Verstärkte Suche nach Work-Life-Balance und Mitbestimmung

IT-Profis zwischen Arbeitslust und -frust

06.02.2004
IT-Unternehmen möchten noch flexiblere Arbeitszeiten einführen und so Auftragsschwankungen ausgleichen, ergab jüngst eine Konjunkturumfrage. Ganz anders die Interessen der Beschäftigten: Sie streben klare Grenzen zwischen Arbeit und Leben an - kollektiv und verbindlich geregelt. Zu diesem Ergebnis kommen die Arbeitswissenschaftler des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München.Von Helga Ballauf*

Übernahmeverhandlungen gaben den Ausschlag. Die Beschäftigten des Standardsoftwareherstellers wählten einen Betriebsrat. Bisher hatte Herbert Feihinger** auf Einladung der Geschäftsleitung die Interessen der rund 600 Arbeitnehmer im Aufsichtsrat des Unternehmens vertreten. "Die Übernahme ist eine unbekannte Größe, die heimliche Ängste auslöst", berichtet Feihinger. "Jetzt wollen wir ein Gremium, das legal kollektive Regelungen aushandeln kann." Das Hauptinteresse gilt der Jobsicherheit. "Aber das Thema Arbeitszeit wird gleich danach auf dem Tisch des Betriebsrats liegen", schätzt Feihinger. Besonders die Berater, bei denen sich um des Projekterfolgs willen die Überstunden häufen, wollten einheitliche und verlässliche Rahmenbedingungen.

Die Erfahrungen von Feihinger und Kollegen sind in die Studie "Interessen und Interessenhandeln von IT-Beschäftigten" eingeflossen. Die Arbeitssoziologen Andreas Boes und Kira Marrs vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF München) werteten Experteninterviews und Fallstudien aus und kamen zu folgenden Ergebnissen: Mitarbeiter in IT-Unternehmen möchten die Arbeitsstunden begrenzen und am Wochenende frei haben. Sie suchen nach Wegen, wie sich die Trennung von Arbeit und Leben absichern lässt.

Die Forscher haben nicht die gesamte IT-Branche von den TK-Unternehmern über Hardwarehersteller bis zu Netzwerkdienstleistern untersucht. Vielmehr wählten sie gezielt die Sparte Software und IT-Service aus, erläutert Boes: "Bei der Frage, wie die Zukunft der Arbeitsbeziehungen und der Mitbestimmung aussieht, ist dieses Segment mit rund 388000 Beschäftigten am spannendsten. Hier spielt die Musik."

In den Softwareschmieden prallen Widersprüche besonders hart aufeinander. Die Profis dort erlebten Jahre der Jobsicherheit und Selbstverwirklichung in der Arbeit. Der Verteilungsspielraum war groß, die Beziehungen zu Kollegen entspannt; betriebliche Hierarchie existierte nicht. Inzwischen ist das anders, entweder weil es der Firma schlecht geht oder weil sie zu groß für informelle Interessen- und Konfliktregelung geworden ist. ISF-Forscher Boes: "Die neue Ökonomie der Unsicherheit bringt das alte Weltbild der Beschäftigten - ich kann mich selbst vertreten - ins Wanken. Das betrifft nicht mehr nur Randbereiche der IT-Wirtschaft, sondern ihre Bannerträger: die Entwickler, die Berater, die unteren Führungskräfte."

Ein anschauliches Beispiel bietet das Softwarehaus, in dem Herbert Feihinger Aufsichtsrat ist und das kurz vor der Fusion mit einem US-amerikanischen Konzern steht: Die meisten der Entwickler und Berater sind Akademiker, die gewohnt sind, eigenständig zu arbeiten und die Bedingungen selbst auszuhandeln. Es gilt als Zeichen der offenen Unternehmenskultur, dass Feihinger in das Aufsichtsgremium berufen wurde, obwohl keine Verpflichtung dazu bestand. Wann immer die Kollegen die Wahl eines Betriebsrats erwogen, zeigte sich schnell, dass sich keiner der Hochqualifizierten, die Spaß am Beruf haben, auf das unbekannte Feld "Interessenvertretung" vorwagen wollte.

