Internet-Strategien/Neugestaltung der Beziehungen

Größte kanadische Handelskette eröffnet Internet-Marktplatz für Lieferanten

26.05.2000
Wer im E-Business-Geschäft mitmischen will, benötigt intelligente Strategien. Um ein erfolgreiches E-Commerce-Geschäftsmodell zu realisieren, müssen auch die hausinternen zentralen Anwendungen wie Customer-Relationship-Management (CRM) und Supply-Chain-Management (SCM) in dieses E-Business-Konzept eingebunden werden. Der kürzlich erfolgte Schritt von Kanadas größter Handelskette Canadian Tire ins Internet ist deshalb nicht der Beginn, sondern der vorläufige Höhepunkt der Anfang der 90er Jahre eingeläuteten völligen Neuordnung der Beziehungen zu den fast 1700 Lieferanten des Unternehmens.Von Marcus Ehrenwirth*

Canadian Tire leitete Anfang der 90er Jahre eine umfassende Restrukturierung ein. 300 der insgesamt 430 Supermärkte des kanadischen Unternehmens erhielten ein neues Gesicht: Höhere Decken, eine bessere Beleuchtung, breitere Gänge zwischen den Warenregalen und eine klare Gliederung der Produktgruppen sollten dem Kunden ein völlig neues Einkaufserlebnis bescheren.

Der wichtigste Wettbewerbsfaktor für ein Handelsunternehmen ist die Lieferbereitschaft. "Es ist gleichgültig, wie höflich wir sind oder wie gut wir den Kunden im Laden bedienen. Wenn wir die nachgefragte Ware nicht vorrätig haben, nützt das alles nichts", betont Patrick Sinnott, Vice President Supply Chain bei Canadian Tire. "Wir wussten, dass hier unbedingt etwas geschehen musste."

Denn das Niveau der Lieferbereitschaft des Unternehmens entsprach damals dem Stand der 70er Jahre und machte sich unmittelbar auf der Kostenseite bemerkbar. Verspätungen bei den Lieferungen wurden antizipiert, Waren in den einzelnen Märkten sozusagen auf Vorrat gehortet, was auf der anderen Seite zu einer zu niedrigen Warenumschlagsgeschwindigkeit in den insgesamt vier Verteilerzentren führte. Beides bedeutete erhöhte Lagerhaltungskosten, und Canadian Tire lief Gefahr, seine Wettbewerbsposition dadurch entscheidend zu schwächen.

"Als wir uns mit der Optimierung unserer Supply Chain befassten, stellten wir fest, dass es weniger an der Menge oder an der Qualität der Informationen lag, die wir unseren Lieferanten zur Verfügung stellten. Vielmehr waren wir nicht in der Lage, die richtige Information zur richtigen Zeit an den richtigen Adressaten zu bringen. Es mangelte also an der Optimierung des Informationsflusses", analysiert Sinnott. Deshalb beschloss Canadian Tire, noch vor dem geplanten ERP-System eine Supply-Chain-Management-Lösung einzuführen. Dass man auf IT-Unterstützung angewiesen sein würde, war schon nach dem Pilotprojekt klar, das Canadian Tire 1994 mit 100 seiner wichtigsten Lieferanten durchgeführt hatte.

Das Ziel: Die Analyse der Supply Chain, um herauszufinden, welche Informationen wann wo gebraucht werden. Im Ergebnis konnte die Lieferbereitschaft zwar auch ohne den Einsatz einer SCM-Lösung erhöht werden, jedoch waren die Fortschritte nicht signifikant genug.

Konkret hieß das, dass das gesamte Bestellwesen von Canadian Tire reorganisiert werden musste. Bisher wurde nämlich eine Nachbestellung erst dann ausgelöst, wenn der Bestand einer bestimmten Ware ein zuvor definiertes Niveau unterschritt. Der Lieferant wusste folglich nie im Voraus, wann eine solche Nachbestellung erfolgen würde, so dass sich die Lieferung natürlich verzögern musste. Es mangelte also an einer effektiven Bedarfsvorhersage.

26 Wochen im Voraus planenWichtigste Ergebnisse dieser Überlegungen waren die Einführung eines 26-Wochen-Plans sowie die Neuordnung der Strukturen für Einkauf und Planung. Deshalb wurden sowohl den Einkäufern als auch den Logistikplanern Supply-Chain-Spezialisten zur Seite gestellt, deren Aufgabe seither in der möglichst genauen Vorhersage des Warenstroms besteht.

