Entwicklung fuer benutzerfreundliche Virtual-Reality-Computer VR: Interaktive Anwendungen scheitern haeufig in der Praxis Von Nina Degele*

18.03.1994

Die Virtual-Reality-Forschung hat sich zum Ziel gesetzt, interaktive Computersysteme benutzerfreundlich zu gestalten. In der Praxis hat sich allerdings erwiesen, dass viele Systeme diesem Anspruch nicht gerecht werden.

Der betriebliche Einsatz von Expertensystemen zeigt, dass haeufig an den Beduerfnissen der Anwender Vorbeikonzipiert wurde. Zum Vermeiden solcher Fehler traegt zum einen die Unterscheidung von system- und nutzerspezifischen Beitraegen zur Gesamt-Performance bei, zum anderen ist eine genaue Zielgruppenbestimmung der kuenftigen Anwender erforderlich. Eine gelungene VR-Gestaltung basiert somit auf einer systemischen Entwicklungsmethodologie, die nicht nur die Eigenschaften, sondern vor allem die Wechselwirkungen der Komponenten "Mensch, Computer und Organisation" beruecksichtigt.

Die Regeln des technischen Umgangs

Auch nutzerfreundlich konzipierte IuK-Technologien sind keine einfach zu bedienenden Gebrauchsmittel. Wer ein solches Geraet einsetzt, muss die Regeln des technischen Umgangs damit erlernen. Dazu sind Wissen und Kompetenzen erforderlich, und die differieren bei Entwickler und Anwender, Computerspezialist und Einsteiger erheblich. Das jedoch bislang nur unzureichend beruecksichtigt.

Die VR-Forschung vertritt nun den Anspruch, solche Technologien vor allem fuer Nichtexperten nutzerfreundlich zu gestalten. Das Ziel ist dabei, die perfekte Illusion des kybernetischen Raums zu vermitteln, um dem Anwender eine moeglichst authentische Interaktion mit der simulierten Welt zu ermoeglichen. Dazu sollen die Barrieren der Mensch-Maschine-Interaktion ueberwunden werden. Zur Disposition stehen Bildschirm und Tastatur, die die Kommunikation auf Sprache und Zeichen reduzieren.

An dieser Stelle interessiert nicht, ob und wie dies technisch moeglich ist. Vielmehr wird aus sozialwissenschaftlicher Perspektive danach gefragt, ob das in der VR-Forschung postulierte Ziel einer "postsymbolischen Kommunikation" (Lanier) in dieser undifferenzierten Form mit Nutzerfreundlichkeit gleichzusetzen ist.

Dazu sei zunaechst auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die aufgrund des fruehen Verbreitungsgrads von VR-Anwendungen mit der Bestimmung nutzerfreundlicher Kriterien verbunden sind. Sodann wird der Vergleich von VR-Systemen mit strukturaehnlichen Technologien, naemlich Expertensystemen, begruendet, um auf den Zusammenhang von Anwenderfreundlichkeit und Performance in einem Expertensystem zu sprechen zu kommen. Schliesslich soll die Bedeutung der angestellten Ueberlegungen fuer eine praktisch relevante Entwicklungsmethodologie von VR-Anwendungen dargelegt werden.

Ersten Schaetzungen zufolge sind rund die Haelfte aller VR- Installationen im Forschungs- und Entwicklungsbereich beheimatet:

-Virtual-Reality-Unterrichtsmethoden stossen bei Kindern und Jugendlichen in zwei englischen Sommerschulen auf reges Interesse. Rueckschluesse auf spaetere psychologische Folgen und eventuell schaedliche Wirkungen wollen wissenschaftliche Be- obachter allerdings nicht ziehen.

- Im Rahmen eines Industrieprojekts zur virtuellen Layoutgestaltung in der Moebelbranche erwies sich die reine Gestensteuerung gegenueber einer gemischten Form (Ikonen und Gesten) als unterlegen.

- Der Status der Virtualitaet in bezug auf die Requisiten ist umstritten: Sind fuer das Eintauchen in die VR, die sogenannte Immersion, tatsaechlich Datenhandschuh und Helm notwendig? Das Beispiel einer fuenfkanaligen Simulation zur Ausbildung von Lkw- Fahrern zeigt, dass sich der Eindruck der Immersion auf konventionellem Weg ebenso effizient erzielen laesst.

- Eine Ueberlegenheit gestischer Kommunikation ist bislang eher in Randbereichen beziehungsweise Ausnahmefaellen plausibel zu machen: Ein Krankenhauspatient, der nach einem Unfall sein Sprachvermoegen verloren hatte, konnte mit Hilfe eines Datenhandschuhs kommunizieren.

