IT im Gesundheitswesen/Einführungsstrategie für Standardsoftware als Branchenpaket

Klinikum Ludwigshafen führt R/3 ein und reorganisiert sich

21.06.1996

Das Kalkül der Ludwigshafener lautete: eine integrierte Client-Server-Standardsoftware (SAP-R/3) als Instrument zu etablieren, mit dem sich alle Betriebsbereiche steuern lassen. Die Einführung des Krankenhausinformationssystems wurde in dem Großklinikum im Rahmen eines detaillierten Projekt-Managements realisiert.

Bei der IT-Neuorientierung des Klinikums spielte Mitte 1994 zwar auch der Strukturwandel eine Rolle, doch stand dieser Aspekt von seiner Priorität nicht obenan. Auslöser für einen Paradigmenwechsel in der IT war vielmehr die Umwandlung des Klinikums von einem städtischen Betrieb in eine gemeinnützige GmbH (GmbH). Damit verbunden war nicht nur ein neues Krankenhaus- Management, sondern auch die Tatsache, daß eine neugegründete IT- Abteilung mit einer komplett neuen Mannschaft organisatorisch als Stab der Geschäftsführung verankert wurde.

Ehedem wurde die IT als kleine Einheit mit wenig ausgeprägtem Know-how - wie vielerorts üblich - ein Anhängsel der Verwaltung mit untergeordnetem Stellenwert angesehen. Mainframe- Standardanwendungen wie Finanz- und Anlagenbuchhaltung, Patientenverwaltung und -abrechnung, Controlling sowie die gesetzliche Diagnosedokumentation wurden als Serviceleistungen vom Rechenzentrum des Statistischen Landesamtes in Bad-Ems bezogen. Dessen unflexible Applikationen waren keine Option auf die Zukunft. Eine Reihe von Subsystemen waren mit den Standardanwendungen nur lose beziehungsweise gar nicht gekoppelt und Medienbrüche damit unvermeidbar.

Für das neue Team stand fest: Organisation und IT müssen auf einem durchgängigen, abgestimmten und langfristigen Gesamtkonzept fußen zur Einführung einer integrierten Client-Server-Standardsoftware in allen Unternehmensbereichen als Instrument für das Krankenhaus- Management sah man keine Alternativen.

In der Folge erarbeitete die IT-Mannschaft im Herbst 1994 ein integriertes IT-Gesamtkonzept, bei dem das Leitmotiv "Freiheit für den dezentral arbeitenden Endanwender mit der Sicherheit eines Kernsystems auf der Basis einer zentralen Datenhaltung" eindeutig vorherrschte.

Ob Laborsystem, Blutbank oder System für die Herzchirurgie - nach wie vor sollten die Fachbereiche die Entscheidungsfreiheit haben, ihr optimales Anwendungssystem auszuwählen und damit zu arbeiten, allerdings ergänzt um ein übergreifendes betriebswirtschaftliches Branchenpaket. Dieses sollte nicht nur die funktionalen Anforderungen abdecken und alle Geschäftsprozesse des Klinikums unterstützen, sondern auch hinsichtlich der Anbindungs- respektive der Kommunikationsmöglichkeiten mit den übrigen Subsystemen frei konfigurierbar sein. Hinzu kamen die Maßgaben, daß es auf einer relationalen Datenbank basiert, flexibel zu parametrisieren ist, eine einheitliche grafische Oberfläche aufweist und eine hohe Skalierbarkeit der Hardware zuläßt.

Nach eingehender und detaillierter Prüfung aller am Markt verfügbaren Client-Server-Standardpakete entschied sich das Klinikum Anfang letzten Jahres für das SAP- Krankenhausinformationssystem R/3 mit den Anwendungskomponenten für Patienten-Management und -abrechnung (IS-H), Controlling (CO), Finanz- und Anlagenwirtschaft (FI, FI-AA) sowie Mate- rialwirtschaft (MM). Dabei war allen Verantwortlichen klar, daß die Einführung keine triviale Angelegenheit darstellt und mit weitreichenden Konsequenzen verbunden ist. Mögliche interne Einführungsrisiken wurden deshalb auch zusammen mit den Beratern minuziös und schonungslos abgeklopft. Neu zu implementieren heißt ja auch, daß sich Arbeitsinhalte und Verantwortlichkeiten erheblich ändern können.

Geboten schien deshalb eine Einsatzuntersuchung, die eventuelle Implementierungshindernisse deutlich werden lassen würde, die unter anderem gleichfalls darüber Auskunft geben würde, ob sich die Einführung des Standardpakets als Branchenlösung in einem definierten Zeitrahmen realisieren läßt. Letzteres war vor allem deshalb von großer Bedeutung, weil die Verträge mit dem RZ Bad Ems und damit die bisherige IT-Grundversorgung zum 31. Dezember 1995 gekündigt wurden. Spätestens vom 1. Januar dieses Jahres an sollte die neue Lösung produktiv laufen.

