Der Schock kam in Russland

20.12.2001
Von 
Ingrid Weidner arbeitet als freie Journalistin in München.
Noreena Hertz passt in keine Schublade oder in viele gleichzeitig. Die 34-jährige Cambridge-Dozentin für Economics erklärte den Zuhörern Ende November im Siemens-Forum in München das ungleiche Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik.

Im selben locker akademischen Tonfall beschrieb sie den Zuhörern, was die essenziellen Accessoires einer polizei- und tränengaserprobten Demonstrantin sind. Aber wie passen MBA, Angestellte der Weltbank, Dozentin in Cambridge und erklärte Globalisierungsgegnerin zu einer jungen und gutaussehenden Engländerin der Mittelschicht?

„Ich habe eine traditionelle ökonomische Ausbildung, und nach meinem Studium in London und dem MBA in den USA begann ich für die Weltbank zu arbeiten. Damals glaubte ich an den freien Markt und hinterfragte ihn nicht,“ schildert Hertz offen die eigene Naivität. Allerdings änderte sich mit dem neuen Job ihre unbekümmerte Einstellung. Im Auftrag der Weltbank ging sie 1992 nach Russland, wo sie staatliche Unternehmen bei der Privatisierung beraten und beim Aufbau der Börse in Petersburg helfen sollte.

„Weil ich dort durch das Land reiste und viel Zeit in den Fabriken verbrachte, erkannte ich, dass es riesige Einheiten sind, die für ihre Mitarbeiter Schulen, ein Gesundheitssystem und zahlreiche weitere Dienstleistungen eines Wohlfahrtsstaates zur Verfügung stellten.“ Nur: Was passiert, wenn die Fabriken in Zukunft nur noch nach den Gesetzen des freies Marktes funktionieren sollen, der keine Rücksichten auf Schwächere nimmt? „Solche Fragen wollte ich in Washington klären, doch man machte mir klar, dass es nicht darum geht“, so Hertz rückblickend über die Gespräche mit ihrem Auftraggeber.

Nach acht Monaten gab sie ihren Job bei der Weltbank auf und ging nach Cambridge, um dort über die wirtschaftliche Entwicklung in Russland zu promovieren. In ihrer Doktorarbeit ging es um die Situation und die Folgen, die die Gesetze des freien Marktes auf das ehemals kommunistische Wirtschaftssystem haben und hatten. Mit den Eindrücken aus dem postkommunistischen Staat und den Folgen für die dortige Gesellschaft rückte für die junge Akademikerin der Konflikt zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in den Blickpunkt. Für ein akademisches Publikum geschrieben, fand die Arbeit dort auch großes Interesse.

Mit ihrem neuen, populärwissenschaftlich geschriebenen Werk „Wir lassen uns nicht kaufen“ möchte sie ein breiteres Publikum erreichen. Hertz analysiert die Macht und Gefahren einer unkontrollierten Weltwirtschaft. Menschenrechte und humane Arbeitsbedingungen spielen in den globalen Märkten kaum eine Rolle, für Politik interessieren sich nur noch wenige.

Shopping als neuer Lebensinhalt?

„In Großbritannien haben mehr Leute über die Teilnehmer der `Big-Brother-Show`abgestimmt, als an den letzten Wahlen teilnahmen“, erklärt die Dozentin. Die Nachteile und Probleme der Globalisierung kommen zwar direkt via Satelitenfernsehen in die Wohnzimmer, doch ob die Welt darum gerechter wird, ist die Frage. Allerdings macht sich die Wirtschaftswissenschaftlerin keine falschen Illusionen über den humanen Auftrag von Managern. „Sie sind den Aktionären gegenüber verpflichtet.“ Doch trotzdem könnten sie Verbesserungen erreichen.

In ihrem Buch vertritt sie ein realistisches Vier-Punkte-Programm; dazu gehört beispielsweise die Forderung nach einheitlichen Sicherheits- und Gesundheitsstandards von multilateralen Konzernen. Wie stehen die Chancen für eine bessere Welt? „Ich bin optimistisch. Allerdings muss man mit beiden Beinen auf dem Boden stehen um, nach den Sternen zu greifen.“

Noreena Hertz: Wir lassen uns nicht kaufen! Keine Kapitulation vor der Macht der Wirtschaft. Econ Verlag, München 2001, 303 Seiten, 20 Euro, ISBN 3-430-14331-4.