"Softwerker" in St. Petersburg - verlängerte Werkbank des Westens? (Teil 1)

Geschäfte noch unter dem Gebot der Verschwiegenheit

13.10.2000
ST. PETERSBURG - Der Mangel an IT-Experten in Deutschland rückt immer mehr Alternativen zur vielzitierten "Green Card" in den Blickpunkt. Vor allem in Mittel- und Osteuropa bieten sich für deutsche IT-Firmen bisher nur zaghaft genutzte Kooperationsmöglichkeiten zur Softwareentwicklung an. Anknüpfend an die einst von Zar Peter I. begründete Rolle als Vermittler zwischen Russland und den westeuropäischen Staaten will die alte Zarenmetropole St. Petersburg hier eine Vorreiterrolle übernehmen. Alexander Egorov und Mathias Weber* haben vor Ort recherchiert.

Im vergangenen Jahr gaben bereits mehr als ein Viertel der vom Bundesverband Informations- und Kommunikationssysteme (BVB) und Unternehmensverband Informationssysteme (UVI) befragten deutschen IT-Unternehmen an, eine Vergabe beziehungsweise Verlagerung von Software-Auftragsentwicklung in die mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittskandidaten zu planen oder zumindest zu erwägen. Auch die übrigen Länder der Region, etwa die baltischen Republiken, Russland, die Ukraine, Weißrussland oder Bulgarien, haben gute Chancen, einen erheblichen Anteil an diesem Auftragsvolumen zu ergattern. Vor allem Russland wird aufgrund seines aus diversen Gründen brachliegenden "Potenzials" an IT-Professionals zugetraut, ein bedeutende Rolle in diesem Markt zu spielen. Zu groß sind die entsprechenden Kapazitätsengpässe im Westen und die Kostenvorteile, die sich aus einer Zusammenarbeit mit russischen Firmen ergeben können.

Potenzial der IT-Szene schwer einzuschätzenZurzeit läuft das Geschäft allerdings noch auf Sparflamme. Hier spielt auch eine Rolle, dass die Einschätzungen westlicher Beobachter über das in Russland verfügbare IT-Potenzial sehr voneinander abweichen. Das McKinsey Global Institute ging erst kürzlich in einer Studie über die russische Wirtschaft von lediglich 8000 Beschäftigten in der russischen Softwareindustrie aus. Diese Zahl dürfte jedoch zu niedrig angesetzt sein, müssen doch allein rund ein Drittel der in St. Petersburg aktiven und registrierten 500 bis 600 IT-Unternehmen zur Softwarebranche gerechnet werden. Etwa 20 bis 30 dieser Firmen sind in der ehemaligen Zarenmetropole schwerpunktmäßig mit der Auftragsprogrammierung für westliche Kunden befasst (eine Auswahl davon zeigt die Tabelle).

Ausländischen Interessenten fällt es oft schwer, sich angesichts der Vielfalt der Marktteilnehmer einen Überblick zu verschaffen. Ein Umstand, für den mehrere Faktoren verantwortlich sind. Zum einen sind die wirtschaftlichen Infrastrukturen noch unterentwickelt - ein hinlänglich bekanntes Problem, dass für St. Petersburg, aber natürlich auch die übrigen Regionen der ehemaligen Sowjetunion gilt. So hat sich beispielsweise bisher auf nationaler Ebene kein marktprägender Verband der russischen IT-Industrie herausbilden können. Zudem kommen nach Ansicht vieler Experten die Wechselbeziehungen zwischen ausländischen Auftraggebern und ihren russischen Partnern nicht klar zum Vorschein. Informationen aus der einschlägigen "Szene" werden nur an Vertrauenspartner weitergegeben, zu denen man einen Zugang aufbauen muss. Umgekehrt versagen auch westliche Auftraggeber, die zum Teil Lösungen komplett in St. Petersburg entwickeln lassen, ihren Partnern entsprechende Referenzen; man erfährt von solchen (erfolgreichen) Beispielen meist nur unter dem Gebot der Verschwiegenheit. Russland kämpft eben auch hier mit seinem schlechten Image. Es ist noch nicht opportun, darüber zu reden.

