Expertensystem bei den Vereinigten Glaswerken, Aachen

Ein intelligentes Rüstzeug für den Einsatz im Vertriebsbereich

17.07.1992

Ein Blick in die Datenbank am Lehrstuhl Wirtschaftsinformatik der Universität Erlangen-Nürnberg zeigt, daß gegenwärtig vertriebsnah in der Industrie knapp 200 Expertensystemprojekte geführt werden. Nur die Fertigung ist dort häufiger als Funktionsbereich für den Einsatz wissensbasierter Anwendungen genannt. Bei den sogenannten "running systems", also den operativ im Einsatz befindlichen Expertensystemen, stehen jedoch wissensbasierte Anwendungen für den Vertrieb an erster Stelle.

Im Bereich der Finanzdienstleistung überwiegen in der Versicherungsbranche erwartungsgemäß wissensbasierte Systeme für Verkaufsberatung, gefolgt von Anwendungen für die Risikobeurteilung (Underwriting). Bei Banken steht wissensbasierte Finanzierungs- und Anlageberatung im Vordergrund. Die Unterstützung des Kreditgeschäfts folgt an zweiter Stelle.

Glas ist nicht nur ein transparentes Material

Hier soll eine industrielle Expertensystemlösung für den Vertrieb, wie sie Siemens Nixdorf bei dem Flachglashersteller Vereinigte Glaswerke GmbH in Aachen realisiert hat, vorgestellt werden. Das Unternehmen hat sich nach eigenen Angaben für eine wissensbasierte Lösung entschieden, weil die umfangreiche Produktpalette an funktionellen und dekorativen Glasprodukten im Hochbaumarkt und ihre ständige Innovation und Anpassung im Hinblick auf Baunormen und -trends nur noch für den "Glasprofi" überschaubar ist.

Die zahlreichen Eigenschaften dieses Werkstoffs, der im wesentlichen aus Quarzsand und Pottasche besteht, haben ihm eine Vielzahl neuer Anwendungsfelder erschlossen. Im Bausektor geht es dabei nicht nur um ästhetische Aspekte oder die natürliche Transparenz dieses Werkstoffes. Glas besitzt noch viele weitere Funktionen. Das fängt beim Sonnenschutz an. Mit entsprechendem Funktionsglas kann die geforderte Lichtdurchlässigkeit beziehungsweise der Reflexionsgrad erreicht werden, ebenso der Energiedurchlaß in beide Richtungen. Schall- und Hochfrequenzschutz sind weitere Funktionen von Glas. Im Brand- und Explosionsfall helfen Verglasungen, den Schaden möglichst gering zu halten. Je nach Widerstandsklasse schützen sie auch gegen Durchwurf, Durchbruch und Durchschuß.

Zu jeder Funktion gibt es Hunderte von Basisprodukten. In aller Regel jedoch müssen mehrere oder gar alle Funktionen gleichzeitig abgedeckt werden. In diesem Fall werden Basisgläser zu Spezialprodukten weiterverarbeitet. Es entstehen Ein- oder Mehrscheiben-Sicherheitsgläser. In einer weiteren Kombination mit Basisglas erhält man sogenannte Isoliergläser.

Glas selbst kann aus mehr als einem Dutzend verschiedener Substrate in unterschiedlicher Dicke produziert werden. Eine Auswahl unter 60 Beschichtungen und einem Dutzend Folien, die jeweils innen oder außen auf das Glas appliziert werden können, steht zur Verfügung.

Millionen von Kombinationen

Der Scheibenzwischenraum kann in bestimmten Grenzen flexibel ausgelegt und mit verschiedenen Gasen (Argon, Krypton, und anderem) gefüllt werden. Es ergeben sich Kombinationsmöglichkeiten, die in die Millionen gehen.

Aus technischen und wirtschaftlichen Überlegungen heraus sind jedoch nicht alle Kombinationen sinnvoll. Bestimmte Gläser können aufgrund ihrer Leistungsdaten nicht miteinander kombiniert werden. Andere sind auf den zur Verfügung stehenden Anlagen nicht produzierbar. Dann spielen auch kaufmännische Argumente eine Rolle. Wenn Alternativen zur Verfügung stehen, sollten besonders selten nachgefragte Gläser nicht empfohlen werden. Restriktiv wirken sich weiterhin baurechtliche Vorschriften und Normen aus, die zudem regional unterschiedlich ausgeprägt sein können.

Der Vertrieb von Baugläsern erfolgt direkt über regionale Verkaufsbüros und zum Unternehmen gehörende Handelsgesellschaften oder über freie Großhändler. Als Kaufinteressenten treten Bauherren oder Architekten auf. Häufig wenden Sie sich bereits im Stadium der Objektplanung an den Glasanbieter, um Fragen der Machbarkeit, der Kosten etc. zu klären. So können bereits im Vorfeld einer Ausschreibung Wettbewerbsvorteile erzielt werden.

