Egal, ob Vulkanausbruch, Bahn-, Piloten oder Kita-Streik: Immer wenn Ausnahmesituationen das Reisen oder Pendeln zum Arbeitsplatz erschweren, preisen die einschlägigen Hersteller Videoconferencing als das Allheilmittel. "Videokonferenzlösungen werden immer als Reiseersatz verkauft, es ist immer der gleiche Pitch", beklagt Marco Landi, President Polycom Emea, die Positionierung in einem Gespräch mit der "Computerwoche". Dabei werde übersehen, dass es für Video auch branchenspezifische Anwendungen gibt, die mehr als einen schnellen ROI durch das Einsparen von Reisekosten bieten. Etwa, indem sie bei Operationen dazu beitragen, Leben zu retten oder im Universitätsumfeld dabei helfen, die Bildung verbessern.
Auf der virtuellen Veranstaltung "Around the World in 60 Minutes" (Twitter: #polycomhour), zu der Polycom standesgemäß per Video die Standorte in London und New York sowie weitere externe Teilnehmer angebunden hatte, wurden nun einige, teilweise eher ungewöhnliche Nutzungsszenarien vorgestellt.
Fernunterricht bei der Manhattan School of Music
"Bei den Möglichkeiten der Technologie werden wir lediglich durch unsere Kreativität begrenzt", erklärte die per Video zugeschaltete Christianne Orto, stellvertretende Dekanin und Director, Recording und Distance Learning der Manhattan School of Music (MSM). Die bekannte Musikhochschule hat wie viele (US-)Colleges und -Universitäten ein Problem mit den großen Entfernungen, die Dozenten zu ihren Unterrichtsklassen zurücklegen müssen - zumal es sich dabei um professionelle Musiker und darstellende Künstler mit umfangreichen Reiseplänen handelt.
Um sicherzustellen, dass sich die Lehrkräfte aus einer Vielzahl von Standorten mit ihren Klassenräumen verbinden können, setzt die MSM auf Video-Telekonferenzlösungen. Mit Hilfe der Technik ist die Schule in der Lage, Dozenten in ihrem Hotelzimmer oder anderen Standorten zum Echtzeit-Unterricht mit ihren Studenten zusammenzuschalten. Anders als bei herkömmlichen Telepresence-Sessions spielt bei den teilweise weltumspannenden Musikproben weniger die Video- als vielmehr die Tonqualität eine wichtige Rolle, Stichwort Latenzzeit und präzise Tonwiedergabe. Hier hat Polycom mit Music Mode einen speziellen Modus entwickelt, der allerdings auch höhere Bandbreiten erfordert.
Listening to @msmnyc singing live via @Polycom's HD video #collaboration link before #PolycomHour starts. Me right. pic.twitter.com/K4gq3KMzmT
— Dion Hinchcliffe (@dhinchcliffe) 27. Mai 2015
Teleswallowing erspart lange Anfahrt
Veronica Southern, aktuell klinische Beraterin für Telemedizin-Lösungen in Großbritannien, kam während ihrer Tätigkeit als Sprachtherapeutin auf die Idee, in Pflegeheimen untergebrachte Patienten mit Verdacht auf eine mitunter lebensbedrohliche Schluckstörung (Dysphagie) per Video zu beurteilen. Hintergrund sei der Umstand gewesen, erklärte sie in der Londoner Polycom-Niederlassung, dass es nicht genügend Experten auf dem Gebiet gebe und diese noch dazu unnötig viel Zeit für An- und Abreise zu den Patienten verbrachten.
Mit hochauflösendem Video sind Therapeuten nun remote in der Lage, tief in die Mundhöhle zu sehen und eine klinische Beurteilung auf Basis einer Vielzahl von Diagnosevariablen zu machen. Dank Telemedizin wird aber nicht nur die Anfahrtszeit gespart. Die Therapeuten haben auch sofort Zugriff auf die Krankengeschichte und können gleich mit der Untersuchung des Rachens via Stiftleuchte (assistiert von einem Pfleger vor Ort) beginnen.