Diese verstreuten Eindruecke - von einem Forschungsstand laesst sich noch nicht sprechen - weisen auf ein grundsaetzliches methodisches Dilemma hin, mit dem Untersuchungen zu VR-Anwendungen konfrontiert sind: Ein fruehes Verbreitungsstadium neuer Technologien gestattet nur punktuelle Einblicke in die kritischen Problembereiche - auf eine kuenftige Verlaufskurve kann nicht geschlossen werden.

Umgekehrt ist die weitere Entwicklung und Verbreitung eher beeinflussbar, wenn beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen noch nicht manifest geworden sind. Was ist daraus zu schliessen?

Die Verbreitung von VR-Systemen befindet sich gegenwaertig in einer Art Embryonalstadium. Wie es um ihre Nutzerfreundlichkeit bestellt ist, kann aus diesem Grund nicht direkt erschlossen werden. Deshalb hier der Vergleich mit einer strukturaehnlichen Technologie, den Expertensystemen. Die Strukturaehnlichkeit leitet sich aus folgenden gemeinsamen Merkmalen ab:

- Ziel: Beide Forschungslinien vertreten den Anspruch nutzerfreundlicher Interaktionsgestaltung.

- Institutioneller Hintergrund: VR- und Expertensystemforschung entstanden nicht isoliert (in der Wissenschaft, Industrie oder dem Militaer), sondern im Schnittfeld dieser Bereiche.

- "Verlaengerung" von Standardsoftware: Kommerziell vermarktbare Produkte der zwei Disziplinen setzen bei einer "evolutionaeren" Verlaengerung von bereits standardisierter Software wie CAD (VR) und Datenbanken oder DSS (Expertensysteme) an.

- Medienwirkung: Beide Technologien loesten eine aehnliche oeffentliche Resonanz aus. Sie reicht von Befuerchtungen, technische Systeme koennten Menschen ersetzen, bis hin zur Ueberzeugung, menschliche Leistungen wuerden nun endlich sinnvoll unterstuetzt.

- Entwicklung: In beiden Traditionen hat sich mit Prototyping das gleiche Prinzip des Software-Engineerings durchgesetzt.

- Zielgruppe: In beiden Faellen ist eine eindeutige Grenzziehung zwischen Entwickler und Anwender nicht moeglich.

- Nutzerfreundlichkeit: Der einfache Zugang zum System soll durch anwenderfreundliche Schnittstellen erreicht werden: Waehrend bei Expertensystemen natuerlichsprachliche Nutzermodelle auf eine menschenaehnliche Dialogfuehrung zielen, sollen VR-Requisiten die nichtsprachliche, gestische Kommunikation adaequat nachbilden.

- Mehrfachfunktionalitaet: Experten- und VR-Systeme werden eingesetzt, um Probleme zu loesen. Daneben bieten sie eine Reihe weiterer Funktionen (zum Beispiel Dokumentation, Checkliste, Praesentation), die die eigentlichen fachlichen Aufgaben sogar ueberwiegen koennen.

Die Interaktion mit der Aufgabe ist wichtig

Bei einer nutzerfreundlichen Kommunikation mit dem Computer sollte die Interaktion mit der Aufgabe und nicht mit dem Geraet im Vordergrund stehen. Es geht also um das ausgewogene Verhaeltnis zwischen Mensch und Maschine, die gemeinsam ein Expertensystem darstellen. Was zeichnet ein solches Mensch-Maschine-System aus? Diese Frage laesst sich vor dem Hintergrund der erwaehnten Mehrfachfunktionalitaet konkretisieren.

Der Computer entfaltet im Idealfall seine Staerken dort, wo der Mensch an seine Grenzen stoesst: beim Bewerten von Rechenvorgaengen, dem Speichern grosser Datenmengen und bei der Erinnerung an indizierte Daten. Sollen die menschlichen Staerken in einem solchen System nicht nur erhalten bleiben, sondern verstaerkt werden, muessen menschliche und maschinelle Performance in doppelter Hinsicht differenziert werden:

- System- und Nutzerbeitrag zur Gesamt-Performance sowie

- fachliche und dialogspezifische Performance.

