Möglichst simpel, aber nicht einfacher

22.03.2006
Anwender wie Anbieter hadern mit dem Thema Pflichtenhefte. Während sich die einen schwer tun, ihre Anforderungen richtig zu erfassen, wird für die anderen das Lesen zur Tortur. Von CW-Redakteur Martin Bayer

"Es ist frustrierend, sich nur noch durch Berge von Papier arbeiten zu müssen", schimpft Godelef Kühl. Der Geschäftsführer des Mainzer Softwareherstellers Godesys ärgert sich zunehmend über die Pflichtenhefte potenzieller Kunden, die tagtäglich auf den Schreibtischen des Enterprise-Resource-Planning-Anbieters (ERP) landen. Mehr als die Hälfte dieser ERP-Bibeln habe mittlerweile die Dicke eines Schmökers erreicht, der selbst "Vom Winde verweht" schmächtig aussehen lasse. Die traurige Bilanz: Nur noch 25 bis 30 Prozent der Anforderungen sind zielführend, noch weniger wirklich entscheidend. Die Bearbeitung habe sich mittlerweile zu einem Albtraum entwickelt.

10 Tipps zum richtigen Pflichtenheft

1. Arbeiten Sie zunächst ein Grobkonzept aus. Damit lassen sich schnell die wichtigsten Softwarekandidaten herausfiltern.

2. Vorgefertigte Checklisten können im Feinkonzept nicht die Analyse der eigenen Prozesse ersetzen.

3. Richten Sie ihre Funktionsforderungen exakt an den eigenen Abläufen aus. Mehr Funktionen, die letztlich nicht gebraucht werden, machen die Sache nur komplexer und vor allem teurer.

4. Ein dickes Pflichtenheft bedeutet nicht automatisch ein gutes Pflichtenheft.

5. Achten Sie auf die Konsistenz Ihrer geforderten Funktionen. Widersprüchliche Anforderungen zeigen den Anbietern, dass Sie zu wenig nachgedacht haben, und machen Sie angreifbar.

6. Mit einem detaillierten Forderungsprofil sind Sie auf der sicheren Seite. Bleiben Sie dabei und lassen Sie sich nicht auf spätere Lösungen vertrösten.

7. Kein Anbieter wird jede Funktion abdecken können. Allerdings sollte er Lösungsvorschläge unterbreiten können, wie Lücken zu schließen sind.

8. Machen Sie Ihren Anforderungskatalog zum Teil des Vertrags. Dann überlegen die Hersteller zweimal, wo sie ihre Häkchen setzen.

9. Achten Sie auf die Unabhängigkeit externer Berater. Prüfen Sie gegebenenfalls die Projekthistorie und achten Sie darauf, ob bestimmte Anbieter oder Produkte favorisiert werden.

10. Lassen Sie sich das Pflichtenheft nicht vom Softwarehersteller diktieren.

Hier lesen Sie ...

- warum Softwarehersteller wie Godesys nichts von dicken Pflichtenheften halten;

- welche Interessen hinter gut gemeinten Ratschlägen stecken können;

- wie internes und externes Know-how für einen gelungenen Anforderungskatalog zusammen gebracht werden können.

Mehr zum Thema

www.computerwoche.de/go/

572444: Kalkulieren statt schätzen;

571959: Gratis-Check für ERP-Pflichtenhefte;

561849: Zehn Schritte zum Projekterfolg.

Weiterführende Links

Auf der COMPUTERWOCHE-Homepage finden Sie im "Product-Guide" unter www.computerwoche.de/product_guide/it_matchmaker/ Einzelprofile zu über 600 Softwarelösungen. Auf Basis des IT-Matchmakers der Trovarit AG lassen sich damit wichtige Informationen über einzelne Produkte und Anbieter zusammentragen, die beim Schreiben eines Pflichtenheftes hilfreich sind.

Um den Kampf aufzunehmen, bietet Godesys seit einigen Wochen einen Fitness-Check für Pflichtenhefte an. Anwender können diese an den ERP-Anbieter schicken, wo die Wünsche insbesondere auf die jeweiligen kundenorientierten Anforderungen geprüft würden, heißt es in einer Mitteilung der Mainzer. Pragmatisch, unverschnörkelt und kostenlos, mit diesen Attributen wirbt Kühl für seine Aktion, die noch bis Sommeranfang dauern soll: "Für niemanden entsteht in irgendeiner Art und Weise eine Verpflichtung."

