Gastkommentar

Eine Software-Inventur kann die Altlasten leichter machen

06.01.1995

Im November letzten Jahres fanden die Abonnenten der COMPUTERWOCHE ein gewichtiges Sonderheft aus Anlass der tausendsten Ausgabe in den Briefkaesten: Zwanzig Jahre CW, ueber zwanzig Jahre kommerzielle Datenverarbeitung in Deutschland - man ist sich dessen haeufig nicht bewusst, aber unsere Branche ist in die Jahre gekommen.

Und wie im richtigen Leben war auch das Wachstum der DV nicht immer einfach und unproblematisch. Jugendsuenden, Irrtuemer und Sackgassen, zum Teil auch schon eine ausgewachsene Midlife-Crisis, all das steckt nur zu oft noch verborgen in der Informatik der Unternehmen.

Solange alles gutgeht und die Anwendungen laufen, denkt man nicht gerne an diese Altlasten und die damit verbundenen Risiken. Aber wehe, es gibt massive Anforderungen, die tief in die Struktur der Software eingreifen. So brachte zum Beispiel die Wiedervereinigung das Aus fuer so manche Applikation.

Aber auch ohne solche spektakulaeren Ereignisse gibt es genug Anlaesse, sich konstruktiv mit den Altlasten auseinanderzusetzen. Denn trotz aller Probleme und Risiken stellen sie ein wesentliches Kapital jedes Unternehmens dar. Dies gilt weniger unter finanziellen Aspekten, obwohl die Investitionen fuer Entwicklung und Pflege einer Anwendung sich ueber die Jahre leicht zu zweistelligen Millionenbetraegen addieren koennen. Aber viel wichtiger ist das in den Anwendungen enthaltene Know-how ueber betriebliche Ablaeufe, Geschaeftsregeln und Vorschriften, das in dieser Dichte und Aktualitaet sonst in der Regel nirgendwo vorzufinden sein wird.

Dieses Kapital fuer das Unternehmen zu erhalten und weiter nutzbar zu machen, auch wenn die Anwendung im engeren, technischen Sinn des Wortes das Ende ihres Lebenszyklus erreicht hat, ist eine wesentliche Voraussetzung fuer den Erfolg vieler Massnahmen zur Erneuerung und Optimierung der betrieblichen IV. So ist zum Beispiel bei der Vorbereitung eines Outsourcing-Vorhabens zwangslaeufig zu klaeren, ob bestimmte Anwendungssysteme fuer eine solche Auslagerung in Frage kommen.

Dies wird immer dann zweifelhaft sein, wenn die betreffende Anwendung technisch kaum beherrscht werden kann, aber fuer die Geschaeftsablaeufe des Unternehmens eine elementare Vitalfunktion darstellt. Auch neue IV-Vorhaben bis hin zur Einfuehrung von Client-Server-Architekturen kommen nicht ohne Schnittstellen zu und von den Altsystemen aus und muessen sich an den fachlichen Leistungsmerkmalen der bestehenden Loesungen messen lassen.

Nur wenn wirklich Klarheit ueber den Stellenwert einer Anwendung fuer die Leistung des Unternehmens, ueber die damit verbundenen Risiken und den Nutzen herrscht, ist man in der Lage, eine fundierte Entscheidung ueber das weitere Vorgehen zu treffen. Es liegt nahe, vor Entscheidungen ueber ein Outsourcing oder ein Neudesign als ersten Schritt eine Inventur der bestehenden Softwarelandschaft durchzufuehren.

Bewaehrt hat es sich dazu, zunaechst das Unternehmen modellhaft in Form einer Wertschoepfungskette darzustellen, ueber deren einzelne Glieder die jeweils unterstuetzenden IV-Anwendungen identifiziert werden.

Allein dieser - auf den ersten Blick trivial erscheinende - Beginn erfordert in vielen Unternehmen bereits eine grosse Kraftanstrengung, fuehrt aber ebensooft zu einem ganz neuen Verstaendnis fuer die Struktur und die Zusammenhaenge der bestehenden Altanwendungen.

In einer zweiten Phase wird nun gemeinsam mit den jeweiligen Anwendern der Stellenwert der Anwendung ermittelt. Dies beinhaltet Fragen nach der Haeufigkeit der Nutzung, nach erkannten Schwachstellen oder zusaetzlichen Anforderungen und Wuenschen ebenso wie nach den Wettbewerbsvorteilen, die mit dieser Anwendung realisiert werden oder nach den Konsequenzen, die ein Wegfall der Anwendungen haben wuerde.

Der dritte Schritt schliesslich beurteilt die Technologie der Anwendung. Hier stellen sich Fragen nach ihrer Beherrschbarkeit jetzt und in der Zukunft, nach ihren erkannten beziehungsweise absehbaren Grenzen und nach den moeglichen Alternativen.

Auf der Grundlage dieser Daten kann dann abgeschaetzt werden, welche Vorteile - bezueglich der Kosten, aber auch der Produktivitaet und Wettbewerbsfaehigkeit - durch eine Anwendung respektive deren Neu- oder Weiterentwicklung realisiert werden koennen.

Eine solche Software-Inventur ist keine einfache, schnell zu erledigende Sache. Je nach Groesse des Unternehmens handelt es sich um ein Projekt, das zwischen sechs Monaten und zwei Jahren dauern kann. Um so wichtiger ist es, vorausschauend zu agieren, bevor ein akuter Handlungsdruck entsteht. Nur so koennen die Altlasten sukzessiv und effektiv in moderne, an den Unternehmenszielen orientierte Anwendungssysteme ueberfuehrt werden, ohne dass neue Sackgassen mit neuen Problemen entstehen.