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Mit erweitertem Programm

Piraten peilen den Bundestag an

05.12.2011
Disziplinierter als von vielen erwartet haben die Piraten ihr Programm auf eine breitere Grundlage gestellt.Mit ihrem Votum für das Bedingungslose Grundeinkommen verlassen sie die Internet-Nische und stellen sich in der Sozialpolitik neu auf.

Die Piraten sind keine Internet-Partei mehr. Auf ihrem Parteitag in Offenbach haben sie ihrem Programm neue Akzente in der Sozialpolitik gegeben. Nach einer leidenschaftlichen Debatte stimmten sie im Grundsatz für das Modell eines Bedingungslosen Grundeinkommens, das allen Bürgern ohne Gegenleistung eine finanzielle Zuwendung zusichert. "Es ist gut, dass wir nach zwei Jahren Diskussion jetzt eine klare Entscheidung haben", sagt Parteichef Sebastian Nerz am Sonntag der Nachrichtenagentur dpa.

Einen Schritt nach links sieht er in dem Beschluss nicht. Das BGE sei "eine liberale Idee, die den Sozialstaat in den Vordergrund stellt". Tatsächlich trifft der Parteitag auch andere Beschlüsse, die man sonst eher bei der FDP vermutet. So findet ein Antrag zur Begrenzung von Managergehältern keine Mehrheit. Und um erklärtermaßen den Mittelstand zu unterstützen, soll die Pflichtmitgliedschaft in Industrie- und Handelskammern abgeschafft werden.

Die BGE-Befürworter unter den 1322 registrierten Teilnehmern der Versammlung brechen nach der Auszählung mit dem Ergebnis von 66,9 Prozent in Jubel aus. "Historisch" twittert Christopher Lauer. Zuvor hatte sich der Berliner Abgeordnete vor dem Saalmikrofon erst mit Pathos für das BGE eingesetzt: "Die Würde des Menschen hat keine Bedingung." Und dann gleich wieder die Realpolitik in den Blick genommen: "Wenn wir das ins Programm aufnehmen, setzen wir die anderen Parteien unter Druck."

Diese Verbindung von Pathos und Realpolitik ist typisch für die Piraten - und hier zieht vielleicht auch der oft bemühte Vergleich mit den Anfangsjahren der Grünen. Es gehe doch darum, "dass wir möglichst viele Menschen möglichst glücklich machen", ruft die Politische Geschäftsführerin Marina Weisband aus. Sie erreicht mit ihrem Aufruf zur Gemeinsamkeit das Herz der Piraten, während der erst im Mai gewählte Vorsitzende Nerz ganz nüchtern vor der Gefahr einer Spaltung warnt. Diese sieht er zum einen in der Geschichte anderer Parteien, zum anderen in Konflikten, die eher ideologisch als sachorientiert ausgetragen werden.

Schon jetzt haben die Piraten das politische System verändert. Alle anderen Parteien wenden sich verstärkt der Netzpolitik zu, wo die Piraten mit ihrem Plädoyer für die Freiheit im Internet und mehr Transparenz in der Politik ihre ersten Erfolge erzielt haben, gekrönt von 8,9 Prozent bei der Berlin-Wahl im September. Und inzwischen tummeln sich auch viele Bundestagsabgeordnete im Internet-Dienst Twitter, der mit seinen 140-Zeichen-Botschaften den politischen Diskurs prägnanter und oft humoriger macht.

Der Pirat Nerz, auf Twitter mit dem Namen "tirsales" unterwegs, sieht das schnelle Hin und Her im Netz auch kritisch: "Über Twitter und Facebook kann man keinen Streit beilegen, aber man kann ihn eskalieren." Das zielt auf konfliktfreudige Köpfe wie Lauer, der bei der Vorstandswahl im Mai gegen Nerz unterlag.

Trotz solcher Spannungen verläuft der Offenbacher Parteitag aber sehr viel disziplinierter als noch vor einem Jahr beim ersten Programmparteitag in Chemnitz. Stundenlang verfolgen die Mitglieder den Marathon von Programmanträgen, Positionspapieren, Satzungsanträgen und Geschäftsordnungsanträgen. Jeder darf zu allem etwas sagen - bis ebenfalls per Abstimmung die Rednerliste geschlossen wird. Aber alle müssen sich kurz halten - die Redezeit ist auf eine Minute begrenzt. Schließlich wird abgestimmt, meist mit roten und grünen Karten. Ist das Ergebnis nicht klar, wird ausgezählt. Das dauert.

So vergnügen sich die Piraten derweil mit der Kommunikation im Netz. Damit jeder sein Notebook anschließen kann, wurden fünf Kilometer Netzwerkkabel verlegt. Und die Piraten pflegen ihre eigene Folklore. Viele tragen stolz Kleidung in der Parteifarbe Orange, andere haben sich ein Piratenkopftuch umgebunden oder stellen eine Flasche Rum auf den Tisch. Und aus Offenbach haben die Piraten auf Twitter kurzerhand "Offenbings" gemacht - in Anlehnung an "Bings" für den Parteitag 2010 in Bingen.

"Die Piraten haben in den letzten Monaten verdammt gerockt und verdammt viel erreicht", sagt Marina Weisband. "Aber bis 2013 kann noch viel passieren", fügt sie mahnend mit Blick auf die nächste Bundestagswahl hinzu. Der Blick auf die nächsten Wahlen - im Mai 2012 und dann wohl im Herbst 2013 zum Bundestag - schmiedet die streitfreudigen Piraten zusammen. "Wir wollen in den Bundestag", sagt Lauer. "Wir wollen das und wir müssen das." (dpa/tc)