Leserbriefe/Steinzeitliche Kommunikation mit neuer Technik

06.10.1995

Betrifft CW Nr. 38 vom 22. September 1995, Seite 56: "Paedagogische Provinz blockiert den Wachstumsmarkt Multimedia"

Ausgerechnet "im Land der Dichter und Denker" ruft ausgerechnet ein SPD-Politiker nach einem deutschen Al Gore und nach Multimedia statt nach einem Goethe. Hatte Schiller einen PC? Oder arbeitete zumindest Mann - egal welcher - mit Word? Hatte Duerer sich mit Paintbrush rumgeaergert? Hatte Johann Sebastian Bach eine Aktivbox an seiner Silbermann-Orgel? - Hatten sie, aber nur waehrend des Studiums.

Ja, ich weiss. Prof. Glotz geht es nur um "Basisinformationen", nicht um "innovative Inhalte". Dann soll er aber verdammt noch mal die Dichter und Denker aus dem Spiel lassen, wenn er Geld und Macht meint!

Multimedia soll sicher nicht auf Schulen und Universitaeten beschraenkt bleiben, da sei die Industrie vor! In der Verbreitung wird es sich ueber der Bild-Zeitung und im Niveau unter dem Fernsehen ansiedeln. Ich sehe daher den Multimediarummel recht skeptisch, wo doch jetzt schon Gymnasiasten kaum einen korrekten Satz zu Papier bringen und die Menschheit kommunikationstechnisch in die Steinzeit zurueckversetzt wird, weil sie nur noch Bildsymbole versteht ("Ikonen" - welch programmatische Doppeldeutigkeit!). Aber es laesst sich offenbar alles mit "Wachstumsmarkt", "Konkurrenzfaehigkeit", "Welthandel" und aehnlichen Schockern und Schimaeren gut verkaufen. Mehr Arbeitsplaetze bringt's nicht, nur andere, die Lehrstellen werden weiter abgebaut, die "kulturelle Kolonisation" haben wir schon, und die "Abkopplung kommunikativer Unterschichten in gewaltbestimmte Traum- und Spielwelten" wird durch Multimedia forciert.

Aber ich bin lernfaehig. Ich revidiere meine Meinung, wenn der erste Mensch mit virtuellen Broetchen satt geworden ist.

So nebenbei gefragt: In welchen Aufsichtsraeten sitzt Herr Glotz?

Wolfgang Luckner, Bonn