"Konkurrenz steht meiner Meinung nach dem Fortschritt im Weg"

05.09.1986

þDie im Oktober anlaufende DPG-Aktion "Sichert die Post - Rettet das Fernmeldewesen" richtet sich gegen eine Privatisierung oder Teilprivatisierung der Post; in diesen Zusammenhang gehört auch das Wort "Liberalisierung". Bitte definieren Sie diese drei Begriffe.

Zwischen Privatisierung und Teilprivatisierung gibt es nur einen abgrenzenden Unterschied hinsichtlich der Größenordnung, der Mengen, der betroffenen Organisationseinheiten. Privatisierung oder Teilprivatisierung heißt für uns, daß Aufgaben, die bisher von der Deutschen Bundespost oder allgemein staatlich wahrgenommen werden, in private Hand übergeführt würden. Liberalisierung ist eigentlich ein Wort, das im Zusammenhang mit der jetzt stattfindenden Diskussion vom Bundespostminister eingebracht worden ist, indem er gesagt hat, wir brauchen die bestehenden Rechtsgrundlagen, zum Beispiel das Fernmeldeanlagengesetz, nicht zu ändern; wir brauchen es nur liberaler anzuwenden. Das heißt dann in unserer Interpretation, daß man die bisherige Position aufgegeben hat oder aufgeben will, um zu lockereren Anwendungen zu kommen. Ich würde aber diese drei Stichworte gern um ein viertes ergänzen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung in den Vereinigten Staaten ist ja das Wort Deregulierung interessant geworden. Man hat also in den USA dereguliert, das heißt bestehende Fernmeldestrukturen zerschlagen, und dabei bestehende Konstruktionen, bestehende Ordnungen aufgegeben, so zum Beispiel die alten Gebietsmonopole. Ich würde das gern deshalb ergänzen, weil diese Deregulierung eine wesentliche Rolle bei der ganzen Geschichte spielt.

þIst die Deregulierung sozusagen eine Konkretisierung der Liberalisierung?

Liberalisierung würde in unserer Interpretation bedeuten, man läßt die Rechtsvorschriften bestehen und handhabt im Rahmen dieser bestehenden Ordnungen lockerer. Deregulierung würde nach unserer Interpretation bedeuten, daß man die bestehenden Grundlagen zerschlägt und neue bildet.

þHat die Aktion rein präventiven Charakter, oder befürchten Sie in nächster Zeit konkrete Maßnahmen in Richtung auf einen der vier genannten Begriffe? Bislang hört man vor allem Gerüchte. Der Postminister habe sie in die Diskussion gebracht, sogar die SPD denke an Privatisierung, zumindest in Teilbereichen ... Wie sehen Ihre Befürchtungen aus?

Ich bin zunächst nicht der Meinung, daß die beiden von Ihnen genannten Adressaten im wesentlichen die treibenden Kräfte sind...

þSondern?

...sondern eigentlich mehr andere Politiker in Regierungsverantwortung; ich würde hier zum Beispiel den Bundeswirtschaftsminister und Politiker wie Herrn Remmers in Niedersachsen vorrangig sehen. Ich würde aber auch die Wirtschaftsverbände sehen, den Wirtschaftsflügel der CDU, die FDP vielleicht schlechthin als die treibenden Kräfte, die in dieser Frage den Motor darstellen. Wesentlich beteiligt sind auch multinationale Unternehmen des Auslands.

þUnd wie akut ist das Ihrer Ansicht nach? Wollen Sie jetzt schon mal zuschlagen, bevor es zu spät ist, oder haben Sie konkrete Gründe, zu befürchten, daß da was ins Haus steht?

Ja, ich glaube schon, daß da was ins Haus steht. Wenn der Generalsekretär der FDP, der Herr Haussmann, zum Beispiel sagt: "Nun ist die Post dran", dann nehme ich an, daß das in seiner Partei diskutiert worden ist; und wir wären schlecht beraten, würden wir solche Aussagen unbeachtet lassen oder nicht ernst nehmen.

