben wie vor 1990, schätzt der Bürgermeister. Zu den mittelständischen Unternehmen mit Erfolgsgeschichte und Fachkräftebedarf zählt auch die DAS Dünnschicht Anlagen Systeme GmbH aus Dresden. Die Firma hat sich darauf spezialisiert, jene Abgase zu entsorgen, die bei den Produktionsprozessen in der Halbleiterindustrie entstehen. Die Abgasentsorgungstechnik der DAS unter dem Namen Escape steht mittlerweile in den Fabriken führender Chip-Hersteller überall auf der Welt. Zwei Drittel des Umsatzes der DAS werden im Ausland erzielt.

Das Hightech-Umfeld beflügelt nicht zuletzt Sachsens Forscher. Die vier Universitäten und sechs Hochschulen zählen deutschlandweit zu den innovativsten in Sachen Hochtechnologie. Grundlagenforscher des Instituts für Nachrichtentechnik an der Technischen Universität Dresden arbeiten zum Beispiel an Netzwerken, die nicht per Kabel, sondern durch die Luft mittels elektronischer Funksignale und Lichtwellen Daten austauschen. Sowohl an den Technischen Universitäten in Dresden und Chemnitz als auch an den Hochschulen für Technik und Wirtschaft Dresden und Mittweida sowie der Westsächsischen Hochschule Zwickau werden die Ausbildungs- und Forschungskapazitäten erweitert und modernisiert. Die TU Dresden hat seit Herbst 2000 die Anzahl ihrer IT-Studienplätze verdoppelt und ist nach eigenen Angaben damit die "Nummer eins der deutschen Ausbilder" für die gefragten Spezialisten.

"Überholen ohne einzuholen" war gerade in Sachsen viele Jahrzehnte ein Ausdruck der Ironie mit Blick auf die industrielle Leistungsfähigkeit zu DDR-Zeiten. Inzwischen saust das Land tatsächlich schneller als andere. Der Raum Dresden zählt zu den Regionen mit der höchsten Qualifikations- und der niedrigsten Arbeitslosenquote Sachsens und der neuen Bundesländer. Noch ist die Ausgangsbasis, auf der das wirtschaftliche Wachstum heute beruht, relativ klein, die Arbeitslosenquote im gesamtdeutschen Vergleich noch immer recht hoch. Doch die Veränderungen sind vielerorts deutlich, und die Zahl derer, die sie aktiv mitgestalten, wächst.