Eine solche Unterscheidung taucht bislang weder in der KI- noch in der VR-Forschung auf, was nicht ohne Konsequenzen bleibt:

Technische Bemuehungen zur Nutzerfreundlichkeit sind im Schnittfeld von System und Dialog zu verorten. Schwierigkeiten entstehen dann, wenn in das System Leistungen verlagert werden, die als anwenderfreundliche Merkmale angesehen werden, sich tatsaechlich aber kontraproduktiv auswirken. Grund: "Dialogperformanz" ist eine genuin menschliche Eigenschaft, die sich auf alle Sinne bezieht und mehrere Kommunikationsebenen (zum Beispiel Kontextwissen) umfasst. Sie muesste komplett formalisiert und implementiert werden, um tatsaechlich zu funktionieren. Genau dies ist empirischen Untersuchungen zufolge aber zweifelhaft:

- Natuerlichsprachliche Zugaenge zu Datenbanken haben sich nicht bewaehrt, weil sie die fachlichen Grenzen des Systems verwischen, statt Aufschluss ueber sie zu geben.

VR-Entwicklung als Organisationsprozess

Ebenso wirkt sich die mangelnde Differenzierung nach Nutzerkompetenzen bei einer einheitlichen Entwicklungsmethode von DV-Systemen aeusserst hinderlich aus:

- Fachwissen (Inhalt/Nutzer): Laien bereiten Informationen anders auf als Experten (weniger abstraktes Denken, Beschreibung von Prozessen statt Entwicklung hierarchisch abgestufter Themenorganisationen). Der Bau von Expertensystemen gestaltet sich fuer fortgeschrittene Benutzer einfacher, und sie kommen zu besseren Ergebnissen. An ihnen orientiert sich auch die Entwicklungsmethodologie, weshalb Systeme, die von Einsteigern genutzt werden, schnell an die gemeinsame Leistungsgrenze stossen.

- Kompetenzen/Computerwissen (Dialog/Nutzer): Computerneulinge gewinnen mit grafischen Elementen (Menues, Icons) schneller ein Verstaendnis fuer das System als mit rein sprachlichen Praesentationen, waehrend Fortgeschrittene sehr schnell und sicher mit Texten umgehen koennen. Der Einstieg in eine Programmumgebung und die sichere Beherrschung der Software sind aber unterschiedliche Dinge: Auch bei inzwischen zu Standardsoftware avancierten grafikbasierten CAD-Programmen sind die Einarbeitungszeiten noch immer recht lang.

Die Beispiele machen deutlich, dass sich die Leistung eines Gesamtsystems nicht additiv aus den Teilfaehigkeiten der Systembestandteile zusammensetzt. Vielmehr geht es bei der Gestaltung von tatsaechlichen Expertensystemen um das intelligente Zusammenfuegen der Komponenten. Diese Ueberlegungen fuehren zu einem organisatorisch erweiterten Entwicklungsmodell.

Die nutzerfreundliche Gestaltung von VR-Anwendungen erfordert eine systemische Betrachtungsweise. Vor diesem Hintergrund koennen aus den zusammengefassten Defiziten bisheriger Ansaetze allgemeine Entwicklungsanforderungen abgeleitet werden, die projektspezifisch zu konkretisieren sind:

- Gaengige Gestaltungsmaximen orientieren sich faelschlicherweise an einem idealen Nutzer, der Wissen ueber die Domaene, ueber die Repraesentation dieses Wissens im Computer sowie technische Anwendungskompetenzen mitbringt.

- Eine praktisch relevante Zielgruppenbestimmung hat am tatsaechlichen Vorwissen der kuenftigen Benutzer anzusetzen. Dieses ist nach inhaltlich-fachlichen, nutzungstechnischen und sozialen beziehungsweise kommunikativen Kompetenzen zu differenzieren.

- Eine auf den Normalanwender zielende Systemgestaltung orientiert sich nicht an technischen Moeglichkeiten, sondern am organisatorischen Umfeld: Gemaess dem am Massachusetts Institute of Technology (MIT) vertretenen Prinzip des "put that there" lassen sich zwei nicht perfekte Kommunikationskanaele, naemlich Sprache und Gesten, konstruktiv miteinander kombinieren.

Das Realisieren solchermassen "gemischter" Systeme erfordert eine eingehende Analyse des betrieblichen Hintergrunds, die bei der Zielgruppenbestimmung ansetzt - also beim Nutzer. Hier wird der Erfolg von VR-Entwicklungen massgeblich von einem fruehen Einbeziehen der kuenftigen Anwender abhaengen (Stichwort Partizipation) - aber das waere bereits wieder ein eigenes Thema.

Ein Literaturverzeichnis kann bei der Redaktionsassistentin (Telefon 0 89/3 60 86-175, Fax: 0 89/3 60 86-1 09) angefordert werden.