IT in der Medienbranche/IT-Großbaustelle Bayerischer Rundfunk

Multimediale Informationen für Radiohörer und Mitarbeiter

02.10.1998

Eine Multimedia-Baustelle befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Münchner Hauptbahnhof, genauer am Rundfunkplatz 1. Hier arbeitet die Projektgruppe Multimedia Hörfunk des Bayerischen Rundfunks (BR) unter der Leitung von Toni Siegert. Der Auftrag lautet: Konzeption und Erweiterung des Online-Angebots und ein Intranet zur Beschleunigung des Informationsflusses innerhalb des Funkhauses.

Schon seit längerem tüftelt die Web-Mannschaft des BR an der Idee, all die verschiedenen Datenquellen des Senders zu bündeln. Ein Interface zu schaffen verursacht eine Menge Arbeit, aber BR-Mann Siegert erklärt: "Hier dürfen nicht 20 Leute sitzen, die mit Umformatierungen oder ähnlichem beschäftigt sind."

Nach dem Internet-Start zur CeBIT 1996 registriert BR-Online monatlich über 500 000 Web-Zugriffe. Sendeinhalte kann man inzwischen im voraus sehen. Dies geschieht über programmbegleitende Zusatzinformationen, die via Internet und über Radio-Datendienste, zum Beispiel Digital Audio Broadcasting (DAB), Digital Video Broadcasting (DVB) oder Radio Datensystem (RDS), verteilt werden.

Genauso können User Programmteile on demand, also zu einem späteren Zeitpunkt, anhören. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, quasi live bei einer Sendung dabeizusein. Eine Web-Cam gewährt Online-Gästen einen Blick ins Studio. Last, but not least können Anwender die Sendung über Internet-Funktionen wie den "Web-Ted" auch interaktiv beeinflussen.

Momentan entwickelt sich der BR hin zum umfassenden Informations-Desk. Auf verschiedenen Plattformen sollen digitalisierte Zusatzinformationen mit Daten wie Verkehrslage, Wetterprognosen, Börseninfos und News-Diensten verfügbar sein.

Aufgabe von Siegerts Team ist es, Hörfunkzusatzdaten jederzeit auf den verschiedenen Plattformen verfügbar zu machen. Bereits jetzt lassen sich über eine Master-Datenbank auf Oracle-Basis aktuelle Beiträge für BR-Online, Nachrichten, B5-Börse, Wirtschafts-News etc. automatisch freigeben und publizieren.

Künftig soll die Oracle-Datenbank jedoch vollkommen selbständig agieren. Auf den Server kommen dann zwei Aufgaben zu: Er liefert zum einen aktuelle Beiträge zeitnah an andere Plattformen und Dienste wie RDS, DAB, Astra Digital Radio (ADR) oder Videotext.

Zum anderen stellt er seine Daten auch anderen Diensten, die bei Bedarf auf die Datenbank zugreifen können, zur Verfügung. Im einzelnen sind das Fax- und E-Mail-Services beziehungsweise Newsletters.

Die bestehenden DV-Systeme sollen weiter arbeiten. Hier gibt es die Programmplanungs- und -ablaufsysteme "Traffic 2000" und "Merlin". Auf ihnen laufen Daten zu Sendungen bereits frühzeitig ein. "Musad" hingegen ist eine Musikdatenbank mit Titeln, Interpreten, Chart-Plazierungen etc. Diese internen Systeme in die Datenbank einzubinden, ohne bereits bestehende Welten zu zerstören, ist laut Siegert das Kunststück, das es jetzt zu bewerkstelligen gilt. "Das ist viel schwieriger, als ein neues Netz aufzubauen."

Sobald die Daten erfaßt sind, gehen sie zur Archivierung und weiteren Verteilung an die Online-Datenbank weiter. Im nächsten Schritt sind die vorhandenen Datenbankfunktionen auszubauen. Das eine, für alle Dienste gleichermaßen ideale Datenformat gibt es nicht. Aus diesem Grund sind Dateiformat und Strukturierung der in Oracle gespeicherten Daten so generisch wie möglich zu halten. Nur so lassen sich unterschiedliche Dienste mit verschiedenen Ausgabeformaten beliefern.