Es gibt eine Regierungskommission, die von der Bundesregierung eingesetzt worden ist. Sie soll die Strukturen des Fernmeldewesens, so heißt ja wohl ihr Auftrag zunächst, untersuchen, ob sie noch geeignet sind, die Zukunft zu bewältigen. Und das heißt ja auch wohl nichts anderes, als darüber nachzudenken, ob man nicht zu neuen, zu anderen Lösungen kommen muß, um es zunächst mal neutral auszudrücken. Die zeitlichen Vorstellungen dieser Regierungskommission sind wohl so, daß sie unmittelbar nach der Bundestagswahl ihre Überlegungen auf den Tisch legen will. Das, meine ich, sind schon sehr konkrete Anlässe für uns, eine solche Aktion, wie wir sie vorhaben, zu starten.

þDas ist dann auch ein Wahlkampfthema. Meinen Sie, daß das in der Bevölkerung populär ist?

Daß unsere Aktion jetzt in die Vorwahlzeit fällt, hat etwas damit zu tun, daß wir gern verbindlich wissen möchten, was die Parteien nach der Wahl in dieser Frage vorhaben. Wir möchten weder vor der Wahl noch nach der Wahl betrogen werden. Wir möchten also schon sehr konkret wissen, was nach der Wahl in diesen Fragen geschehen soll.

þNach dem zeitlichen Gesichtspunkt möchte ich jetzt über den sachlichen sprechen. Was genau befürchten Sie? Was fällt Ihnen zum Beispiel zu den Stichwörtern VAN und Betriebs- oder Servicegesellschaften ein? Eigentlich wäre es vom kaufmännischen Standpunkt aus günstiger, den weniger lukrativen Teil der Post abzustoßen. Im Gespräch ist aber das Fernmeldewesen, also der Teil, der Gewinn abwirft ...

Also zunächst würde ich mal davon ausgehen, daß aus sehr sinnvollem Anlaß und Grund die Verantwortung der Kommunikationsversorgung in der Bundesrepublik Deutschland grundgesetzlich festgelegt dem Staat überantwortet worden ist. Wir haben eine dem Sozialstaat verpflichtete Verfassung.

Und wir meinen, daß Kommunikationsversorgung Infrastruktur ist. Wenn es eine Gemeinwohlverpflichtung gibt, die die Deutsche Bundespost in diesem Feld zu erbringen hat, dann kann sie dieser Verpflichtung auch auf der Grundlage des Sozialstaatsgedankens eigentlich nur dann nachkommen, ohne den Steuerzahler zu belasten, wenn sie Gelegenheit hat, ihre Einnahmen auch da zu erzielen, wo sie erzielbar sind. Kommunikationsversorgung ist eine Einheit, sowohl für körperliche als auch für elektronische oder elektrische Übermittlungen. Und ich meine, daß das eben am besten geleistet werden kann im Verbund unter einem Dach.

þIhre Argumentation geht dahin, daß der Postdienst nur mit der momentanen Mischkalkulation ...

... genauso ist es.

þ... für die Bürgerinnen und Bürger in seiner Gesamtheit erschwinglich bleibt ...

Darf ich da eine Einschränkung machen?

þJa, bitte ...

Der Postdienst arbeitet derzeit mit einer Kostenunterdeckung von annähernd zwei Milliarden Mark insgesamt. Die Deutsche Bundespost leistet neben der Ablieferung an die Bundeskasse in Höhe von etwa 4,5 Millionen Mark auch betriebsfremde und politische Lasten in Höhe von zirka 1,7 Milliarden Mark. Das reicht von Versorgungslasten aus dem Zweiten Weltkrieg bis hin zur notwendigen Subventionierung von Paketen, nach Polen zum Beispiel, und bis zur notwendigen Subventionierung des Postzeitungsdienstes. Der Postzeitungsdienst macht eine halbe Milliarde Defizit, und dieses Defizit wird gewollt durch die Post ausgeglichen, um eine notwendige breite Information landesweit zu ermöglichen.