Einführungsrisiken minuziös abgeklopft

Die Expertise war allerdings auch aus einem anderen Grund zwingend erforderlich: Da das Ludwigshafener Klinikum für den außergewöhnlichen Weg votierte, die SAP-Einführung ohne ein externes Generalunternehmen (Consulting-Firma, Software- und Beratungshaus), sondern in Eigenverantwortung zu managen und durchzuführen, sollte die Untersuchung neben einer Prozeß- und Funktionsanalyse eine praktikable Projektrealisierungsplanung, eine den spezifischen Erfordernissen entsprechende Projektorganisation sowie einen notwendigen strategischen Handlungsbedarf aufzeigen.

Hauptgründe dafür, das Projekt ohne Generalunternehmer zu realisieren, waren: Man wollte stets Herr über Informationen und Daten (Stichwort Fremdsteuerung) bleiben und in Zukunft selbst die krankenhausweiten Geschäftsprozesse verbessern. Der gezielte Einsatz externer Berater war nur für dezidierte Teile des Projekts vorgesehen.

Berater nur für dezidierte Teile

Mit der Einsatzuntersuchung, die Ende Februar 1995 vorlag, wurden die Dimensionen klar, und die Handlungserfordernisse nahmen für alle Beteiligten scharfe Konturen an: Die Einführung würde kein Projekt einzelner Personen oder Organisationseinheiten (etwa IT oder Fachabteilungen), sondern vielmehr ein Projekt des Klinikums sein, das von allen Verantwortlichen getragen werden mußte. Es war unabdingbar, daß die traditionelle Abteilungssicht durch eine integrative Prozeßsicht abgelöst wurde. Die Auswirkungen dabei: Liebgewonnene Abläufe und Tätigkeiten mußten aufgegeben, alte Zöpfe abgeschnitten und ein abteilungsübergreifendes Denken mußte eingeführt werden - mit der Bereitschaft, neue Dinge im Interesse des Klinikums zu lernen und zu akzeptieren. Überdies wurde deutlich, daß die geplante Einführungszeit von zehn Monaten bei einer straffen Projektführung realistisch war, da die benötigte Funktionalität zur Verfügung stand.

Eine wichtige Aufgabe bestand ab Anfang März darin, die festgelegte Projektorganisation mit Lenkungsausschuß, Projekt- und Teilprojektleitung, Projektteammitgliedern und Beratern zum Laufen zu bringen und die Mitarbeiter aus den Fachbereichen mit dem erforderlichen psychologischen Fingerspitzengefühl zügig in das Vorhaben einzubinden.

Eskalations-Management und Besprechungskultur

Ferner wurden ein Eskalations-Management und eine Besprechungskultur, die aus Betroffenen Beteiligte werden lassen sollte, etabliert. Entsprechend den Modulen (plus dem Bereich "Schnittstellen" - davon gibt es momentan rund 40) wurden Teilprojektgruppen gebildet, wobei man übereinkam, das Know-how für die Implementierung in den Fachabteilungen aufzubauen. Sie sollten in die Lage versetzt werden, die Software eigenständig zu beherrschen (inklusive Customizing, spezifische Einstellungsarbeiten) - und zwar nicht explizit die dortigen Fachbereichsleiter, sondern die Mitarbeiter (Endanwender) aus über 20 Abteilungen, die später mit dem System tatsächlich arbeiten sollten.

Parallel dazu ging die IT daran, die ausgewählte Hardware (eine Sun Sparc 1000E/Win-PCs), das Netzwerk (FDDI/Glasfaser, Switching- Technologie) und die Systemsoftware (Datenbank In- formix Online) zu beschaffen und zu installieren.

Die Vorbehalte gegenüber dem neuen System tendierten rund zwei Monate nach Projektbeginn nach umfangreichen Schulungsmaßnahmen gegen Null. Bei ausnahmslos allen Beteiligten war festzustellen, daß es sich nicht mehr um das "böse neue", sondern vielmehr um das "eigene" System, wenn man so will, um das eigene "Baby" handelte. Das Bewußtsein, über den berühmten Tellerrand hinauszublicken, neue Chancen kennenzulernen und zu sehen, was beispielsweise "Integration" und "prozeßübergreifend" konkret bedeuten, wirkte als Katalysator für das gesamte Projekt. Dabei fiel es den Mitarbeitern aus den Fachabteilungen nicht immer ganz leicht, sich von langjährigen Gewohnheiten und Funktionen zu verabschieden.

Beispielsweise im Bereich Organisationsmittel, ein für ein Krankenhaus nicht zu unterschätzendes Feld: Heute gibt es im Klinikum der Stadt Ludwigshafen nur noch einen einheitlichen Barcode(-aufkleber), den sämtliche Systeme, inklusive Subsysteme, verarbeiten können. Der Inhalt wird zentral gestaltet und läßt sich von allen Mitarbeitern im Klinikum verwenden, was für sie gegenüber früher mitunter einen Informationsverlust mit sich bringt.

