Buch von Yanis Varoufakis

"Digitale Feudalisten" lösen Kapitalisten ab

17.11.2023
Von 
Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.
Yanis Varoufakis ist wieder da: Der ehemalige griechische Finanzminister behauptet in seinem aktuellen Buch, der Kapitalismus sei am Ende, ”digitale Feudalisten“ hätten die Macht übernommen.
Yanis Varoufakis, der ehemaliger griechischer Finanzminister, schreibt in seinem neuen Buch, dass der Kapitalismus durch eine neue Form des "digitalen Feudalismus" abgelöst werde.
Yanis Varoufakis, der ehemaliger griechischer Finanzminister, schreibt in seinem neuen Buch, dass der Kapitalismus durch eine neue Form des "digitalen Feudalismus" abgelöst werde.
Foto: Alexandros Michailidis - shutterstock.com

Der linke Wirtschaftsprofessor und ehemalige griechische Finanzminister, der während der Eurokrise so manchen EU-Politiker an den Rand der Verzweiflung trieb, greift in seinem Buch Technofeudalism: What Killed Capitalism zu einem stilistischen Trick. Sein verstorbener Vater, Chemieingenieur in einem Stahlwerk, hatte Varoufakis 1993 mit dem Aufkommen des Internets die Frage gestellt: "Entsteht jetzt, wo die Computer miteinander sprechen, ein Netzwerk, das den Kapitalismus unumstürzbar macht? Oder wird sich nun seine Achillesferse offenbaren?"

Varoufakis, selbst ein studierter Wirtschaftsmathematiker, schreibt, er habe seitdem immer wieder über diese Frage nachgedacht. In seinem Buch antwortet er in Form einer ausführlichen Reflexion, die an seinen Vater gerichtet ist. Die Kernthese des Griechen lautet: Wir leben nicht mehr in einer kapitalistischen Gesellschaft, sondern in einer "technologisch fortgeschrittenen Form des Feudalismus". Zwar gebe es immer noch die traditionellen Kapitalisten, die ihre Mittel einsetzten, um andere Menschen zu zwingen, für sie Profite zu erwirtschaften, aber sie seien auf dem Rückzug.

"Vasallenkapitalisten" müssen den neuen Lehnsherren dienen

Im frühen 19. Jahrhundert seien die feudalen Beziehungen noch intakt gewesen, aber der Kapitalismus habe begonnen sich durchzusetzen. Heute gebe es ihn zwar immer noch, aber technisch-feudalistische Verhältnisse nagten an seinem Fundament. Viele traditionelle Kapitalisten seien inzwischen zu "Vasallenkapitalisten" degardiert worden. Sie hätten sich neuen "Herren" unterwerfen müssen, den Big-Tech-Unternehmen, die über ihre digitalen Plattformen unermesslichen Reichtum anhäuften. Es habe sich eine neue Form des "algorithmischen Kapitals" herausgebildet, Varoufakis spricht vom "Cloud-Kapital".

Dadurch seien die beiden "Säulen des Kapitalismus: Märkte und Profite" in den Hintergrund getreten. Laut Varoufakis wurden die Märkte "durch digitale Handelsplattformen ersetzt, die wie Märkte aussehen, aber keine sind". In dem Moment, in dem man sich bei Amazon.com einwähle, verlasse man die Welt des Kapitalismus und betrete etwas, das einem "feudalen Lehen" ähnele: einer digitalen Welt, die letztendlich einem Mann und seinem Algorithmus gehöre. Letztendlich bestimme Amazon-Chef Jeff Bezos, welche Produkte Besucher auf seiner Plattform zu sehen bekämen - und lasse sich dafür fürstlich entlohnen.

Amazon, Google und Apple diktieren die Regeln

Verkäufer auf Amazon seien fremdbestimmt, die Plattform entscheide, was diese verkaufen und welche Kunden Sie ansprechen könnten. Laut Varoufakis diktiert Bezos die Marktbedingungen, unter denen Marktteilnehmer interagieren, Informationen austauschen und Handel treiben. Die Menschen würden von einem "Algorithmus" beherrscht, der dem Zweck diene, für Bezos Gewinne zu erzielen.

Die Kapitalisten ordnen sich demnach den Big-Tech-Unternehmen unter, die ihnen im Gegenzug Zugang zu ihrem digitalen Grundbesitz gewährten. Hielten sich die Vasallenkapitalisten aber nicht an die Gesetze ihrer Lehnsherren, würden sie davongejagt. Das gelte nicht nur für Amazons Marktplatz, sondern auch für Apples AppStore oder Googles Suchindex. Diese Abhängigkeit hat laut Varoufakis katastrophale Folgen für die Geschäfte der Kapitalisten.