Die erste Bedarfsvorhersage wurde 1996 auf der Grundlage der Bestellvorgänge der vorangegangenen drei Jahre erstellt. Seitdem wird die Analyse ständig um aktuelle Daten ergänzt. Diese Kombination aus historischen und aktuellen Daten hat ein typisches Muster der Angleichung der langfristigen Vorhersage an den tatsächlichen kurzfristigen Bedarf entstehen lassen. Drei Phasen lassen sich dabei unterscheiden. In den ersten zehn, elf Wochen des Bedarfsplans sind deutliche Abweichungen festzustellen, die bis zum Ende der 20. und 21. Woche immer weiter abflachen, um danach trotz saisonaler Effekte kaum noch ins Gewicht zu fallen. Allerdings sind auch hier unvorhersagbare kurzfristige Nachfrageausschläge nie ganz auszuschließen.

Im Gegenzug zu dieser hohen Planungsgenauigkeit haben sich die Lieferanten verpflichtet, Lieferzeiten von maximal 21 Tagen zu akzeptieren und Canadian Tire die Frachtbriefe bereits fünf Tage vor Lieferung zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig wurde der Warentransport neu strukturiert. Dies betraf vor allem den Weg von den Lieferanten hin zu Canadian Tire. Durch den Einsatz der SCM-Software und dank der im Voraus eintreffenden Frachtbriefe, die planungsrelevante Details wie die Anzahl der Paletten, Gewicht und Volumen enthalten, werden die Transportmittel besser ausgelastet. Das heißt, dass ein Lkw, der seine Ladung an einen Markt ausgeliefert hat, nicht mehr leer zu den Verteilerzentren zurückfährt, sondern vorher Waren bei den Lieferanten aufnimmt. Prinzipiell sorgt Canadian Tire heute für die Warenabholung. Transporte, die vom Lieferanten selbst organisiert werden, kommen nur noch in Ausnahmefällen vor.

Unterstützt und ermöglicht werden die neu geordneten Geschäftsprozesse durch die eingesetzte SCM-Lösung von Manugistics. Diese Lösung bestand damals aus den Modulen "Networks Demand" für die Bedarfsvorhersage, "Networks Fulfillment" für die Versorgungsplanung und das Bestands-Management sowie "Networks Transport" für die Transportplanung. Ausschlaggebend für diese Entscheidung waren für Canadian Tire dabei die Erfahrung des SCM-Herstellers in den Bereichen Handel und Konsumgüterindustrie sowie die Funktionalitäten der einzelnen Module. Die Installation, die Anfang 1996 begonnen wurde, konnte bereits nach gut sechs Monaten abgeschlossen werden.

Für den Einsatz der Software im gesamten Unternehmen hat sich Canadian Tire allerdings bewusst Zeit gelassen. Denn die 45 Einkaufsteams und deren jeweilige Lieferanten wurden nach und nach auf dem neuen System geschult, um das reibungslose Funktionieren der neu geschaffenen Abläufe zu garantieren.

Unmittelbares Ergebnis dieser ersten Phase, die im ersten Quartal 1998 abgeschlossen wurde: die Erhöhung der Lieferbereitschaft um 1,9 Prozent. "Diese Zahl mag zwar klein erscheinen. Eine fast zweiprozentige Steigerung in diesem Bereich ist aber enorm", unterstreicht Sinnott. Denn dahinter verbirgt sich weit mehr: So hat sich die durchschnittliche Dauer zwischen Auftragseingang beim Lieferanten und der tatsächlichen Auslieferung von 46 auf 15 Tage reduziert. Gleichzeitig stieg das bewegte Warenvolumen in diesem Zeitraum um 25 Prozent. Darüber hinaus konnte der Warenumschlag in den Verteilerzentren um gut 70 Prozent gesteigert werden.

Der Informationsaustausch zwischen Canadian Tire und den Zulieferern erfolgt dabei über EDI. Die am Tage verschickten Aufträge werden über Nacht in die SCM-Lösung eingespeist. Um fünf Uhr morgens liegen dann die aktuellen Bedarfszahlen vor. Einmal pro Woche wird auf dieser Grundlage der neueste 26-Wochen-Plan erstellt und ebenfalls per EDI an die Lieferanten geschickt.