Eine Information für diverse Medien

"Wir versuchen, die Daten so zu strukturieren, daß sie für unterschiedliche Zwecke verfügbar sind", erklärt Siegert. Das sind neben BR-Online das RDS, ADR, Videotext (Bayerisches Fernsehen/BFS), Fax- und Newsletter-Service, Mailing Lists, DAB und DVB. Als Resultat wird das BR-Publikum erheblich mehr Informationen als bisher zur Verfügung haben.

Auf dem Display des Rundfunkhörers erscheinen je nach Darstellungsmedium Angaben zu Programm, Tag, Uhrzeit, Sendetitel, Ober- beziehungsweise Untertitel sowie kurze Textblöcke. War auf dem RDS-System des Autoradios bisher nur der Sender, zum Beispiel "B 4 Klassik", zu lesen, wird in Zukunft auch der Sendetitel, etwa "Klassik-Boulevard", angezeigt.

Je nach Bandbreitenkapazität lassen sich noch mehr Felder aus der Datenbank auslesen. So präsentiert DAB zusätzlich das Sendelogo und einen Kurztext mit Angabe des Moderators und der ausgewählten Komponisten. Über Fax- und E-Mail-Service bekommt der Nutzer zudem die Information, welche Musikstücke auf dem Programm stehen.

Ein umfassenderes Angebot öffnet sich Anwendern, die sich via BR-Online und künftig per DVB zuschalten. Neben Bildern finden sich hier Angaben zur Biografie und zur Epoche des jeweiligen Komponisten, daneben ein Werkverzeichnis, Literaturhinweise inklusive. Der Schritt zu Videoclips liegt nah. DVB-Dienste werden in Zukunft somit drei Funktionen nebeneinander leisten: Fernsehen, Radio und Datendienste.

Die Anforderung an die Oracle-Datenbank besteht darin, Daten auf verschiedenen Plattformen zeitkritisch auszugeben. Für RDS, ADR, DAB und DVB sind die jeweils aktuellen Daten zeitgleich zur Ausstrahlung zu generieren. Damit möchte sich Siegerts Web-Mannschaft aber nicht bescheiden. In Zukunft sollen über BR-Online Informationen zu einer Sendung schon vor der Ausstrahlung abrufbar sein, und zwar in laufend aktuelleren Versionen.

BR-Online soll außerdem mehrere Sichten ermöglichen. Zum Beispiel: Was präsentiert die Welle X an einem bestimmten Tag und zur aktuellen Stunde? Oder: Was bieten alle BR-Wellen zu einer bestimmten Zeit oder zu einem bestimmten Thema? Wo gibt es Audiovorschauen, und wo sind Pressetexte zu finden?

Auch Hörer, die Informationen per Fax-, E-Mail- oder Newsletter-Service abrufen möchten, sind nicht vergessen. Hierzu ist es nötig, entsprechende Ausgabeformate zu entwickeln und individuelle Übergabezeiten festzulegen. Bei all dem ist auf Transparenz in puncto dynamische Übergabemodalitäten zu achten.

Sind die Arbeiten im Online-Bereich bereits voll im Gange, gehört der Aufbau eines Intranet zu den künftigen Projekten beim BR. Hier stellt sich für die Arbeitsgruppe Datendienste in den nächsten Jahren die Aufgabe, für die verschiedenen Inseln im Bereich Technik, Verwaltung und Redaktionen ein gemeinsames Dach zu schaffen.

