Münchner Somm-Urteil zeigt globale Wirkung

Experten: Internet-Standort Deutschland ist lädiert

05.06.1998

Zwei Jahre Haft auf Bewährung, so lautet das überraschende Urteil des Münchner Amtsgerichts gegen den ehemaligen Compuserve-Manager Felix Somm, der sich nach Auffassung des Richters der illegalen Verbreitung von Kinder- und Tierpornografie sowie rechtsradikalem Gedankengut schuldig gemacht hatte. Außerdem soll der Verurteilte 100000 Mark an eine gemeinnützige Einrichtung zahlen. Erst in sechs bis acht Wochen ist mit einer schriftlichen Urteilsbegründung zu rechnen. Dann wird sich zeigen, so erwarten Experten, ob die Entscheidung im Widerspruch zum Informations- und Kommunikationsdienstegesetz (IuKDG) steht.

Die Internet-Branche forderte die Einstellung des Verfahrens. Nach Auffassung vieler Experten ist es nicht möglich, das weltumspannende Netz auf illegale Inhalte zu überprüfen. Außerdem besagt das 1997 in Kraft getretene IuKDG, ein Diensteanbieter könne für die Inhalte im Internet nicht verantwortlich gemacht werden (siehe auch CW 21/98, Seite 3). Da sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung den Freispruch Somms forderten, schlug das Urteil wie eine Bombe ein .

"Dieses Urteil ist ein Schlag gegen die gesamte Multimedia-Industrie in Deutschland", kommentierte Paulus Neef, der Vorsitzende des Deutschen Multimedia Verbandes (Dmmv), das Urteil gegen den ehemaligen Geschäftsführer von Compuserve Deutschland. Neef und viele mit ihm befürchten nun einen schwerwiegenden Image-Schaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Wohl zum erstenmal ist Deutschland in den USA in Sachen Internet ein Gesprächsthema. Beispielsweise zitiert das "Wall Street Journal" einen US-Anwalt, der hierzulande amerikanische High-Tech-Firmen vertritt, mit den Worten: "Dies versetzt Deutschland im Internet-Geschäft einen heftigen Schlag". Jeder, der eine Homepage betreibt oder einen Internet-Zugang anbietet, ist nach Auffassung des Anwalts von diesem Urteil betroffen. Experten äußerten mehrfach die Befürchtung, Online-Firmen könnten nun Deutschland verlassen und sich anderswo ansiedeln. Unverständnis über den Richterspruch aus München äußerte auch die EU-Kommission.

Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl sparte auch die deutsche Politik nicht mit markigen Worten. Manual Kiper, forschungs- und postpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen sprach in einer Mitteilung von einem "schwarzen Tag fürs Internet in Deutschland". Dem pflichtet sogar Bayerns Wirtschaftsminister Otto Wiesheu (CSU) bei. Der Unionspolitiker sprach von einem großen Schaden für den Technologiestandort Deutschland.

Jörg Tauss, Bundestagsabgeordneter der SPD, geht noch einen Schritt weiter. Für ihn ist das Internet hierzulande bereits ruiniert. Auch ein Revisionsprozeß könne an der "negative Signalwirkung" nicht mehr ändern. Lob für das Urteil kam dagegen vom Parteikollegen Ludwig Stiegler, stellvertretender Vorsitzender des Bundestagsrechtsausschusses. Er bescheinigte dem Richter Wilhelm Hubbert, "Politik und Gesellschaft zu zwingen, sich mit den Schattenseiten der neuen Medien auseinander zu setzen."

Auseinandersetzen mit dem Fall Somm müssen sich nun auch die deutschen Internet-Service-Provider. Sollte es auch nach der bevorstehenden Revision bei diesem Urteil bleiben, fürchtet Helmut Blank, Geschäftsführer des Providers PSInet, dann seien auch andere Diensteanbieter nicht mehr vor ähnlichen strafrechtliche Verfolgungen sicher. "Niemand kann tausende von News-Nachrichten lesen und sie auf rechtswidrige Inhalte hin überprüfen", meint Blank.

Über ökonomische Einflüsse des Urteils läßt sich bisher nur spekulieren. So teilte Stefan Deutsch Unternehmenssprecher des Internet-Service-Providers Uunet Deutschland, mit, daß sich "die wirtschaftlichen Auswirkungen noch nicht abschätzen lassen". Deutsch glaubt aber, daß dieser Prozeß möglicherweise ausländische Investoren abschreckt. Selbst der Staatsanwalt Franz von Hunoltstein sprach von "ganz klaren wirtschaftlichen Auswirkungen" der Verurteilung Somms. Weniger heikel beurteilt Marcus Riecke, Geschäftsführer des Suchdiensteanbieters Lycos Bertelsmann, die Situation. Nach seiner Ansicht gibt es keinen Anlaß, die ökonomischen Folgen des Richterspruchs zu dramatisieren. Allerdings habe sich Deutschland international als "Fortschrittsmuffel" geoutet.

