IT in der Medienbranche/Hohe Anforderungen an den Bereich Online-Publishing

Rien ne va plus - ohne IT-Kompetenz geht in der Medienzunft nichts mehr

13.10.2000
Sieben Gründe, warum der Bedarf an Informatik-Kompetenz in Verlagshäusern heute, doch mehr noch in naher Zukunft, steil ansteigen wird, nennt im Folgenden Wolfgang Büscher*. Der Redaktionsprofi argumentiert aus redaktioneller Sicht und konzentriert sich auf die Bedienungsfaktoren beim Online-Publishing.

Aller Anfang war einfach: Zu Beginn des Online-Zeitalters genügte es etablierten Medienhäusern meist, einfach auf vorhandene Inhalte zurückzugreifen und diese nahezu unverändert ins Netz zu stellen. So wie zu Beginn der Radio-Ära zunächst aus Zeitungen vorgelesen wurde, fanden sich bei so manchem Netzauftritt eines Verlagshauses schwerpunktmäßig die Inhalte des Blattes wieder. Heute ist die unmodifizierte Online-Abbildung einer vorhandenen Medienmarke allerdings eher die Ausnahme. Online-Journalisten stellen sich den Herausforderungen, die eine nicht mehr von Sendezeiten oder Umfangsseiten limitierte Arbeit mit sich bringt. Die Anforderungen sind allerdings hoch: Mit dem Wegfall der räumlichen Beschränkungen verabschiedete sich auch der Zwang zum Redaktionsschluss - höchste Aktualität ist möglich und gegenwärtig Kennzeichen für fortgeschrittene Angebote. Gleichzeitig fielen auch die medialen Grenzen; Texte können statt mit Fotos auch mit Animationen, kurzen Videosequenzen und Originaltönen illustriert werden. Dabei ist jedoch nicht nur der besondere Einsatz der Redaktionen gefragt: Fast jede Idee aus den Konferenzen der Redakteure oder Vermarkter erfordert mehr oder weniger tiefe Eingriffe in die Redaktions- und Produktionstechnik - und induziert damit Überstunden bei den Entwicklern und Projekt-Managern. Folgende Beispiele sollen diesen Trend illustrieren.

Integration von KontextinformationenMit steigender Anpassung der Online-Angebote an die Möglichkeiten des Mediums und an die Bedürfnisse der Nutzer wuchsen die Ansprüche an die technische Kompetenz des Anbieters. Hauptanliegen für inhaltlich orientierte Angebote ist dabei die Aufbereitung des Angebots entsprechend dem voraussichtlichen Interesse der Leser. Die Macher müssen dabei die Bewegung durch das Angebot gedanklich vorwegnehmen und eventuell auch eine Navigation quer zur eigentlichen Menüführung ermöglichen, wenn es der logische Zusammenhang erfordert. Durch die Zuordnung aller Informationsteile - Artikel, Termine, Links, aber auch Informationen zu Firmen und Personen - zu einem Indexsystem lässt sich diese Verknüpfung weitgehend automatisieren: Neben einem Beitrag über eine bestimmte Firma sind weiterführende Informationen zu Kursen, Charts und anderen Artikeln zum Unternehmen oder zur Branche nur einen Mausklick entfernt.

Gleichzeitig muss ein Online-Redaktionssystem auch die Möglichkeit zur manuellen Verknüpfung von Informationen bieten und es einem Redakteur nach nur geringer Einarbeitungszeit ermöglichen, Artikel mit Verweisen auf Archivinformationen oder Einträgen in Link-Listen aufzuwerten. So entstehen inhaltliche Kristallisationspunkte, die entsprechend dem aktuellen Geschehen und den User-Interessen weiter aktualisiert und ausgebaut werden können - über ein aktuelles "Dossier" bis hin zu einer "Microsite", einem kleinen, eigenständigen Angebot unterhalb der Hauptseite mit eigenen Funktionen und Navigationspunkten.

Die Zuordnung von Informationen zu Dossiers, Rubriken oder Indexeinträgen bietet gleichzeitig die Möglichkeit, individuelle Informationsbedürfnisse einzelner Nutzer zu berücksichtigen. Eine technische oder manuelle Verschlagwortung bildet die Grundlage für Systeme, welche die gezielte Beobachtung von Firmen und Branchen auf der Grundlage nutzerindividueller Präferenzen erlauben. Mit wachsenden Personalisierungswünschen steigen allerdings die technischen Anforderungen an die vorhandenen Systeme überproportional an. Trotzdem sind Modelle einer vollständigen Personalisierung, die etwa auch die persönliche Gestaltung der Menüführung erlauben, weiterhin diskussionswürdig. Allerdings ist die Bedeutung redaktioneller Arbeit - bei der Vorauswahl, Gewichtung und Bewertung von Informationen - davon nicht bedroht.

