Gründung von Auslandsniederlassungen als Flucht nach vorne

Druck auf kleinere und mittlere Software-Anbieter wird zunehmen

25.12.1992

Kleinere und mittlere Anbieter von Software und Serviceleistungen werden, wie Heike Munzert* erklärte, im europäischen Binnenmarkt mit verschärfter Konkurrenz zu kämpfen haben. Ein chancenreicher, bei knapper Kapitaldecke aber sehr riskanter Weg ist die Gründung von Auslandsniederlassungen, um große Produktionsbetriebe vor Ort beraten und betreuen zu können.

"Von der Vollendung des EG-Binnenmarktes und des Europäischen Wirtschaftsraumes gehen ab 1. Januar 1993 entscheidende Impulse für die Nachfrage nach neuen Softwareprodukten und IT-Dienstleistungen aus", so Wolfram Berger aus dem Bundesministerium für Wirtschaft in Bonn. Die Software sei einer der wenigen IT-Bereiche, in dem fernöstlich Anbieter noch keine dominierende Rolle spielen. "Europäische Unternehmen haben eine Chance", so Berger weiter, "ihre Position auf diesem Gebiet zu behaupten und auszubauen."

Neue Spielregeln für die Software-Anbieter

Tatsächlich blicken die meisten deutschen Softwarehäuser hoffnungsfroh auf das von ökonomischen Barrieren befreite Europa. Das Marktforschungsinstitut IDC beziffert den europäischen Gesamtmarkt für Software und Services auf rund 60 Milliarden Dollar. Derzeit verfügen bundesdeutsche System- und Softwarehäuser über einen Anteil am hiesigen Software- und Servicemarkt von zirka 65 Prozent und sind zu 21 Prozent bereits am europäischen Markt beteiligt.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob der oft als Meilenstein apostrophierte Beginn des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes für die Softwarebranche umwälzende Veränderungen bringen wird. Nach Meinung von Rudolf Munde, Leiter Research für den Bereich Software und Service bei IDC Deutschland, wird sich wenig ändern. "Softwarehäuser haben in der Vergangenheit ihre Software international angeboten und werden es auch in Zukunft tun."

Die künftigen wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen, zum Beispiel die Schaffung von europaweit vergleichbaren Wettbewerbs- und Marktzugangsbedingungen, sind jedoch gerade für große Softwarehäuser von entscheidender Bedeutung.

So sind nach Kenntnis von Heinz Weller, Director International Programms bei Softlab München, zusätzliche Chancen durch neue Spielregeln des EG-Binnenmarktes für die Software-Industrie zu erwarten. "Spätestens ab 1. Juli 1993 sind alle Software- und Serviceleistungen der IT-Industrie über 200 000 Ecu, das entspricht zirka 400 000 DM, offiziell europaweit auszuschreiben." Das bedeutet, daß Ausschreibungen nach außen gegeben werden, von denen man vorher nichts erfahren hätte. Zwar steigt damit die Anzahl der Ausschreibungen, doch die Softwarehersteller müssen sich auch auf einen verstärkten Wettbewerb gefaßt machen; der Ausschreibungsaufwand wird noch umfangreicher und der Vertriebsaufwand wesentlich höher sein als bisher. "Es bieten sich bei europäischen Ausschreibungen zunehmend strategische Allianzen an, um vereint an große Aufträge der öffentlich-rechtlichen Auftraggeber heranzukommen", bekräftigt der Euro-Manager, gibt jedoch auch zu bedenken, daß das Sprachproblem und die nationalen Beschaffungsnormen und Richtlinien nicht mit einem Schlag 1993 verschwinden würden. Ausschreibungsangebote seien daher nach wie vor sehr schwer miteinander vergleichbar.

Bisher werden überwiegend in Frankreich, in Holland und in England sogenannte Dienstleistungsverträge vereinbart. Die Beschaffungspraxis wird sich nun dahingehend verändern, daß Ausschreibungen nicht als Dienstleistungsvertrag, sondern als Werkvertrag abgewickelt werden. "Da zirka 80 Prozent unseres Geschäftes bereits auf Werksvertragsbasis abgeschlossen werden, ist das für uns eine Chance, die Nase vorn zu haben", hofft man bei Softlab.

Doch erst mit der Einführung der Euromethod 1994 wird der Beschaffungswettbewerb wirklich offen und wohl auch schärfer. Euromethod schreibt europaweit identische Beschaffungsmethoden vor, gleich welche nationale Methode ein Anbieter verwendet. Damit sollen Ausschreibung, Angebotserstellung, Bewertung der Angebote sowie Vorgehensmodelle - unabhängig von der jeweiligen Sprache - vereinheitlicht werden. Alle öffentlich-rechtlichen Auftraggeber werden nach der Euromethod ausschreiben müssen, betroffen sind davon alle Softwarehäuser, die auf die öffentlichen Ausschreibungen reagieren wollen. Die Pflicht der öffentlich-rechtlichen Anbieter, ab 1. Juli 1993 europaweit auszuschreiben, ist demgegenüber nur ein erster Pro-forma-Wettbewerb", beurteilt man bei Softlab die kommenden Entwicklungen. "Wir rechnen daher erst ab 1994 mit härteren Bandagen."

