"Oktoberrevolution" vertagt, Suche nach neuer Killerapplikation Internet bleibt bei Themen und Problemen rekordverdaechtig

27.10.1995

Von Detlef Borchers*

GENF - Unter dem Titel "Join the October Revolution" veranstaltete die ITU auf der Telecom '95 ihr Hilfsprogramm zur grossen Messe. Als Renner erwies sich dabei die "internet & telecom95", eine Wochenendveranstaltung, die laut Veranstalter von fast 4000 Teilnehmern besucht wurde. Nimmt man die Telecom '91 zum Massstab, so schlaegt auch hier das Internet alle Rekorde: Vor vier Jahren kamen genau 51 Teilnehmer, als Vint Cerf in einem einzigen Vortrag zum Thema Internet sprach.

Damals war Vint Cerf Chef der Internet Society, waehrend er dieses Mal "nur" als Repraesentant von MCI an der Konferenz teilnahm. Dafuer bekam er postwendend fuer seine Verdienste die Silbermedaille der ITU ueberreicht - eine Auszeichnung, die sonst nur Staatsoberhaeuptern vorbehalten ist. Nelson Mandela beispielsweise hatte sie zu Beginn der Messe erhalten.

Die politische Reife des "Staates" Internet und das Plaedoyer von Mandela, das Recht auf Kommunikation als Menschenrecht zu definieren und zu behandeln, war nur eine der Verbindungen zwischen Messe und Kongress. So wurde auf dem Kongress auch ueber die Chancen diskutiert, die das Internet der Dritten Welt bietet (waehrend gleichzeitig auf der Messe die Anbieter von GSM-Loesungen ihre "Drittwelt-Handies" ueber Gebuehr anpriesen). Auch die Ankuendigung der chinesischen Regierung in puncto Oeffnung dem Internet gegenueber wurde kritisch bewertet. Ausser Peking, Shanghai und Huangzu werden demnach 20 weitere Staedte einen Internet-Knoten erhalten, der "respektablen Persoenlichkeiten mit gutem Leumund" nach entsprechender Pruefung zugaenglich sein soll. Sicher nicht ganz die Philosophie vom allgemein zugaenglichen und freien Internet, wie auf dem Kongress allgemein zum Ausdruck kam. Dieser wurde durch eine Rede von Vint Cerf eroeffnet, der kraeftig fuer die Internet Society, deren Kongress in Montreal und das Internet ueberhaupt warb. Als zukunftstraechtig machte Cerf dabei das gesamte Feld der Echtzeitanwendungen aus, also in erster Linie Videokonferenzen, Real Audio, Telefonieren ueber das Internet sowie Multicasting. Fuer ihn als einen der "Vaeter des Internet" steht aber die eigentliche Revolution noch bevor: Cerf verband sie mit dem Einstieg der grossen Telefongesellschaften dieser Welt. Resultat davon waere nach den Worten Cerfs eine Verbesserung von Uebertragungsgeschwindigkeit und Anwendungsqualitaet, die nur mit dem von Flugzeugen bekannten "Fly by Wire" vergleichbar ist. Anders gesagt: Das Netz der Zukunft wuerde schnell und praezise wie nie zuvor arbeiten.

Ein wahres Feuerwerk an Zahlen und Statistiken in puncto Internet veranstaltete dann Tony Rutkowski, der derzeitige President der Internet Society (der Beitrag ist via ftp://ftp.wia.org/pub/telecom.ppt abzurufen). Auch der Franzose Christian Huitema, Direktor der INRIA, die das WWW der Zukunft definiert, hatte Zahlen parat: Mindestens 100 Milliarden Internet-Nodes will er bis zum Jahre 2020 installiert wissen. Huitema, der auch als Autor von "Et le dieu crea l'Internet" (Und Gott erschuf das Internet) bekannt ist, gilt als Vertreter einer Art Glaubensrichtung, die das Internet als grosse Chance der Dritten Welt begreift. Hier wurde er jedoch vor allem vom Suedafrikaner Mike Jensen kritisiert, der die Verantwortung fuer die aermeren Laender etwas konkreter gefasst haben wollte. Die anschliessende Diskussion spitzte sich dann jedoch mehr auf die Frage zu, welche Nachteile Europa mit seiner Telecom-Infrastuktur gegenueber den USA hat.

In der zweiten Sitzung des Kongresses hatten vor allem die sogenannten professionellen Online-Dienste Zeit und Gelegenheit, ihre Position gegenueber dem Internet zu vertreten. America Online, Compuserve und das Microsoft Network warben fuer die Einbettung des Internet in ihr Angebot. Jeder pries seinen eigenen Weg der Integration, wobei Barry Barkov von Compuserve mit seiner neuen Spryte-Struktur den "kleinen Internet-Providern" den Kampf ansagte: Mit 4,95 Dollar pro Monat, eigener Mail und Web-Software (von der Compuserve-Tochter Spry) sollen weltweit vor allem die privaten Kunden zur "Mutter aller Netze" gelockt werden. Drei Surfstunden sind dabei frei, jede weitere wird mit 1,95 Dollar berechnet.

