Regeln für das Überleben biologischer Art

Computer als Gleichnis für das egoistische Gen

14.10.1977

Selbst so hochkomplexe Wissensgebiete wie die Verhaltenspsychologie nehmen heute als "Eselsbrücke" die Computerei zu Hilfe: Der logisch konsequente Aufbau der EDV-Maschinenwelt dient als Schlüssel zum Verständnis der "Naturwissenschaft".

Durch ein glückliches Zusammentreffen organischer Moleküle in den Urmeeren unseres Planeten muß einst der erste Replikator entstanden sein. Bald wurden es mehr. Diese Replikatoren waren Moleküle, die sich von allen anderen darin unterschieden, daß sie aus der sie ümgebenden Suppe organische Bausteine herausfischten und sich damit identisch vervielfältigten; chemische Partikel, die die Fähigkeit hatten, andere nach ihrem Ebenbild zu formen. Sie waren die Vorläufer unserer Erbfaktoren oder Gene, die das gleiche noch heute tun.

Wenn sie alle die gleichen Bausteine aus der Ursuppe brauchten, um sich zu vervielfältigen, so mußte das Baumaterial schließlich knapp werden. Wenn nun in einer Welt des Bausteinmangels ein neuer Replikator auftrat, der einen Stoff bildete, mit dem er andere Replikatoren in ihre Bestandteile zerlegte, dann konnte der sich reichlich Baumaterial beschaffen und sich weit schneller vermehren als andere. Diese räuberische Eigenschaft verbreitete sich deshalb rasch, und durch weitere Kopierfehler entstanden verschiedene Sorten räuberischer Replikatoren. Neue Replikatoren mit neuen Angriffs- und Verteidigungswaffen traten auf und vermehrten sich auf Kosten der übrigen. Derjenige mit der leistungsfähigsten Kriegsmaschine setzte sich durch.

So mögen schließlich Körper mit Fortbewegungs-, Sinnesorganen, Nervensystemen usw. entstanden sein. Sie waren die Kampfmaschinen, die die Replikatoren oder Gene im Konkurrenzkampf gegeneinander einsetzten.

Aber wie können Gene Maschinen bauen und kontrollieren, die lernen können, die Information durch Tradition übernehmen, die sich Kulturwesen nennen und die das Gefühl haben, frei zu entscheiden? Hier hilft vielleicht ein Gleichnis: Stellen wir uns vor, die Gene seien der Konstrukteur und Programmierer eines Computers, und der Computer sei der individuelle Organismus. Es sei der Ehrgeiz des Programmierers und Konstrukteurs, seinen Computer zum Meister im Schachspiel zu machen. Er kann ihm zwar die Regeln des Spiels einprogrammieren, aber es gibt viel zivile mögliche Stellungen im Schachspiel, als daß er ihm für jede Situation die beste Antwort vorschreiben könnte. Was macht der Programmierer, der nicht weiß, wie der Gegner seines Computers ziehen wird? Er wird ihm zusätzlich zu den Spielregeln vielleicht einige strategische Richtlinien einbauen und im übrigen wird er ihn auf Lernen programmieren. Das heißt, er wird ihm zum Beispiel den Befehl geben: Wenn du in einer bestimmten Situation eine Figur verlierst, dann meide künftig Züge, die zu dieser Situation führen.

Natürlich gehört noch viel mehr zu einem solchen Programm. Es sind aber inzwischen Programme entwickelt worden, die Computer befähigen, durch Erfahrung zu leidlich guten Schachspielern zu werden.

In ähnlicher Weise könnten Gene ihrer Überlebensmaschine einige Grundregeln einprogrammieren. Etwa: Wenn bestimmte Nervenenden in deiner Haut gereizt werden, so empfindest du Schmerz. Und eine programmierte Lernstrategie wäre zum Beispiel: Wenn du Schmerz empfindest, dann tu das, was du gleich zuvor getan hast, in der gleichen Situation nicht wieder.

So könnte ein Gen seine Überlebensmaschine programmieren, seiner Vermehrung zu dienen, ohne daß das Gen später noch aktiv mitwirken muß. Das Gen braucht keineswegs bewußt seine Vermehrung anzustreben. Hatte es das Glück, eine Überlebensmaschine bauen zu können, die erfolgreicher war als die anderen, so vermehrte es sich. Versagte hingegen seine Maschine im Konkurrenzkampf, so ging das Gen mit ihr unter.

Mit freundlicher Genehmigung der Süddeutschen Zeitung und des Autors Jürgen Lamprecht aus einer Übersetzung des Buches "The selfish gene" von Richard Dawkins.