"Dann zocken sie Sie ab"

Godesys wolle den Kunden nicht wirklich helfen, sondern lediglich an Aufträge kommen, kontert Walter Kolbenschlag, Geschäftsführer der UBK GmbH. Das Unternehmen aus Lauf an der Pegnitz berät Anwender bei der Auswahl von Business-Software. Es sei falsch, alle ERP-Pflichtenhefte pauschal als unbrauchbar abzustempeln. Viele Softwarehäuser wollten die Kunden nur fangen, dabei aber so wenig wie möglich zusagen: "Dann zocken sie sie ab."

Qualität geht vor Quantität

Genau aus diesem Grund sei ein detaillierter Anforderungskatalog notwendig, argumentiert Kolbenschlag. Den müsse der Kunde jedoch auf Basis seiner Geschäftsprozesse erarbeiten. Dazu gehörten neben der Aufnahme des Ist-Zustands auch Überlegungen, welche Abläufe geändert werden müssten. "Die Prozesse bestimmen die Software", lautet das Credo des Beraters. Daraus entstehe dann ein Katalog von 500 bis 900 Anforderungen. Kritik von Seiten der Hersteller an einem solchen Pflichtenheft kann Kolbenschlag nicht nachvollziehen: "Wenn ein Softwarehaus Lizenzen im Wert von mehreren Millionen Euro verkaufen will, kann es nicht erwarten, mit ein paar Fragen davon zu kommen."

Allerdings sei vor allem die Qualität der Forderung wichtig, nicht die Quantität, relativiert er. Kolbenschlag: "Je schlechter man vorher seine Ansprüche formuliert, desto höher sind später die Anpassungskosten." Daher führten Auswahlverfahren, die allein auf stereotypen Checklisten aufbauen, nicht zum Ziel. Derartige Kataloge bombardierten die Softwarehäuser mit mehreren tausend Punkten. Die könne jedoch kein Mensch bearbeiten, "außerdem steckt da nur Mist drin."

Diese Ohrfeige für Checklisten will Karsten Sontow, Vorstand der Trovarit AG, nicht hinnehmen. Das Aachener Unternehmen bietet mit dem "IT-Matchmaker" einen Funktionskatalog, anhand dessen Anwender ihre Anforderungen definieren können. Dieser vorgefertigte Katalog entbinde die Verantwortlichen in den Unternehmen jedoch nicht davon, sich Gedanken über ihre Anforderungen zu machen, mahnt der Berater. Sie müssten zunächst genau spezifizieren und priorisieren, welche Funktionen die neue Software haben soll.

Teil des Business

Die Hersteller sollten eigentlich zufrieden sein, von ihren Kunden mit einem solchen Anforderungskatalog konfrontiert zu werden. Damit könnten sie schnell einordnen, ob die eigenen Produkte auf die Ansprüche des Kunden passen und damit überhaupt eine Chance besteht, den Auftrag zu bekommen. Sicherlich seien manche Pflichtenhefte überfrachtet, räumt Sontow ein - beispielweise dann, wenn herauskomme, dass ein Kleinunternehmen laut Eigendefinition eine komplexe SAP-Suite benötigt: "Da ist schnell viel zusammengeschrieben." Es könne jedoch nicht sein, dass sich die Anbieter nicht mit den Kompendien auseinandersetzen wollen, weil dies Arbeit bedeutet: "Das ist schließlich ihr Business."

Die Kritik der Softwarehersteller resultiere aus nachvollziehbaren Eigeninteressen, resümiert der Trovarit-Manager. Dünnere Pflichtenhefte bedeuteten, dass sich ein Anbieter im Vorfeld - wenn er noch gar nicht weiß, ob er den Auftrag überhaupt bekommt - weniger Arbeit machen muss. Zudem könne der Hersteller, der in aller Regel auch inhaltlich besser Bescheid weiß, einen Kunden, der sich nicht besonders intensiv mit seinen Wünschen auseinander gesetzt hat, leichter beeinflussen und steuern. Fehlende Erfahrung der Anwender beim Erstellen der Pflichtenhefte ist Sontow zufolge eine der Hauptursachen für überfrachtete Anforderungskataloge.