Die Personalisierung von Informationen ist dabei nur der erste Schritt zu einer Aktivierung der Nutzer. Im zweiten Schritt können Online-Medien die Chance zur Kommunikation in verschiedene Richtungen aufnehmen und nicht nur die Präferenzen, sondern auch die Meinungen und Beiträge der Nutzer als gleichwertigen Bestandteil in das Angebot aufnehmen. Dann besteht die Chance zur Bildung einer "kritischen Masse" von Benutzern, die allein durch ihre Größe und Kompetenz einen hohen Nutzwert erzeugt und nicht durch die sonst übliche hohe Mobilität im Wechsel zu anderen Angeboten gekennzeichnet ist. Das entsprechende System muss nicht nur die verschiedenen Kommunikationslinien abbilden können, sondern dabei auch an ein unterschiedliches Maß von Vertrauen unterschiedliche Rechte knüpfen können.

Die Kommunikation zwischen den Nutzern untereinander oder zwischen der Redaktion und den Nutzern muss sich dabei nicht nur auf das Web beschränken. Künftig sollen aus einem Publishing-System heraus unterschiedliche Medienplattformen mit Informationen, Inhalten und Applikationen versorgt werden. So sind die Inhalte der zentralen Content-Datenbank von Handelsblatt Online gegenwärtig nicht nur via Web-Zugriff, sondern ebenso über E-Mail-Verteiler oder WAP-fähige Mobilfunkgeräte abrufbar. Vor dem nächsten großen Integrationsschritt - der Produktion von für einen sofortigen oder späteren Druck optimierten Inhalten wie einer digital distribuierten Zeitung - setzt der dafür nötige Zeilenumbruch mit Silbentrennung gegenwärtig noch enge Grenzen. Hier könnten Entwicklungen aus dem Umfeld der Print-Redaktionssysteme in Richtung Medienneutralität für die nötigen Impulse sorgen.

Integration der InhaltsströmeDer funktionierende Austausch von Inhalten nicht nur zwischen unterschiedlichen Medienplattformen, sondern auch zwischen differierenden Angeboten wird immer mehr zum kritischen Faktor für den publizistischen und wirtschaftlichen Erfolg. Zahlreiche E-Commerce- oder Online-Shop-Betreiber werten das Umfeld der von ihnen offerierten Produkte durch aktuelle branchen- oder themenbezogene Informationen auf. Für die etablierten Betreiber von inhaltsorientierten Angeboten entsteht so ein Geschäftsmodell, das durch eine steigende Zahl von Spezialanbietern aufgegriffen werden dürfte, aber auch von den klassischen Nachrichtenagenturen. Durch die fortschreitende Professionalisierung von Content-Syndication durch eigenständige Firmen wie I-Syndicate oder 4-Content wird dieser Prozess spürbar beschleunigt.

Integration von ApplikationenBei der Syndizierung von Inhalten stehen gegenwärtig noch Schlagzeilen und Nachrichten im Mittelpunkt. Künftig dürfen jedoch verstärkt strukturierte Inhalte übergeben werden, was bei den Schnittstellen ebenso wie bei den verarbeitenden Anwendungen für deutlich steigenden Aufwand sorgen wird. Dabei ist jede Art von Tabellen wie Kurslisten, Rankings, aber auch Spielergebnissen oder Terminen denkbar. Allerdings sollten diese Daten nicht nur für eine schlichte Wiedergabe in Seitenform aufbereitet werden. Erst die Integration in eine interaktiv abfragbare Applikation schafft den entsprechenden Nutzwert. Daher gehört das Erstellen individueller Applikationen zum Tagesgeschäft im Bereich Online Publishing. Die verfügbaren Systeme müssen entsprechend eine offene Programmierplattform zur Entwicklung zur Verfügung stellen.

"Content Economy" erwünschtBesonders im Bereich von aufwändig erstellten Applikationen oder Archiven wird häufig über eine kostenpflichtige Nutzung diskutiert. Tatsächlich haben sich nur wenige Angebote mit kostenpflichtigen Bereichen im deutschsprachigen Web etabliert. Das könnte sich stark ändern: Mit Systemen zur Verwaltung der Nutzungsrechte ("Digital Rights Management" - DRM) werden sich nicht nur Sound-Dateien oder kurze Videos, sondern auch Texte und Bilder vor unberechtigtem Kopieren schützen lassen. In Verbindung mit einem etablierten Zahlungssystem ergibt sich daraus die Chance zu einer "Content Economy", in der bisher streng zurückgehaltene hochwertige Inhalte plötzlich im Web zur Verfügung stehen und damit einen neuen Qualitätsschub auslösen könnten.

Damit wird deutlich, welche technischen Herausforderungen allein aus redaktioneller Sicht in naher Zukunft an die IT-Verantwortlichen herangetragen werden. Schlagworte wie "Digitalisierung" und "Informationsgesellschaft" werden die Geschäftsmodelle von Verlagen und Medienhäusern massiv verändern. Ebenso wie in anderen Wirtschaftsbereichen, deren gesamte Wertschöpfungskette digital abbildbar ist, zeichnen sich auch hier die wirklich großen Umbrüche und Veränderungen gegenwärtig erst in Ansätzen ab. Wer die Medienzukunft erfolgreich mitgestalten will, braucht umfassende Kompetenz - auch und vor allem im Bereich der Informationstechnik.

*Wolfgang Büscher ist Redaktionsleiter von Handelsblatt-com in Düsseldorf.