Teleunterricht im Global Classroom
Resourcenknappheit machte auch Kristian Madsen, Head of Project Development bei VUC Storstrom, erfinderisch. Das dänische Bildungszentrum für Erwachsene stand 2008 vor der Herausforderung, seine Leistungen ohne zusätzliches Budget zu erweitern und möglichst vielen Studenten Zugang zu ermöglichen, darunter auch solchen in dünn besiedelten Gebieten.
Als Lösung entwickelte Madsen damals ein Programm namens "Parallel Teaching", bei dem die Lehrkräfte parallel in zwei Klassenzimmern (einer per Videokonferenz verbunden) unterrichteten. Wegen des großen Erfolgs wurden schon bald elf Unterrichtsräume per Videokonferenz erweitert. 2011 baute VUC Storstrom dann das Programm aus, indem es Studenten erlaubte, auch virtuell über den PC zuhause am Unterricht teilzunehmen.
Für Madsen war das Thema Teleunterricht damit aber noch nicht ausgereizt: Ein aktuelles Projekt soll etwa sicherstellen, dass junge dänische Fußballtalente während des Feilens an ihrer Sportkarriere noch ihren Schulabschluss machen. Dazu bringt der "Global Classroom" alle Spieler mit der Plattform von VUC und der Polycom-Desktop-Lösung in einem virtuellen Klassenzimmer zusammen, ganz egal, ob sich diese in Dänemark oder an einem anderen Ort der Welt befinden. Die Unterrichtsstunden sind dabei auf trainings- und spielfreie Zeiten gelegt, so dass die Schüler problemlos teilnehmen können. Zudem werden die Stunden aufgenommen und können problemlos später oder erneut angesehen werden. Entstehen darüber hinaus Fragen oder benötigt der Schüler noch weitere Informationen, kann er ein Face-to-Face Video-Meeting anfragen, um mit dem Lehrer persönlich über Video in Kontakt zu treten.
Ein weiteres Projekt namens "Global Guest Teacher" zielt in die Richtung, durch per Videoübertragung zugeschaltete Gastlehrer die Zukunftschancen von Schulkindern in Schwellenländern zu verbessern.
Hilfe bei Abwehr von Cyberattacken
Für die NATO wiederum spielten Videokonferenzen unter anderem eine entscheidende Rolle bei der Abwehr von Cyberattacken von feindlichen Agenten, erklärte der per Video von seinem Ferienhaus zur Polycom-Veranstaltung "Around the World in 60 Minutes" zugeschaltete Gus Mommers. Der Nordatlantikbund sei damit in der Lage, schnell zwischen den Partnern Informationen über potenzielle Bedrohungen auszutauschen, so der Leiter Conference Management Services bei NATO's Communications & Information Agency (NCI). Hauptaufgabe des NCI ist es dem Kommunikationsexperten zufolge, rund um die Uhr Support bereitzustellen, um die Allianz zu verbinden und deren Netze zu verteidigen. Um das Bündnis von Angriffen zu schützen, betreibe die Nato dazu ein eigenes Cyber-Abwehrzentrum in Mons (Belgien).
Mommers beschrieb außerdem, wie die NCI zudem schnellen Support für jede größere Operation oder Mission rund um den Globus bereitstellen muss. Dies erfolge über zwei Video-Netzwerke: ein geheimes und ein nur für bestimmte Gruppen zugängliches Netz. Das geheime Netz werde dabei vorwiegend für Operationen wie in Afghanistan verwendet. "Es gab tägliche Briefings zwischen den NATO-Befehlshabern und dem Oberkommando der NATO in Brüssel sowie Einsatzbesprechungen zwischen den örtlichen Kommandanten in allen Gebieten rund um Afghanistan", erklärte er. Hierbei hätten Videokonferenzen enorm geholfen, um Unterstützung für kritische Missionen zu bieten und alle Vorgänge zu beschleunigen.