Einbrüche im IT- und Mediensektor

München und das Ende des Booms

08.10.2002
Kirch-Pleite. Stellenabbau bei Siemens. Niemand mag die wirtschaftlichen Einbrüche am IT- und Medienstandort München beziffern, denn noch überwiegen die positiven Signale. So ist etwa der Reiz, den die Stadt auf Existenzgründer ausübt, ungebrochen. Von Helga Ballauf

Biergarten - Brotzeit - Business: Der Wirtschaftsraum München verteidigt in Krisenzeiten sein Image, das deutsche Silicon Valley zu sein. Das jüngst gestartete Projekt E-Garten.net sendet die passende Botschaft aus: Hier pflegen coole High Potentials, ausgestattet mit Handy und mobilem Personal Digital Assistent, ihre weltweiten Geschäftsbeziehungen an schönen Tagen im Freien - unter schattigen Kastanienbäumen. Technikkompetenz und Lebensqualität im Doppelpack, darauf setzt die IT- und Medienregion München auch in Zukunft.

Marketing tut Not. Obwohl exakte Zahlen fehlen, weil Stadt und IHK erst im kommenden Jahr eine neue Studie zur wirtschaflichen Lage des Hightech-Großraums in Auftrag geben, steht fest: Die Flaute der Branche hat längst auch die bayerische Landeshauptstadt erreicht. Der Optimismus, mit dem die IT-Unternehmen bei der Befragung im Jahr 1999 noch verkündeten, ihren damals 155 000 Beschäftigten bis zum Jahr 2004 noch einmal 80 000 Mitarbeiter hinzuzufügen, ist verflogen. Aktuelle Zustandsbeschreibungen und Zukunftsprognosen sind von Nüchternheit, zuweilen von Unsicherheit geprägt.

Hightech-Standort München, das heißt: In der Millionenstadt an der Isar und ihrem "Speckgürtel", den Gemeinden rund um die Bayern-Metropole, sind Hersteller von elektronischen Bauelementen und Endgeräten ebenso angesiedelt wie Biotechnologie- und Multimediafirmen, IT-Dienstleister und -Berater, Film- und Fernsehproduzenten, Verlage und Druckereien, Marktforscher und Werbeagenturen. Die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der beiden Universitäten, der Fraunhofer- und Max-Planck-Institute drehen sich um Halbleiterelektronik und Kommunikationstechnik, um Biowissenschaften, Quantenoptik und Kernphysik.

Gründer mögen München

Startups, Mittelständler und Weltkonzerne decken ein breites Spektrum innovationsfreudiger Wirtschaftszweige aus dem Fertigungs- und dem Dienstleistungssektor ab. Dieser Mix ist ein stabilisierender Faktor in schwierigen Zeiten, glaubt Wirtschaftsreferent Reinhard Wieczorek: "Die ausgewogene Münchner Wirtschaftsstruktur, die lebendige Gründerszene, die Mischung von Groß-, Mittel- und Kleinunternehmen, das Potenzial gut ausgebildeter Arbeitskräfte sowie die hervorragende Infrastruktur machen den Standort im bundesweiten Vergleich widerstandsfähig."

Andererseits zeigt sich: Wenn einer der Großen schwächelt, setzen sich Auftragsrückgänge und Entlassungen in dem dichten Geflecht der Entwicklungs-, Herstellungs- und Vermarktungsunternehmen des Umfelds rasch fort. Und schlechte Nachrichten gibt es satt, die der vergangenen Monate lauteten: Der Großkonzern Siemens baut erneut Tausende von Stellen ab, das Kirch-Imperium fällt auseinander und gefährdet Arbeitsplätze im gesamten Medienbereich. Die Compaq-Beschäftigten fürchten nach der Fusion mit HP um ihre Jobs an der Isar, der Telekommunikationsanbieter Quam ist am Ende und entlässt 90 Prozent seiner Mitarbeiter. Auch bei Intel, O2, Deutscher Telekom und Sun Microsystems kriselt es.

Dazu kommen die Pleiten vieler kleiner und mittelgroßer Startups. "München hat in der Vergangenheit von der Aufbruchstimmung der New Economy außerordentlich profitiert. Die aktuelle Marktbereinigung, verbunden mit der allgemeinen Wirtschaftslage und regionalen Ereignissen wie der Kirch-Krise, trifft den Wirtschaftsraum insgesamt sehr hart", räumt Wieczorek ein.

Stadt ist pleite

Wie ein Paukenschlag wirkte der im Juli verkündete Investitionsstop der Stadt selbst. München in Zahlungsnot - das bedeutet nicht nur, dass öffentliche Dienstleistungen gestrichen, "gestreckt" oder teurer werden. Das hat ebenfalls zur Folge, dass unsicher ist, wie lange die Kommune als potenter Auftraggeber ausfällt.

Keine Panik! Mit diesem Appell treten in München die Vertreter aus Wirtschaft und Politik den Hiobsbotschaften entgegen. "Die Phase der Überhitzung ist zu Ende. Zunächst wird die Auftragslage weiter zurückgehen", prognostiziert der stellvertretende IHK-Geschäftsführer in München, Peter Driessen. Allerdings werde sich der IT-Markt auf mittlere Sicht wieder erholen, erwartet der Kammervertreter. Schließlich sei der Bedarf an Informationstechnik noch längst nicht gedeckt.