Vom Groben ins Feine

Sontow empfiehlt, zunächst ein Grobkonzept zu entwerfen. Im ersten Schritt genüge es, die wesentlichen Funktionen zu definieren, die eine Software abdecken sollte. Über den Daumen gepeilt, reichten dazu ein bis zwei Seiten aus. Mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen ließen sich die Kandidaten im Kreis der Softwarehersteller auf fünf bis zehn eingrenzen.

Keinen Sinn gebe es dagegen, gleich zu Beginn ein 150 Seiten umfassendes Pflichtenheft abzufassen, warnt der IT-Berater. Eine "Prozessanalyse bis auf Büroklammerebene" stelle im Grunde ein Fachkonzept für eine Softwareentwicklung dar. "Das ist weit über das Ziel hinausgeschossen."

Um eine komplette ERP-Installation in der Sprache des Kunden zu beschreiben, sind Sontow zufolge etwa 800 bis 1200 Spezifikationen ("Items") in Trovarits Matchmaker-Lösung notwendig. Ein Projektteam benötige dafür etwa zwei Tage. Mit diesem Feinkonzept habe der Anwender dann bereits eine Art Vertragsanlage an der Hand, mit der sich der geforderte Lieferumfang genau festlegen lasse. Zudem könne gemeinsam mit dem Anbieter ausgelotet werden, wie weit dieser mit seiner Standardlösung komme.

Das Pflichtenheft flach halten

Dass viele Kunden oft nicht in der Lage seien, allein ein Pflichtenheft zusammenzustellen, darüber sind sich Berater und Hersteller einig. Auf Seiten der Anwender herrsche zumeist große Unsicherheit, meint Godesys-Chef Kühl. Man dürfe ihnen deshalb jedoch keine böse Absicht unterstellen. In den 90er Jahren seien viele ERP-Projekte schief gegangen, erinnert sich der Manager. Viele Experten hätten damals behauptet, dies liege daran, dass die Kunden keine verbindlichen Vereinbarungen mit ihren Softwarelieferanten getroffen hätten. Um auf der sicheren Seite zu sein, würden Kunden daher heute alle verfügbaren Features in ihrem Pflichtenheft abbilden: "Viele denken, dass sie damit nichts falsch machen und für alle Eventualitäten gerüstet sind." Leider sei es nun aber an der Tagesordnung, dass sich Prozesse ad absurdum führten und Funktionen abgefragt würden, die nichts mit den hauseigenen Geschäftsabläufen zu tun haben, berichtet Kühl.

"Mich lähmt dieser Featureismus", gibt der Godesys-Chef zu. Mittlerweile bewegten sich die ERP-Lösungen auf einem Niveau, in dem eine Abgrenzung vom Wettbewerb über Funktionen eigentlich nicht mehr möglich sei. Im Grunde genommen sei ERP heute Brot-und-Butter-Geschäft. Die Herausforderung für die Anbieter bestehe darin, ihre Kunden autark am System arbeiten zu lassen, so dass diese selbständig sich ändernde Anforderungen abdecken können. "Standard, aber nicht von der Stange - das ist gefragt", lautet Kühls Fazit.

Anwender verlieren Überblick

Den Anwendern scheint es jedoch nach wie vor schwer zu fallen, die richtigen Anforderungen zu definieren. "Ich kann in mein Pflichtenheft alle möglichen Wünsche hineinschreiben, weiß aber gar nicht, ob das der Markt überhaupt hergibt", beschreibt Frank Kühneweg, IT-Leiter der Seybert & Rahier GmbH, die Situation, in der der Maschinen- und Anlagenbauer vor der Auswahl seines neuen Produktion-, Planungs- und Steuerungssystems (PPS) steckte. Auf der anderen Seite gebe es womöglich schon eine bessere Lösung, als im Pflichtenheft gefordert sei. Aus Anwendersicht sei es schwierig, den Überblick zu behalten. Daher empfehle sich, externes Know-how hinzuziehen.

Als Serien- und Projektfertiger habe das Unternehmen eine breite Anforderungspalette an das PPS-System gehabt, berichtet Kühneweg. Das gemeinsam mit einem Berater ausgearbeitete Pflichtenheft umfasste zuletzt rund 900 Punkte. "Da haben die Anbieter erst einmal dicke Backen bekommen und durchgeschnauft", erzählt der IT-Leiter schmunzelnd. Von seinen Forderungen sei er jedoch nicht abgerückt. Im Gegenteil: Den einen oder anderen Punkt habe man im Auswahlverfahren noch detaillierter spezifiziert.