Die Archive werden ebenfalls digitalisiert

Spätestens im Jahr 2000 soll Redakteuren zu Recherchezwecken eine Audiodatenbank zur Verfügung stehen. Für Journalisten beim BR besteht somit Aussicht auf eine traumhafte technische Arbeitsumgebung. Er findet nicht nur einen Text im Nachrichtenarchiv. Er kann auch mit einem Text-Scan die Audiodateien durchsuchen, beispielsweise um zu überprüfen, ob das gesuchte Zitat des Bundespräsidenten so oder doch anders lautet.

Ein weiteres Mammutunternehmen, an das sich das BR-IT-Team herantastet, ist die Digitalisierung des gesamten Hörfunkarchivs. Anders als bei den privaten Rundfunkanstalten gibt es beim BR unterschiedlichste Datenträger. Darunter auch Tondokumente aus alter Zeit, angefangen von Adisons "Mary has a little lamb" in der ältesten Aufnahme aus dem Jahr 1876, über Sketche von Karl Valentin bis hin zu O-Tönen von Franz Josef Strauß. "Diese Sachen zu finden, vor allem aber verfügbar zu machen, ist das Problem", erklärt Siegert. Im Moment bleibt Redakteuren nichts anderes übrig, als ins Archiv zu gehen und sich die entsprechenden Tonquellen auszuleihen.

Zwar wird es nach Einschätzung des Multimedia-Chefs "noch zig Jahre" dauern, bis das Projekt steht, aber die Vorarbeiten laufen. Zum Beispiel arbeitet ein von Siemens angeführtes Konsortium derzeit an einem Audiodatenarchiv. Parallel entsteht ein umfassendes Multimedia-Archiv.

Eine interne Großbaustelle ist das digitale Zeitungsarchiv, ein Projekt in Kooperation mit der "Süddeutschen Zeitung". Bis dato mutet diese Abteilung archaisch an: 18 BR-Mitarbeiter schnipseln mit der Schere Zeitungsberichte aus und legen sie per Hand ab.

"Nur wenn sich die Ressourcen im Keller und in den Archiven schnell nutzen lassen, bleibt der Bayerische Rundfunk auch in Zukunft stark. Diese Ressourcen unterscheiden uns auch von den privaten, gewinnorientierten Sendeanstalten, die auf die kurzlebige Information ausgelegt sind", resümiert Siegert.

Doch auch für den BR ist die Kostenfrage Dreh- und Angelpunkt multimedialer Überlegungen. Siegert rechnet vor, daß sich allein der Aufbau der Datenservices auf über zwei Millionen Mark beläuft.

Ohne diese technische Investition würden sich die Personalkosten jedoch bis zum Jahr 2004 verzehnfachen. Nach Möglichkeit soll für technische Zusatzaufgaben innerhalb der ganzen ARD kein weiteres Personal eingestellt werden.

Als wäre noch nicht genug auf "tausend Baustellen" zu tun, hat Siegerts Team noch ein Zusatzprojekt. Der BR feiert im nächsten Jahr seinen 75. Geburtstag, und es soll nicht nur einen Tag der offenen Tür geben. Jedenfalls nicht für Besucher aus dem Internet.

In den kommenden Monaten beginnt der Aufbau eines "virtuellen Funkhauses". Der Online-Besucher erhält die Möglichkeit, sich verschiedene Bereiche der Produktion des Senders näher anzuschauen oder den Redaktionsalltag am Arbeitsplatz des Moderators mitzuerleben. Und auch einen Blick in das Studio der Washingtoner Korrespondentin soll er werfen können.

Angeklickt

Hörfunk ist auch nicht mehr nur das, was aus dem Radio kommt. Das Beispiel Bayerischer Rundfunk (BR), der im nächsten Jahr sein 75jähriges Bestehen feiert, zeigt, daß ein Sender heute mit gewaltigem IT-Aufwand auf allen Wellen und Kanälen präsent ist. Demnächst können die Hörer auf allen möglichen Wegen eine Unmenge von Zusatzinformationen zu den Sendungen bekommen. Damit zählt der BR zu den technischen Vorreitern dieses Medienbereichs.

Andrea Goder ist freie Journalistin in München.