Driessen: "Qualifizierte IT-Fachkräfte haben weiterhin gute Beschäftigungschancen, allerdings bei niedrigeren Gehältern und ohne die diversen Extraleistungen der Boomphase." Gefragt seien derzeit Spezialisten für IT-Security und Linux, berichtet der IHK-Mann. In der Zukunft könne sich gute Chancen ausrechnen, wer etwas von Web-Services und Bandbreiten-Management versteht und fähig ist, spezifische IT-Anwendungen, etwa in der Medizin, nutzerfreundlich zu gestalten. Schwierig kann es nach Driessens Branchenüberblick für Seiteneinsteiger werden: "Wenn die Firmen die Auswahl haben, bevorzugen sie IT-Fachkräfte mit dualer Ausbildung, Fachhochschul- oder Universitätsabschluss."

Die bayerische Landeshauptstadt gilt weiter als Hochburg der Existenzgründer. Am Münchner Business-Planwettbewerb im Sommer 2002 beteiligten sich 99 Teams, jedes dritte legte ein Unternehmenskonzept aus der IT-Branche vor. Die Initiatoren vermerken positiv, dass die Geschäftsmodelle der jungen Existenzgründer immer durchdachter und ausgereifter werden. Als Nadelöhr stellt sich allerdings die Finanzierung innovativer Ideen heraus: So kritisieren die Initiatoren des Business-Planwettbewerbs, dass sich die Risikokapitalgeber weiter zurückhalten: "Entgegen dem eigentlichen Charakter ihres Geschäftsmodells bemühen sie sich zunehmend, allen Risiken so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen." Der Appell der professionellen Kapitalgeber an die Gründerteams lautet: kreativ sein, stets neue Formen der Finanzierung suchen, die Kooperation mit Geschäftspartnern, vor allem Lieferanten und Kunden suchen, jede Abhängigkeit von einem Financier vermeiden.

IHK-Vertreter Driessen kennt das Problem und rät den Newcomern: "Es genügt nicht, eine gute Geschäftsidee zu verfolgen. Man muss sich bereits zu Beginn eines Existenzgründungsprozesses das nötige betriebswirtschaftliche Know-how angeeignet haben."

Neue Herausforderungen warten

Curt Winnen, Geschäftsführer von Munich Network, legt die Latte an "Hardcore-Entrepreneure" höher: "Der Vertrieb ist in Zeiten der Stagnation die Herausforderung für junge IT-Untenehmen. Da gilt: Wenn der Kunde nein sagt, muss man mit dem Verkauf erst richtig beginnen." Im Munich Network, dem früheren "Förderkreis Neue Technologien", sind potente IT-Unternehmen der Region vertreten. Ziel ist nicht nur die Unterstützung technologieorientierter Startups, Munich Network will auch die Fäden zu internationalen Hightech-Standorten knüpfen.

Dabei treibt Winnen eine Sorge um: "München steht in der Gefahr, ein wichtiges industrielles Wachstumsfeld vorbeiziehen zu lassen, obwohl alle großen Spieler am Standort vertreten sind." Gemeint sind die Telekommunikationsunternehmen, die auf Hindernisse stoßen, wenn sie zusätzliche Sendeanlagen für Mobilfunk aufstellen wollen - ein Beispiel dafür, wie das technische Wachstum mit dem Anspruch auf Lebensqualität in Widerspruch geraten kann: Zwischen 2000 und 2001 stieg die Anzahl der Mobilfunkanlagen im dichtbewohnten Stadtgebiet um 250 auf rund 700 Masten - für die Netzbetreiber längst nicht genug.

Im Streit um die möglichen Wirkungen elektromagnetischer Felder hat sich der Stadtrat dem "präventiven Gesundheitsschutz" verschrieben, empfiehlt strenge Strahlungsgrenzwerte und eine restriktive Genehmigungspolitik. Ein falsches Signal, kritisiert der Geschäftsführer von Munich Network. Wirtschaftsreferent Wieczorek sieht das anders und führt als Beweis "bundesweit einmalige Projekte wie E-Garten.net, das erste Wireless Local Access Network im öffentlichen Raum", an.

Die Lage auf dem IT-Arbeitsmarkt in München ist uneinheitlich: Dem Stellenabbau in der Branche steht die Beobachtung von Informatikprofessoren gegenüber, dass Firmen nach wie vor junge Talente noch vor dem Abschluss von der Hochschule abwerben. "Gerade bei hochqualifizierten jungen Leuten ist dieser Trend immer noch stark", sagt Fachhochschul-Professor Henning Mittelbach.

Mobil im Biergarten

Sein Kollege von der Technischen Universität Professor Uwe Baumgarten bestätigt diesen und einen weiteren Trend: Der Boom der Studienanfänger im Fach Informatik wird in München zunächst nur bedingt zu mehr Absolventen führen, weil die Anzahl der Abbrecher ebenfalls zunimmt. Konsequenz der beiden Hochschulen: Sie suchen nun vor der Immatrikulation mit Hilfe von Eignungsprüfungen und Auswahlgesprächen die "richtigen" Kandidaten aus.

Das Münchner E-Garten.net, die drahtlose Funkverbindung ins Internet vom Biergartentisch aus, ist eine Schönwetter-Veranstaltung. Zurzeit ist offen, wie gut der IT-Standort noch zu erwartende Winterstürme und Branchengewitter verkraftet.