Riecke bezeichnet die Inhalte des Internet als ein Spiegelbild der Gesellschaft. Durch seine offene Struktur lasse sich das Netz nun mal nicht "sauber" halten. Doch diese Auffassung teilte Amtsrichter Wilhelm Hubbert in seiner Urteilsbegründung nicht. Für ihn gilt selbst das Internet nicht als rechtsfreier Raum. Es gebe, so der Richter, "falsche Vorstellungen vom Internet in den Köpfen aller Beteiligten". Die Behauptung Somms, von den pornografischen Inhalten des Internet nichts gewußt zu haben, sei eine "Zumutung". Der Verurteilte wurde vom Richter mit den DDR-Mauerschützen auf eine Stufe gestellt, da der ehemalige Chef der deutschen Compuserve-Niederlassung sich auf eine Weisungsgebundenheit gegenüber der Muttergesellschaft in den USA berufen hatte.

Nach Überzeugung von Michael Schneider, Vorstandsvorsitzender des Eco, dem Verband der deutschen Internet-Wirtschaft, wäre der Ex-Chef des Online-Dienstes Compuserve allein schon wegen der technischen Gegebenheiten vor zwei Jahren nicht imstande gewesen, den Unrat aus dem Netz zu entfernen. Der Richter habe rückblickend völlig unverhältnismäßige Anforderungen an den ehemaligen Online-Dienst-Manager gestellt.

Richter ignoriert Teledienstegesetz

Dabei stand Richter Hubbert mit dem IuKDG ein rechtliches Mittel von heute zur Verfügung. Dieses Gesetz macht Anbieter von Telediensten, die lediglich einen Internet-Zugang bereitstellen, nicht für fremde Inhalte verantwortlich. Offenbar nutzten da auch die umfangreichen Erläuterungen von Experten nichts. So konnte selbst ein ausgewiesener Rechtsexperte bei der Verfolgung von Kinderpornografie im Internet, Professor Ulrich Sieber von der Universität Würzburg, in seiner Stellungnahme vor Gericht lediglich die Staatsanwaltschaft von der Unschuld des Angeklagten überzeugen.

Uni-Professor Sieber bezog bereits nachdem die Staatsanwaltschaft ihre Anklage verlesen hatte, Stellung zu dem Fall. Nach seiner Überzeugung beruhe die Anklage auf einem Mißverständnis der Funktionsweise des Internet, auf einem Fehlverständnis der Aufgaben des Angeklagen und auf einer falschen Anwendung des Teledienstegesetzes. In seiner Stellungnahme bezeichnete Rechtsexperte Sieber den Ex-Compuserve-Chef als "Sündenbock" für fehlende nationalstaatliche Lösungen im weltweiten Datennetz.

Ähnliche Worte fand Sieber dann im Schlußplädoyer der Verteidigung, nachdem der Staatsanwalt bereits für den Angeklagten gesprochen hatte. Dabei betonte der Rechtsexperte, der gleichlautenden Antrag der Staatsanwaltschaft sei "im Interesse der bayerischen Justiz und des Technologiestandorts Deutschlands zu begrüßen". Trotz alledem machte Richter Hubbert überraschend von seinem Recht Gebrauch, den Prozeß nach seinen Überzeugungen zu beenden.

Zwar handelt es sich bei diesem Urteil um die Entscheidung eines Amtsgerichts, doch angesichts der heftigen internationalen Reaktionen wird die deutsche Internet-Wirtschaft wohl einen bleibenden Schaden davontragen, unabhängig davon, ob das Urteil in der Revision bestätigt wird oder nicht. Der Verurteilte selbst ist davon überzeugt, doch noch freigesprochen zu werden.

Sollte es jedoch bei dem Urteil bleiben, so müßte eigentlich auch die Deutsche Telekom eine Strafverfolgung befürchten, da über die Telefonleitungen Sex-Gespräche geführt werden können. Strenggenommen dürfte dann auch die Deutsche Post AG auf der Anklagebank Platz nehmen, da illegales Material auch auf die altmodische Weise transportiert werden kann.