Den Zugang zum "digitalen Lehen" erkaufen sie sich dem Autor zufolge mit exorbitant hohen Mieten. Im Apple AppStore müssten beispielsweise App-Entwickler bis zu 30 Prozent ihrer Einnahmen abgeben. Amazon verlange von Marktplatzteilnehmern bis zu 35 Prozent der Einnahmen. Die Big-Tech-Unternehmen verhielten sich wie mittelalterliche Feudalherren, die große Teile der Erträge ihrer Leibeigenen eintrieben.

Laut Varoufakis, der Karl Marx offensichtlich genau studiert hat, erzielen die digitalen Lehnsherren Gewinne nicht mehr durch Produktion oder die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen. Sie erzielten Renditen, indem sie ihre Plattformmacht nutzten und die Kapitalisten abkassierten.

In seinem neuen Buch "Techno-Feudalism" beschreibt Yanis Varoufakis, wie Amazon, Google, Apple & Co. mit ihren Plattformen den Kapitalismus aus den Angeln heben.
In seinem neuen Buch "Techno-Feudalism" beschreibt Yanis Varoufakis, wie Amazon, Google, Apple & Co. mit ihren Plattformen den Kapitalismus aus den Angeln heben.
Foto: Penguin Random House

"Parasiten der kapitalistischen Produktion"

Die Big-Techs hätten den auf dem freien Markt üblichen Wettbewerb nicht zu fürchten, schreibt der ehemalige Finanzminister Griechenlands. Die Plattformbetreiber, als "Cloudalists" bezeichnet, vermehrten ihren Reichtum und ihre Macht mit jedem Klick in schwindelerregendem Tempo. Sie profitierten von einer neuen Art Mietsystem, das durch algorithmisch strukturierte digitale Plattformen möglich geworden sei. Sie seien "Parasiten der kapitalistischen Produktion" und hätten als solche die Kontrolle übernommen.

Varoufakis geht noch weiter, indem er feststellt, dass die Menschen zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt mit "unbezahlter Arbeit" zum Reichtum und zur Macht "der neuen herrschenden Klasse" beitrügen. Jedes Mal, wenn wir unsere mit der Cloud verbundenen Geräte benutzen - Smartphones, Laptops, Alexa, Google Assistant etc., helfen wir demnach den Big-Tech-Cloudalisten reicher zu werden. Wir trainieren ihre Algorithmen, die dann wieder uns trainieren, woraufhin wir sie wieder trainieren - in einer endlosen Rückkopplungsschleife, deren Ziel es sei, unsere Wünsche und unser Verhalten zu formen.

Anders als im Kapitalismus, in dem Kapitalisten Löhne an Arbeitnehmer zahlten, seien in dieser Interaktion alle Menschen "Hightech-Cloud-Leibeigene". Beispielsweise sei Amazon Alexa Teil eines digitalen Netzwerks, das durch die Eingaben von Millionen von Menschen "blitzschnell" lerne, uns zu trainieren. Es forme unsere Wünsche und Verhaltensweisen in einem Prozess der ständigen Verstärkung. Unsere Erfahrungen und unsere Realität würden zunehmend algorithmisch kuratiert.

Varoufakis fordert, Institutionen umzugestalten

Laut Varoufakis ist ein technofeudalistisches Zeitalter noch abzuwenden. Dazu müssten die Demokratien die "Techno-Dystopie" ablehnen und ihre Institutionen so gestalten, dass sie Freiheit und Demokratie verkörpern. Konkret schlägt er vor, das vermeintlich "kostenlosen Service-Modell" der Cloudalisten abzulehnen und durch ein universelles Mikro-Zahlungsmodell zu ersetzen. Zudem müsse es ein Gesetz über digitale Rechte und die Nutzung digitaler Technologie zur "Demokratisierung von Unternehmen" geben, wobei wichtige Entscheidungen von "Belegschaftsaktionären" gemeinsam getroffen werden müssten. (hv)

Anm. D. Red: Nachdem wir das Buch bei (Google!) gefunden haben, konnten wir es bei Amazon (!!) erwerben. Dass Yanis Varoufakis sein Buch auf einem Apple (!!!) Macintosh geschrieben hat, ist allerdings nur ein unbestätigtes Gerücht.