Doch nach Phasen des Personalabbaus und der Suche nach einem finanzstarken Partner für das Unternehmen hat sich die Stimmung gedreht, berichtet Feihinger: "Bei einer Übernahme spielen nur noch nackte Zahlen eine Rolle. Gute Beziehungen des Einzelnen zum Chef helfen nichts, wenn Standorte zusammengelegt oder geschlossen werden. Sozialpläne aushandeln kann aber nur ein Betriebsrat." Diejenigen, die sich nun zur Wahl stellten, versuchen den Spagat, professionelle Betriebsratsarbeit und bisherige IT-Aufgabe zu verbinden. Sie werden vermutlich die Hilfe einer Gewerkschaft in Anspruch nehmen, glaubt Feihinger: "Wenn man Gewerkschaften nicht braucht, kann man gut auf sie verzichten. Aber diese Zeiten sind vorbei."

Schöne neue Mitbestimmungswelt? Rückkehr der Stellvertreterpolitik alter Schule? Oder lebt in wirtschaftlich harten Zeiten doch die Ellbogenmentalität auf? Obsiegt die Entsolidarisierung, der "Darwiportunismus", wie es Christian Scholz, Professor für Betriebswirtschaft im Saarland, prognostiziert (siehe www.computerwoche.de/go/80111431)?

Arbeitsforscher Boes unterscheidet mehrere, parallel verlaufende Entwicklungspfade. Erstens: In IT-Betrieben mit klassischen Mitbestimmungsstrukturen wird deren Bedeutung wachsen. Zweitens: Startup-Firmen mit "kommunitaristischer Kultur" - also mit dem Anspruch: gemeinsam wirtschaften und gerecht verteilen - haben mehrere Alternativen. Sie bleiben entweder klein und überleben dank solidarischer Selbstausbeutung, oder sie gehen im Zuge der Marktkonsolidierung unter. Oder sie haben Erfolg und wachsen zum dritten Firmentyp heran, den Boes ausgemacht hat, zum "Lack-Turnschuh-Unternehmen".

Diese erfolgreichen, in der New-Economy-Phase schnell gewachsenen Firmen mussten klare Strukturen einziehen und Führungsaufgaben professionalisieren. Damit hat das Aushandeln der Arbeitsbedingungen von gleich zu gleich ein Ende. "Die Lack-Turnschuh-Unternehmen werden richtungsweisend sein bei der Frage, wie Interessenkonflikte - vornehmlich, was die Balance zwischen Arbeit und Leben angeht - geregelt werden können", urteilt der Forscher.

Neues Selbstverständnis

Die ISF-Studie (www.arb-it2.de) hat eine heiße Internet-Debatte ausgelöst. Viele Chatter bezweifeln den diagnostizierten Stimmungsumschwung zugunsten begrenzter Arbeitszeit. Da heißt es: "IT-Berufe sind halt nicht irgendwelche Jobs, die man acht Stunden macht und dann heimgeht." Oder: "Bei der Beschäftigung mit Computern verschwimmen eben leicht die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit." Oder: "Projekte dauern immer doppelt so lang als geplant." Oder: "Da warten hundert Leute, die gern den Job hätten." Offenbar gehört eine hohe Leidensfähigkeit ebenso zum Image des IT-Profis wie der Unwille zum Planen.

Die Chat-Äußerungen sind für Boes Zeichen dafür, wie viele IT-Profis hin- und hergerissen sind zwischen Lust und Frust an der Arbeit. Ausgang ungewiss. "Dort, wo die Firma die Angst vor dem Jobverlust schürt, kann dies die Entsolidarisierung der Belegschaft und - falls der versprochene Aufschwung nicht kommt - Fatalismus zur Folge haben." Eine gefährliche Falle, so die jüngste Gallup-Studie, "der Innovationskiller Nummer eins in Deutschland". (am)

*Helga Ballauf arbeitet als freie Autorin in München.

**Name von der Redaktion geändert.