Durch die gestrafften, vereinheitlichten Vorgänge sind die Mitarbeiter jedoch viel schneller in der Lage, sich in neuen Abteilungen zurechtzufinden - im Falle eines Arbeitsplatzwechsels, etwa im Pflegebereich, ein Vorteil. Ferner sind einheitliche Barcodes für die verwaltungstechnische Abwicklung wichtig, weil damit gleichzeitig die Verwaltung effizient in den medizinischen Ablauf integriert wird - sind zum Beispiel die Ergebnisse einer Blutprobe vom Labor zu einer Station unterwegs, wird die Abrechnung dafür bereits im System angestoßen.

Übrigens wird der Patient dabei mit seiner Aufnahme als Debitor geführt und Controlling-seitig als Fallauftrag angelegt.

Fußangeln beziehungsweise unüberwindbare Hindernisse gab es während der weiteren Projektschritte im Verwaltungsbereich nicht. Der Produktivbetrieb, in der ersten Ausbaustufe auf knapp 100 aktive User ausgelegt, konnte Mitte Dezember letzten Jahres gestartet werden - genaugenommen wurde damit die vor Projektbeginn festgelegte Einführungszeit unterschritten. Ursprünglich war die Implementierung des Moduls IS-H nämlich erst für Anfang 1996 vorgesehen.

Doch Mitte 1995 zeichnete sich ab, daß es sinnvoll und auch machbar war, die Einführung früher als geplant durchzuführen. Dazu wurden zielgerichtet externe Servicekapazitäten eingekauft. Ausschlaggebend für die Hinzunahme des IS-H-Moduls waren allerdings folgende Fakten: Mit der Zeit identifizierten sich die Mitarbeiter der Teilprojektgruppen immer deutlicher mit dem Gesamtprojekt. Sie verstanden das System und die Prozesse zusehends besser, konnten binnen kurzem damit umgehen, womit sich gleichzeitig natürlich auch der kalkulierte Gesamtarbeitsaufwand verringerte - sicherlich ein Erfolg des gewählten Projekt- Managements und der bewußt geförderten Projektkultur, bei der unter anderem Faktoren wie Motivation und Qualifikation der Mitarbeiter im Vordergrund standen. Was den externen Beratungsaufwand bei dem Projekt anbelangt, wurden knapp 280 SAP- Beratertage benötigt: Weniger als vorgesehen.

Ebenfalls erreicht wurde das Ziel, ein bereichsübergreifendes Instrument für das Krankenhaus-Management zu installieren, mit dem sich Geschäftsprozesse kontrollieren und optimieren lassen - wodurch insbesondere die Ertragssituation des Krankenhauses beeinflußbar wurde. Ferner baute man ein effizientes Berichtswesen und ein System zur kostenträgerorientierten Leistungsverrechnung auf, führte neue Entgeltformen entsprechend dem GSG mit Fallpauschalen, Sonderentgelten sowie mehr als 30 Pflegesätzen ein. Die Abrechnung erfolgt im R/3-System. Und, für das Management des Klinikums der Stadt Ludwigshafen erfreulich, weil beabsichtigt: Die Hierarchie des Krankenhauses stellt sich heute wesentlich flacher dar. Eine vorteilhafte Dezentralisierung der Verantwortlichkeiten für den Krankenhausbereich wurde somit eingeleitet.

Zentrale Aufnahme sukzessive aufweichen

Der weitere Ausbau des Management-Tools ist vorgezeichnet: Zum einen wird sein Einsatz sowohl im Pflege- als auch im Medizinbereich kontinuierlich und konsequent vorangetrieben (Endausbau: 250 User, davon 100 aktive). In diesem Zusammenhang wird die Sun-Hardware ausgetauscht. Zwei Sun-Ultra-Sparc-4000- Maschinen (eine als Applikations-, eine als Datenbank-Server) verrichten künftig ihre Dienste. Zum anderen forciert man damit ein weiteres Mal die Dezentralisierung. Vorgesehen ist beispielsweise, die übliche zentrale Aufnahme der Patienten sukzessive aufzuweichen. Schon mittelfristig soll die Patientenaufnahme auf den Stationen vor Ort über das neue System laufen. Der Kernpunkt der Dezentralisierung ist es, die einzelnen Betriebseinheiten des Klinikums planbarer zu gestalten - und damit wiederum auf die Gewinnsituation Einfluß zu nehmen.

Angeklickt

Mit Dezentralisierung, Abflachung der Hierarchie, verbunden mit einem Wechsel der Gesellschaftsform (GmbH) in Ludwigshafen, sollten mehrere Fliegen mit einer Klappe - mit Standardsoftware von SAP als Branchenlösung - geschlagen werden. Zwar ließ sich auf Beratungsleistung nicht verzichten, doch wurde soviel internes Know-how aufgebaut, daß künftig fast alle Probleme inhouse gelöst werden können. Ein Eskalations-Management und eine neue Besprechungskultur halfen sowohl bei der Einführung der Software als auch bei der Akzeptanz der neuen Struktur. Außerdem wird die Dezentralisierung forciert, was die Planbarkeit der Betriebseinheiten erhöht.

Dr. med Uwe Gansert ist Leiter Informationstechnologie am Klinikum der Stadt Ludwigshafen GmbH.