Bei den privaten Investitionen wird sich nach Ansicht von Heinz Weller dagegen mit der Öffnung des Binnenmarktes fahr die großen Software-Anbieter nichts ändern, denn die Vertriebsaktivitäten würden schon seit Jahren global abgewickelt. Die Erfinder von Euromethod hoffen allerdings, daß der Standard auch in der Industrie zur Anwendung kommt.

Ändern werden sich die Rahmenbedingungen künftig außerdem im Bereich Telekommunikation (gemeinsamer ordnungspolitischer Rahmen, Harmonisierung technischer Vorschriften, Angleichung der Tarifstrukturen und Nutzungsbedingungen) und bei den IT-Normen (zum Beispiel OSI, Fertigungstechnik, Programmiersprachen etc.)

Für die Kleinen wird's gefährlich

Zunehmend müssen kleine und mittlere Software-Unternehmen mit verstärkten Konzentrationstendenzen und damit wachsender Dominanz größerer Anbieter auf dem heimischen Markt rechnen. Aktuelle Trends wie Downsizing, Client-Server-Lösungen oder offene Systeme werden die Absatzplanung stärker beeinflussen. Ein Handicap für Investitionen im Ausland stellt nach Erkenntnissen von IDC die zu geringe Kapitalausstattung der mittelständischen Softwareschmieden dar: Es fehle damit an Mitteln

für die Produktentwicklung und -vermarktung, selbst wenn man sich auf Nischen spezialisiert hätte. Außerdem verfügten die meisten Unternehmen über zu wenig eigene Produkte und kaum langfristige Projekte.

Die stärksten Impulse für den mittelständischen Softwaremarkt werden von der zunehmend internationalen Ausrichtung der Anwenderunternehmen kommen. Das Management dieser Firmen muß alles daransetzen, durch Erweiterung und Anpassung der betrieblichen Informations- und Steuerungssysteme die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.

Verstärkt sucht die Automobilindustrie ihr Heil im Ausland, indem sie dort Tochtergesellschaften gründet.

Große Automobilhersteller lagern ihre Produktionsstätten zum Beispiel nach Spanien aus: Mercedes Benz läßt in Vitoria fertigen, General Motors in Saragossa, Ford in Valencia, Peugeot, in Madrid, VW/Seat in Barcelona und Pamplona. Zulieferer ziehen nach, um die Produktionskostenvorteile zu nutzen und die Lieferzeiten anzupassen.

"Professionalität bedeutet ständig präsent zu sein"

Kurt Rembold, Geschäftsführer des Breisacher DV-Beratungsunternehmens Rembold + Holzer GmbH, sieht in solchen Situationen Chancen auch für kleinere Software-Anbieter. "Die Kommunikationsprozesse der Tochtergesellschaften müssen auf die der Muttergesellschaften abgestimmt werden. Übergeordnetes Ziel ist es, in allen Ländern mit prinzipiell einheitlichen Daten- und Kommunikationsstrukturen zu arbeiten."

Nach der Öffnung der Wirtschaftsgrenzen wird der Handlungsbedarf noch zunehmen. "In den letzten Jahren haben wir bereits zunehmend internationale Aufgaben wahrgenommen. Professionalität bedeutet aber heute, mit Beratung und Service vor Ort ständig präsent zu sein."

Im französischen Granollers, 30 Kilometer von der spanischen Grenze entfernt, hat der Breisacher Anbieter daher seine erste Auslandsniederlassung, die Rembold y Holzer Consultores de Informatica S.L., gegründet.

Betreut werden unter anderem die Tochterfirmen des Kühlerherstellers Behr (Stuttgart), ferner die von Fichtel + Sachs (Schweinfurt) und TRW (Cleveland/Ohio).

Die Gründung von Auslandsniederlassungen für Vertrieb und Beratung vor Ort stellt für mittelständische Softwarehersteller einen erheblichen Kostenfaktor dar, ganz abgesehen vom Risiko der falschen Markteinschätzung und damit verbundener Fehlinvestitionen. Die Suche nach qualifiziertem Personal, das über spezifische Branchenkenntnisse verfügt und auch mit Sprache und ausländischer Mentalität vertraut ist, erweist sich in der Praxis als außerordentlich schwierig.

Gründungen für Mittelstand besonders schwierig

Die internationale Anpassung der Software an länderspezifische Anforderungen ist für mittelständische Softwareschmieden höchst aufwendig. So müssen zum Beispiel unterschiedliche Steuerarten, -sätze und -nummern berücksichtigt werden oder das Problem der unterschiedlichen Feldlänge bei Währungen. Auch die Aufwendungen für sprachenunabhängige Software sind beträchtlich. So liegen die Kosten für Übersetzung der Bildschirmformate, der Hilfetexte und Handbücher, Stichwortverzeichnisse und Nomenklatur bei zirka 100 000 Markt pro Sprache. Jeder spätere Releasewechsel bringt Änderungen und neue Aufwendungen. Die Schulung und Wartung der mehrsprachigen Programme muß auf eine neue internationale Basis gestellt werden.

Insgesamt bietet der europäische Binnenmarkt zahlreiche neue Betätigungsfelder und Marktchancen für Anbieter von Software und Services. Die mittelständische Software-Industrie muß jedoch finanzkräftig genug sein und darf hohe Investitionen nicht scheuen, will sie im internationalen Markt Fuß fassen und auf den schon fahrenden Zug aufspringen.