Die Wettbewerber der SAP AG haben eine Chance

24.03.1995

Der Hoehenflug von Deutschlands groesstem Anbieter kommerzieller Standardsoftware ist beeindruckend. Die veroeffentlichten Jahresergebnisse sowie die explodierenden Aktienkurse sprechen fuer sich. Bei einem kaufmaennisch so gesunden Unternehmen wie der SAP muss die Leistung stimmen, denken Anwender, und entscheiden sich erleichtert fuer deren Produkte - was zu einer erneuten Steigerung von Gewinnen und Aktienkursen fuehrt.

Ist der derzeitige Erfolg von SAP einem psychologischen Zirkel zu verdanken? Sicher nicht. Aber die ueberschwengliche Marktreaktion macht es schwieriger, zu beurteilen, welche Qualitaeten die gebotenen Produkte tatsaechlich mitbringen und fuer welche Unternehmen die Software geeignet ist.

Im mittelstaendischen Markt hatte die SAP bisher kaum Erfolg. Dies soll mit R/3 anders werden. Aber ist diese Hoffnung begruendet? Sicher, die Software ist fuer Rechner verfuegbar, die im Mittelstand eingesetzt werden. Im Vordergrund stehen Unix-basierte Systeme, der rasante Preisverfall macht sie erschwinglich. Doch ob die angebotenen Hardwareressourcen ausreichen, ist fraglich; die bisher erst spaerlich vorliegenden Anwendererfahrungen koennen Zweifel nicht ausraeumen.

Diese Frage ist um so schwerer zu beantworten, als R/3, gemessen an seinen betriebswirtschaftlichen Zielen, noch in der Entwicklung steckt. Wahrscheinlich muss man darauf spekulieren, dass bis zur kompletten Fertigstellung der Software auch entsprechende Hardwareressourcen verfuegbar sind.

Unklarer noch ist die Situation in bezug auf den Einfuehrungsaufwand. Wenn es stimmt, dass R/3 bewaehrte R/2-Konzepte im neuen Kleid moderner Technologien praesentiert, warum sollte sich dann der Implementierungsaufwand reduzieren? SAP selbst propagiert immer wieder, dass sich die Ansprueche des Mittelstands im Grunde nicht von denen der Grossindustrie unterscheiden. Dann kann auch der Leistungsumfang von R/3 nicht abgespeckt sein. Ueber neue Konzepte aber, die eine Einfuehrung auf diesem Level deutlich erleichtern, war bisher wenig zu hoeren.

So ist es eigentlich nicht erstaunlich, dass SAP nach wie vor ueberwiegend in der Grossindustrie Erfolge zu feiern hat. Alle Versuche, im Mittelstand Fuss zu fassen, verliefen aus Sicht des Unternehmens unbefriedigend. Dies wird von SAP nicht bestritten. Dort unternimmt man gerade den dritten Anlauf, mit einem neuen Konzept die mittelstaendische Zielgruppe von der R/3-Software zu ueberzeugen. Dass man sich dabei nicht scheut, gestern noch verpoente Wege zu beschreiten, spricht fuer die trotz aller Groesse bewahrte Flexibilitaet von SAP, auf Fehlentwicklungen zu reagieren.

SAP wird den Vertrieb ueber Systemhaeuser organisieren, die sich jeweils einzelner Branchen annehmen. R/3 ist dabei die Basis, auf der vertikale Loesungen entwickelt werden. Die Software selbst wird vom Vertriebspartner konfiguriert beziehungsweise modifiziert. Die Verantwortung fuer das komplette System einschliesslich R/3-Kernel liegt beim Systemhaus.

Auf drei Dinge sollte man achten:

1. Es ist offensichtlich notwendig, R/3 vorzukonfigurieren, um den Einsatz im Mittelstand wirtschaftlich zu machen. Mit anderen Worten, ohne eine Vorbehandlung waere die Software zu komplex, der Einfuehrungsaufwand kaum zumutbar.

2. Das Systemhaus greift in die R/3-Software ein und traegt fuer das Produkt Verantwortung. Nicht mehr das Walldorfer Entwicklungszentrum setzt den Qualitaetsmassstab fuer die gelieferten Produkte, sondern das Systemhaus.

3. Schliesslich bleibt abzuwarten, wie bei einem solchen Szenario die Wartung beherrscht werden kann.

Haben Wettbewerber vor dem Hintergrund dieser Entwicklung noch eine Chance, im Mittelstand anerkannt zu werden? Ich meine ja. Softwarehaeuser, die in diesem Marktsegment gross geworden sind, wissen, dass Qualitaet nicht nur an der Bereitstellung aller Feinheiten der betriebswirtschaftlichen Methodik festgemacht wird. Die Software muss mit den abgespeckten, schlanker werdenden Strukturen der Betriebe harmonieren.

Auf kurze Einfuehrungszeiten, schnelle Ergebnisse und einen unaufwendigen Betrieb kommt es an. Die Bemuehungen von SAP um den Mittelstand zeigen, dass der Lernprozess noch nicht abgeschlossen ist. Der Wettbewerb hat hier eine gute Chance.

Der durch die breite Diskussion um die R/3-Familie aufgewirbelte Staub vernebelt derzeit die Buehne, auf der sich das Produkt praesentieren muss. Wie bei vielen "epochalen" Entwicklungen kann man davon ausgehen, dass die Euphorie mit der zunehmenden praktischen Erprobung zurueckgehen wird. Dann lichtet sich der Nebel und gibt den Blick auf den Wettbewerb frei - zum Wohle des Anwenders!