"Ein flaches Pflichtenheft birgt Gefahren", warnt Kühneweg. Zwar argumentierten die Hersteller damit, das Projekt so schneller zum Laufen zu bringen. Außerdem bleibe noch genügend Zeit, die Details im Laufe der Implementierung auszuarbeiten. Darauf sollte sich der Kunde jedoch nicht einlassen, rät der IT-Leiter: "Dann kommen erst die wahren Probleme ans Licht." Der Anwender sei dann allerdings meist zu weit im Projekt fortgeschritten, als dass ein Zurückdrehen ohne Schwierigkeiten möglich wäre. Daher sei es ratsam, die Spezifikationen aus dem Pflichtenheft auch zum Bestandteil des späteren Vertrages zu machen. Den Weg, ein Pflichtenheft mit externer Hilfe zu erstellen, würde Kühneweg jederzeit wieder bestreiten.

Hersteller wie Berater halten sich gleichermaßen für am besten geeignet, den Anwendern beim Schreiben der Pflichtenhefte die Feder zu führen. Dabei bekämen die Hersteller meist zu wenige Chancen, genau zu fragen, was der Kunde verbessern könnte, beklagt Godesys-Chef Kühl: "Das ist traurig, weil eigentlich Geld investiert wird, um etwas besser zu machen."

"Das brauchen Sie nicht"

"Wenn ich ein desolat funktionierendes Lager sehe, dann erkenne ich das", behauptet Kühl selbstbewusst. "Außerdem habe ich mehr Lager gesehen als die meisten meiner Kunden." Gelinge es, die Abläufe zu verbessern und den Lagerumschlag zu beschleunigen, habe der Kunde einen größeren Mehrwert, als wenn er im Pflichtenheft RFID-Technik fordert, "aber bis heute nicht weiß, was das eigentlich bedeutet".

Die Fähigkeit, die Anwender richtig und vor allem unabhängig zu beraten, spricht Kolbenschlag von UBK den Herstellern jedoch ab: "Ein Softwarehaus argumentiert immer nur das, was es kann." Der Berater erzählt von einem Schweizer Baumaschinenhändler, der eine neue Software für die Verwaltung seines Fuhrparks suchte. Als der selbsternannte Marktführer für dieses Branchensegment mit den Anforderungen des Kunden konfrontiert wurde und Teile davon nicht abdecken konnte, habe es von Seiten des Softwareherstellers nur geheißen: "Das haben Sie nicht zu brauchen."

Bernhard Ritter, öffentlich bestellter Sachverständiger für Produktionsplanung, Steuerung und Logistik, warnt die Anwender generell vor zu viel Vertrauensseligkeit - gegenüber Herstellern wie auch Beratern. Ein Softwareanbieter schreibe in das Pflichtenheft genau das, was er kann, stimmt er Kolbenschlag zu. Zudem versprächen gerade Vertriebsmitarbeiter den Kunden gerne sehr viel.

Doch auch unter den vermeintlich unabhängigen Beratern gibt es Ritter zufolge viele Schwarze Schafe. Teilweise würden einfach aus einem Herstellerkatalog Softwarefunktionen herauskopiert und dies dem Kunden als veritabler Anforderungskatalog verkauft. Außerdem seien viele Berater mit einer Software oder einem Hersteller verbunden, ohne dass es der Kunde merke. Die Palette reiche von unbewussten Bevorteilungen, weil ein früheres Projekt mit einem bestimmten Produkt glücklich gelaufen sei, bis hin zu Provisionszahlungen. Der Sachverständige schätzt, dass lediglich zehn Prozent der freien Berater in diesem Umfeld wirklich seriös arbeiteten.

Alle in die Pflicht nehmen

Ritter empfiehlt, mit Anwender, Berater und Hersteller alle Beteiligten an Bord zu nehmen und einzubinden - am besten bis zum Abschluss des Projekts. "Ein Softwarepaket ist schnell empfohlen - dann kassiert der Berater und verschwindet." Für die Kunden hängt viel von dieser Empfehlung ab, mahnt der Experte. Die meisten seien sich nicht darüber im Klaren, dass sie auf Tod und Teufel mit ihrem Softwarelieferanten verheiratet sind. "Von einer Frau können Sie sich scheiden lassen. Da finden Sie vielleicht eine andere. Wenn Sie sich jedoch auf eine Software eingelassen haben und es gibt Scherereien, dann stecken Sie in einer tödlichen Falle."