Im normalen Beratungsfall mag ein Standardangebot aus den Handbüchern noch genügen. Bei größeren Objekten jedoch müssen die Anforderungen einer genaueren Analyse unterzogen und gegebenenfalls konkurrierende Ziele bewertet und priorisiert werden. Der variable Scheibenaufbau der heute verfügbaren Mehrfunktionsgläser ermöglicht nahezu beliebige Konstruktionen, um den verschiedensten Bauherrenanforderungen gerecht zu werden. Häufig ist dafür eine Rücksprache mit Spezialisten in der Zentrale erforderlich. In jedem Fall geht wertvolle Zeit verloren.

Die Anwendung des Vertriebs-Expertensystems setzt Kenntnisse des Fachgebiets voraus, ohne die eine Erfassung der Kundenanforderungen nicht möglich ist. Sämtliche Angaben werden bereits zu diesem Zeitpunkt auf Plausibilität und Konsistenz geprüft. Die Eingabewerte beziehen sich dabei auf allgemeine Angaben zur Scheibe (zum Beispiel Abmessungen) und auf Funktionsparameter. Diese sind in der Regel Defaultmäßig gesetzt oder können ohne Eintrag übersprungen werden. In einem solchen Fall ermittelt das Expertensystem geeignete Werte.

Die in der Wissensbank implementierten Erfahrungsregeln erlauben nun die Auswahl des in Frage kommenden Standardproduktes. Wenn dessen Eigenschaften jedoch zu stark von den Kundenanforderungen abweichen, werden erfolgversprechende Variationen generiert. Da selbst geringfügige Modifikationen an einzelnen Gläsern die Eigenschaften der Gesamtscheibenkonstruktion beeinflussen, müssen die Spektralwerte neu berechnet werden. Sind die Ergebnisse im Sinne des Kundenwunsches nicht zufriedenstellend, werden weitere Variationen getestet. Dieser Prozeß erfordert keine Eingriffe des Vertriebsmitarbeiters und führt zu einem Verglasungsvorschlag, der Kundenanforderung und Restriktionen des Herstellungsprozesses optimal zur Deckung bringt.

Auf experimentelle Prototypen wurde verzichtet

Da bereits Erfahrungen aus Projekten mit vergleichbaren Aufgabenstellungen vorhanden waren, konnte auf experimentelle Prototypen verzichtet werden. Das Expertenwissen wurde zu einem konzeptionellen Wissensmodell auf hohem Abstraktionsniveau aggregiert und gab die Grundlage für alle weiteren Entwicklungsphasen ab. Das entwickelte Wissensmodell hilft einen strukturierten Aufbau der Wissensbasis zu realisieren und ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für Wartungsfreundlichkeit.

Die Entwicklung wurde mit Hilfe der Expertensystem-Shell Twaice und der logischen Programmiersprache Prolog auf Unix-Rechnern durchgeführt. Die Runtime-Systeme laufen heute unter MS-DOS auf Laptops beziehungsweise künftig auf Notebooks.

Die Realisierung wissensbasierter Computer Aided Selling-Systeme mit den Aufgabenstellungen Analyse oder Produktkonfiguration ist heute kein, außergewöhnlicher und riskanter Projekttyp. Die Problemklassen sind inhaltlich durchdrungen und gelten als beherrschbar. Machbarkeitsuntersuchungen, wie sie früher an der Tagesordnung waren, stellen heute eher eine Ausnahme dar.

Unabhängig davon ist die Einführung wissensbasierter Systeme, die bisher von der Datenverarbeitung unberührte Bereiche einer Automatisierung unterwerfen, immer ein Eingriff in Domänen, die bislang ausschließlich durch den Menschen kontrolliert wurden. Dieser Umstand erfordert eine sensible Einführungsstrategie.

Literatur: Mertens, Borkowski, Geis, Betriebliche Expertensystem-Anwendungen, Springer-Verlag, Berlin, (Veröffentlichung der 3. Auflage geplant Ende 1992)

*Harald Damskis ist bei Siemens Nixdorf Informationssysteme AG, München tätig.

CAS: Computer Aided Selling

Die Mehrzahl der Vertriebsführungskräfte will mehr und bessere DV-Technologie in ihre Verkaufsorganisation integrieren. Dieses Ergebnis einer Umfrage, die im vergangenen Jahr von der Deutschen Verkaufsleiterschule in München bei 800 Vertriebsleitern durchgeführt wurde, belegt, welchen Stellenwert Computer Aided Selling (CAS) mittlerweile gewonnen hat.

Expertensysteme erscheinen als das Mittel der Wahl, wenn es um Wettbewerbsvorteile im Vertrieb variantenreicher und beratungsintensiver Produkte geht. Den wissensbasierten Systemen kommt dabei die Aufgabe zu, konventionelle Lösungen qualitativ zu ergänzen, indem sie Aufgabenbereiche abdecken, die sich bisher einer Automatisierung verschlossen haben: komplexe Problemstellungen mit schwer formalisierbaren Lösungsverfahren, häufig auf der Grundlage vager und unsicherer Informationen.