þIch meine, aus dem, was Sie vorhin gesagt haben, schon entnehmen zu dürfen - aber korrigieren Sie mich -, daß es für Sie überhaupt nicht in Frage kommt, die Fernsprechgebühren zu senken und dafür auf dem sogenannten gelben Postbereich kostendeckend zu arbeiten, also dort die Preise zu erhöhen.

Die Deutsche Bundespost hat auch bei der technischen Entwicklung gewaltige Vorleistungen zu erbringen. Sie muß die notwendigen Investitionen aus ihren eigenen Mitteln erbringen können. Sie muß, das ist ihr Auftrag, eigenwirtschaftlich arbeiten, sie muß also alle ihre Ausgaben aus ihren eigenen Einnahmen decken ...

þ... aber nicht in den einzelnen Teilbereichen, sondern in ihrer Gesamtheit?

... nicht in den einzelnen Teilbereichen, sondern im Rahmen eines Globaldeckungsprinzips.

þDie Konkurrenz der Anbieter bringt in der Regel niedrigere Preise für die Verbraucher mit sich. In den USA sind die Ferngespräche billiger als bei uns. Welche negativen Privatisierungserfahrungen in England und in den USA sprechen Sie in der DPG-Broschüre konkret an?

In den USA zum Beispiel gibt es erhebliche Schwierigkeiten wegen der auch im Netz bestehenden Konkurrenz der unterschiedlichen Systeme, unterschiedlicher Standards, ein ISDN aufzubauen. Es kommt mit Sicherheit nicht mit der Qualität zustande, wie das hier der Fall ist. In Japan ist auch nur eine abgemagerte Version möglich. Damit will ich zunächst einmal argumentieren, daß es sehr sinnvoll ist, wenn hier zentral und aus einer Hand gesteuert Standards gesetzt werden. Würde man diese Voraussetzungen nicht haben, dann müßte man davon ausgehen, daß das Vorhaben ISDN etwa 70 Prozent teurer würde.

þIhre These ist also, daß die Konkurrenz dem Fortschritt im Wege steht?

Die steht meiner Meinung nach im Wege. Das, was da an Nischen an dieser oder jener Stelle vielleicht mehr ausgeleuchtet würde durch Konkurrenz, glaube ich, ginge durch die behindernden Effekte wieder verloren. Und vielleicht noch ein paar andere Einzelheiten: In den Vereinigten Staaten, so haben wir jetzt von jemanden gehört, der sich einige Monate in den USA aufgehalten hat sind etwa 70 Prozent der telefonierenden Bevölkerung negativ von der Deregulierung betroffen.

þInwiefern?

Insofern, daß die Gebühren wesentlich teurer geworden sind, daß die Kosten im Zusammenhang mit dem Telefonieren wesentlich teurer geworden sind, und sich eigentlich nur die Gebühren auf den Fernleitungen verbilligt haben. Es gibt aber in den USA, ich übernehme jetzt die fremden Zahlen, 30 Prozent der Telefonteilnehmer, die im wesentlichen überhaupt nicht den Fernverkehr benutzen. Der Zufriedenheitsgrad mit dem amerikanischen Telefonsystem ist von ursprünglich sehr hoher Zufriedenheit auf einen Zufriedenheitsgrad von deutlich unter 50 Prozent zusammengebrochen.

þWissen Sie, um wieviel der Nahverkehr teurer geworden ist?

Es gibt Werte, die sprechen im Durchschnitt von bis zu 42 Prozent, während die Verbilligung auf den Fernstrecken unter 10 Prozent liegt. Aber Sie müssen immer die US-amerikanischen Verhältnisse unterstellen und voraussetzen. Das sind Durchschnittswerte; es kann durchaus sein, daß das in einer Region nicht nur 40, sondern 130 Prozent waren. Dann gibt es keine End-to-End-Verantwortung mehr in einer Hand. Es kann durchaus sein, daß Sie am Monatsende vier, fünf, sechs Fernmelderechnungen bekommen. Außerdem gliedern sich die Telefonkunden insgesamt in den Vereinigten Staaten inzwischen in eine privilegierte und eine unterprivilegierte Gruppe.

þWie unterscheiden die sich?