Doch dieses Tariftableau, das auch fuer Deutschland gelten soll, ist, wenn man so will, bei weitem noch nicht das (untere) Ende der Fahnenstange: John Petrillo, Online-Chef von AT&T, kuendigte fuer die USA den Internet-Zugang im Stil des dort gewohnten lokalen Telefon-Business an - will heissen, kostenloser Basiszugriff fuer alle AT&T-Telefonkunden und drei Dollar pro Stunde fuer das Surfen im Internet. Jack Davies von America Online

(AOL) verwies demgegenueber auf andere Leistungen, etwa die eingebaute Kindersicherung, mit der AOL alle pornografischen Angebote aus dem Internet abblocken moechte. Anthony Bay vom Microsoft Network wiederum stellte seinen Dienst als den mit der hoechsten Wachstumsrate vor und nannte 180000 europaeische Nutzer - was von der Konkurrenz in der anschliessenden Diskussion heftig bestritten wurde.

Immerhin: Alle Vertreter der Online-Dienste versprachen den Uebergang auf HTML als interne Darstellungssprache sowie eine groessere Durchlaessigkeit zum Internet, das ueber Web-Seiten Informationen aus den Diensten erhalten soll (America Online: http://users.aol.com; Compuserve: http://www.compuserve.com; Microsoft Network: http://www.msn.com). Ziel dieser Massnahme duerfte vor allem sein, dass nicht nur Kunden gehalten werden, die sonst ins World Wide Web abwandern wuerden, sondern auch neue Nutzer zu gewinnen. Nicht umsonst werden derzeit ja auch die "einfachen" Anwender heftig umworben.

Medikamentenvertrieb ueber das Internet geplant

Die dritte Sitzung des Kongresses widmete sich der Zukunft des Internet. Dabei stand nichts Geringeres als die Suche nach der naechsten Killeranwendung auf dem Programm, was zu einem Referat mit dem schoenen Titel "Health as the Killer Application of the Future" fuehrte. Die Genfer Vertretung der Internet Society http://www.eunet.ch/IsocGva/sig.html stellte in diesem Zusammenhang ihr Projekt vor, weltweit medizinische Ressourcen und Spezialisten zu verbinden. Der entsprechende Vortrag von Bruno Lavin bildete gewissermassen das Gegenstueck zu den auf der Messe bekanntgewordenen Plaenen der Pharmamultis Lilly und Rhone Poulenc, kuenftig ihren Medikamentenvertrieb auch ueber das Internet zu organisieren. Der Mediziner Elon Ganor referierte indes ueber eine andere Killersuite: Seine Firma Vocaltec http://www.vocaltec.com brachte bereits im Fruehjahr das "Internet Phone" heraus, mit dem sich via Internet telefonieren laesst.

Zum absoluten Hoehepunkt der Zukunftssession geriet jedoch die Vorstellung von Hot Java durch Geoffrey Baehr, Leiter der Entwicklungsabteilung bei Sun http://java.sun.com . Nach Angaben von Baehr ist die Internet-Programmiersprache nichts anderes als die Weiterentwicklung von C++ fuer WAN-Einsaetze, bei denen beim Mausklick auf ein Symbol jeweils das aktuellste Programm geladen, interpretiert und gestartet wird. Baehr machte in diesem Zusammenhang eindringlich klar, dass fuer ihn Java die Programmiersprache ist, der die Zukunft in der gesamten Computerei gehoeren wird. Nach seiner Prognose duerften 1997 immerhin 80 Prozent aller Netzwerkanwendungen mit Hot Java geschrieben werden. Das Erfolgsrezept ist denkbar einfach: Java soll als Betriebssystem in den von Sun und Oracle propagierten Internet- Terminals zum Einsatz kommen und "veraltete lokale BS-Konzepte" verdraengen.

Auch die Ergaenzung oder gar Abloesung des bisherigen Schulsystems durch das Internet, wie sie mit dem ACOT-Projekt (Apple Classroom if Tomorrow, http://www.eworld/learning) von Apple und Sun angegangen wird, musste gleich mehrfach als neue Killerapplikation herhalten. Fuer den Ausbau des Schulsystems will Sun besondere Java-Applets produzieren, waehrend Apple die noetigen Schulcomputer zur Verfuegung stellen will - natuerlich nicht uneigennuetzig. Sun zeigte die ersten Bruchstuecke eines "Teacher's Toolkit", das von Schueler- und Eltern-Toolkits komplettiert wird. Etwas naeher an der Realitaet angesiedelt waren die Vortraege von Lee Stein von First Virtual Holdings http://www.fv.com und David Chaum von Digicash

http://www.digicash.nl . Sie stellten ihre jeweiligen Konzepte fuer das Bezahlen im Internet vor, die sich bereits im Praxistest befinden. Beide Redner zogen kraeftig ueber die Sicherheitsvorschlaege von Microsoft/Visa und Netscape/MCI her, die allesamt realitaetsfern, abstrus und gefaehrlich seien. Obwohl alle Ansaetze reichlich Diskussionsstoff boten, war ihnen eines gemein: Als Triebfeder fuer die naechste Oktoberrevolution konnten sie nicht dienen. Diese wurde naemlich kurzerhand vertagt. Vielleicht ist man 1999 schlauer, wenn die naechste Telecom ueber die Buehne geht - vorausgesetzt, das Internet in der bekannten Form existiert noch.

* Detlef Borchers ist freier Journalist in Westerkappeln-Metten.