Einige Grundregeln sollten beachtet werdenZahlreiche Gespräche mit Fachleuten vor Ort veranlassen uns jedoch, westlichen Firmen diesen Schritt zu empfehlen. Allerdings sollte man dabei einige Grundregeln beherzigen. So dürften vermutlich die für Kooperationen interessantesten Firmen die Anfang der 90er Jahre gegründeten russischen Privatunternehmen sein. Niederlassungen ausländischer IT-Companies oder aus dem Ausland erfolgte Gründungen sowie Joint Ventures sind bereits in ihrer Marktausrichtung zu sehr festgelegt - und viele der im Staatsbesitz verbliebenen Unternehmen lassen ebenfalls, wenn auch aus anderen Gründen, kaum die Flexibilität in der Entscheidungsfindung erkennen, wie sie von westlichen Unternehmern erwartet wird. Überdies sollte man sorgfältig das Profil und damit die strategische Ausrichtung potenzieller Partner anhand deren eigener Zielsetzung prüfen. Schließlich findet man in einer Metropole wie St. Petersburg das gesamte Spektrum - vom technologieorientierten Generalisten bis zum Branchenspezialisten, vom Produkt- bis zum Serviceanbieter - vor. Vorsicht ist in diesem Zusammenhang vor allem deshalb angebracht, weil aufgrund des unsicheren wirtschaftlichen Umfeldes manche Unternehmen noch kein festes Profil ausgeprägt haben. Anders formuliert: Es flattert in Abhängigkeit von neuen Möglichkeiten im Auslandsgeschäft stets wie das berühmte Fähnchen im Wind.

Darüber hinaus ist es hilfreich, sich genau mit der Entstehungsgeschichte seiner Partner vertraut zu machen. "Gründungen durch Neuaufbau" sind in der Regel "von außen" erfolgten Gründungen oder Abspaltungen aus bestehenden Organisationen vorzuziehen. Dies vor allem, weil Firmen, deren Muttergesellschaften im westlichen Ausland angesiedelt sind, ohnehin an entsprechenden Entwicklungsaufträgen arbeiten und es sich leisten können, ihren Mitarbeitern ein im Durchschnitt dreifach höheres Gehalt zu bezahlen. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Man bekommt zwar "Software made in Russland" in gewohnter westlicher Qualität - aber auch zu einem Preis auf Westniveau.

Doch zurück zu eigentlichen Thema: St. Petersburg. Standorte der Offshore-Programmierung gelten international dann als besonders attraktiv, wenn qualifizierte Entwickler in ausreichender Zahl zu möglichst günstigen Bedingungen zur Verfügung stehen und gleichzeitig gewährleistet ist, dass Forschung und Ausbildung ein Niveau aufweisen, das die Qualität des Entwicklungspotenzials über größere Zeiträume sichert.

Grenzen zwischen Forschung und Wirtschaft fließendDie von uns analysierten St. Petersburger IT-Unternehmen, die überwiegend der ersten Gründungswelle Anfang der 90er Jahre entstammen, sind über die Jahre ihrer Geschäftstätigkeit auf durchschnittlich 100 Mitarbeiter gewachsen und müssen, auch wenn sie für das Jahr 2000 erhebliche Zuwachsraten bei Umsatz und Personal planen, keinen Engpass an Informatikern befürchten. Eine Reihe landesweit bekannter technischer Universitäten stellen dem IT-Arbeitsmarkt einschlägige Absolventen in großer Zahl bereit.

Zudem verfügt fast jedes dieser Unternehmen mittlerweile über eine Art "Haushochschule" als Reservoir für den qualifizierten Nachwuchs. Will heißen: Vielfach sind die Grenzen zwischen Forschung und Lehre sowie (Markt)wirtschaft fließend. Softwarehäuser mit alles andere als russisch klingenden Namen wie Contex, Santa Barbara, Digital Design oder Arcadia pflegen intensive Kontakte zu einschlägigen Lehrstühlen. Studenten schnuppern als Praktikanten bereits erste Luft als Programmierer; umgekehrt nutzen viele Professoren ihre "Zweitfunktion" als Entwicklungschefs oder gar CEOs besagter Companies zum "Wohle" beider Seiten, etwa durch die Vergabe industrieller Forschungsaufträge an ihr eigenes Institut. Fast alle russischen Softwarehäuser pflegen zudem ihre Kontakte zu ehemaligen Praktikanten und/oder freien Mitarbeitern - können somit im Bedarfsfall, also bei größeren Projekten, auf bis zu 400 bis 500 Programmierer zurückgreifen.

(wird fortgesetzt)

*Alexander Egorov ist Gründer und CEO des in St. Petersburg ansässigen Internet-Softwarehauses Reksoft.Mathias Weber ist Geschäftsführer des im IuK-Dachverband Bitkom integrierten UVI, Berlin.