Trotz der Zunahme der Warenbewegung mussten die Kapazitäten der Canadian-Tire-Verteilerzentren nicht erweitert werden. Denn im Anschluss an diese erste Phase wurde 1998 auch der Warentransport in die Optimierung der Supply Chain mit einbezogen. Die Folgen dieser Maßnahme waren sofort spürbar: Die durchschnittliche Lagerhaltung sank bis zur ersten Jahreshälfte 1999 um sieben Prozent.

"Das neue System hat sich sehr positiv auf unser Geschäft ausgewirkt", fasst Bruce Johnson, Vice President bei Canadian Tire, die bisherigen positiven Erfahrungen zusammen. Deshalb wurden 1999 bereits die nächsten Schritte eingeleitet, um die Herausforderung unvorhersehbarer und gleichzeitig sehr großer Nachfrageschwankungen besser meistern zu können. Dies setzt jedoch die bei EDI nicht mögliche Zusammenarbeit und Kommunikation in Echtzeit voraus. Die richtige Infrastruktur ist in diesem Fall das Internet.

Seit Februar 2000 testet Canadian Tire zusammen mit seinen zehn wichtigsten Lieferanten den auf die kanadische Handelskette zugeschnittenen Internet-basierenden Marktplatz b-networks.com von Manugistics, der zusätzlich zu den bestehenden Funktionalitäten das Modul "Networks Collaborate" für die Optimierung der gemeinsamen Planung enthält. Anders als bei der bisherigen Architektur sind die Lieferanten damit nicht mehr bloße "Plannehmer", die ihre interne Planung an die Vorgaben durch Canadian Tire deshalb anpassen können, weil diese lange genug vorher eintreffen. Sie sind vielmehr aktive Mitgestalter der Pläne, indem ihre internen Pläne in Echtzeit im System berücksichtigt werden.

Auch diesen qualitativen Sprung vollzieht Canadian Tire mit Bedacht. "Ich glaube nicht, dass wir dieses Echtzeitsystem für jeden einzelnen Artikel benötigen", charakterisiert Sinnott das Ziel dieser Pilotphase. Denn es soll herausgefunden werden, welche der übrigen Lieferanten in Zukunft daran beteiligt werden und für welche Waren beziehungsweise Warengruppen die Lösung sinnvoll ist. Schon jetzt steht allerdings fest, dass auf der Basis des Internet-Marktplatzes das Ziel, schnell, flexibel und im Sinne der Endkunden auf plötzliche und unvorhersehbare Nachfrageausschläge reagieren zu können, in den getesteten Bereichen erreicht wird.

Gern hat man dabei auf das Hosting-Angebot von Manugistics zurückgegriffen, da dadurch die Aufwendungen für Implementierung und Pflege gering gehalten und die bisher getätigten Investitionen geschützt werden können. Denn die Lösungen von Manugistics sind offen, das heißt, für die Integration mit allen gängigen ERP- und Planungssystemen vorbereitet. "Webworks" heißt diese offene Architektur. Gerade letzter Punkt war für Canadian Tire sehr wichtig, denn dadurch war die Akzeptanz der Lösungen auf Seiten der Lieferanten von Anfang an sehr groß. Der Sprung ins E-Business fiel damit umso leichter.

*Markus Ehrenwirth ist freier Journalist in München.

Canadian Tireist weit mehr als eine Marke. Kanadas größte Handelskette ist Bestandteil des täglichen Lebens einer jeden kanadischen Familie: 40 Prozent aller Kanadierinnen und Kanadier besuchen mindestens einmal pro Woche einen Canadian-Tire-Markt, 90 Prozent mindestens zweimal pro Jahr. Und jeder Verbraucher kennt das Canadian Tire Money, die interne Währung des Handelsriesen, die in den 50er Jahren als Teil eines der ersten Loyalty-Programme überhaupt eingeführt wurde. Drei Produktkategorien findet man in jedem der mehr als 430 Märkte des Unternehmens unter einem Dach: Autozubehör, Sport- und Freizeitartikel sowie Haushaltswaren - insgesamt 113000 Artikel, die immer griffbereit in den Regalen liegen müssen. Gut 34000 Angestellte arbeiten derzeit für das Unternehmen, das im Jahr 1999 einen Umsatz von rund vier Milliarden Dollar erzielte.

Abb: Kanadas grösste Handelskette Canadian Tire kommuniziert mit den Lieferanten über Browser. Quelle: Canadian Tire