Die unterscheiden sich dadurch daß es einen Anteil gibt - die Zahl die mir mal zu Ohren gekommen ist, lag bei acht Millionen Fernsprechteilnehmern -, der ist durch die Deregulierung und die daraus entstandenen höheren Kosten in den Telefonnotstand geraten. Sie können das nicht mehr bezahlen, was dazu führt, daß man in einem Land wie den USA über Subventionen solcher Unterprivilegierter nachdenken muß und nachdenkt.

Vielleicht noch ein Bereich, der sicherlich für uns von besonderer Bedeutung ist: Wir wissen, daß bei AT&T, also dem eigentlichen Träger des früheren Telefonsystems in den USA, aus einem bestimmten Bereich mit 119 000 Beschäftigten die Arbeitsplätze für 24 000 Beschäftigte abgebaut worden sind. Also hat die Deregulierung auch einen gewaltigen Effekt in Richtung Arbeitsplätze. Wir wissen außerdem, daß Endgeräte früher in den USA produziert worden sind. AT&T hatte so etwas wie ein Quasi-Monopol - rund 80 Prozent des Fernmeldemarktes in den USA - und hat mit seiner Produktionsstätte Western Electric auch die Geräte in den USA selber hergestellt. Da man heute das Telefon im Kaufhaus kaufen kann, werden natürlich Produkte aus Billiglohnländern angeboten, was dazu geführt hat, daß in den Vereinigten Staaten kein einfaches Endgerät mehr produziert wird. Western Electric hat auch mit der Produktion dieser Geräte in Billiglohnländer ausweichen müssen.

þUnd das befürchten Sie auch für die Bundesrepublik?

Ja, das befürchten wir auch hier, wenn man die Liberalisierung oder Deregulierung oder Privatisierung hier - das sind ja Steigerungsstufen - so weit betreibt, daß so etwas wie eine Vernichtungskonkurrenz stattfindet. Warum sollen die Wirkungen hier anders sein, als sie eben in den USA oder in England sind?

þHeißt das, es können keine neuen Telefonkunden gewonnen werden, indem die Konkurrenz eventuell niedrigere Preise mit sich bringt?

Ich glaube nicht, daß das Reservoir im einkommensschwächeren Teil der Bevölkerung noch so groß ist, daß sich da etwas Wesentliches tun kann. Und es wäre ja auch völlig gegen die Erfahrungen aus England und aus den Vereinigten Staaten, wenn in diesem Bereich etwas tatsächlich durch diese Konkurrenz billiger werden würde. Billiger ist es für die Großunternehmen geworden, für die, die große Informationsmengen über Fernleitungen transportieren.

þUnd die neuen Dienste, die auf das Leitungsnetz aufgepfropft werden können, -die Value Added Services -, sind für Privatkunden und kleine oder mittlere Betriebe nicht interessant?

Ich meine, das Konzept der Digitalisierung und der Zusammenfassung aller Dienste auf einem Netz ist sicherlich eine technisch sinnvolle und auch bei den Voraussetzungen hier eine preisgünstige Lösung, eine billige Lösung sogar. So daß ich davon ausgehe, daß man über dieses technische Vorhaben eigentlich alle Bedürfnisse befriedigen kann.

þWenn sich das Informationsmonopol der Post im Grundgesetz verankern läßt, ist dann Ihrer Meinung nach jede Privatisierung oder Liberalisierung verfassungswidrig?

Ja. Ich meine, der Artikel 87 unseres Grundgesetzes legt das in die Hände des Staates; und ich glaube auch, daß darüber kein Dissens besteht bei all denen, die darüber nachdenken. Die von Privatisierung reden, sehen sicherlich Lösungen, die unterhalb oder innerhalb dieser grundgesetzlichen Vorgabe - nach ihrer Meinung - möglich scheinen. Wir gehen davon aus, daß die grundgesetzliche Festlegung sehr verbindlich und sehr weitgehend greift; andere beurteilen das sicherlich so, daß sie Handlungsräume unter diesem Artikel 87 meinen erkennen zu können.

þIst das möglicherweise eine Geschichte, die beim Bundesverfassungsgericht landen kann?

Ich will das letztlich nicht ausschließen.